Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

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Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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mor­gen ge­wusst. Ich hab’s ge­ro­chen.«

      »Frei­lich!« er­klär­te Mar­tha, »der On­kel hat den gan­zen Mor­gen über die Nase über den Sup­pentopf ge­hal­ten.«

      »Mar­tha«, er­mahn­te Herr Böhk sanft, »das ist nicht wahr. Du soll­test über dei­nen Pfle­ge­va­ter nicht sol­che Lü­gen ver­brei­ten.«

      Als ein je­der sei­ne Sup­pe hat­te, ward es still. Nur ein woh­li­ges Schlür­fen und das Auf­klap­pen der Löf­fel wa­ren ver­nehm­bar. Eine be­geis­ter­te Eß­lust be­seel­te die Tisch­ge­nos­sen. Die Mäd­chen, wenn sie den vol­len Löf­fel ho­ben, öff­ne­ten die brei­ten ro­ten Lip­pen ganz weit und zuck­ten mit den Wim­pern. Hans stütz­te sein Kinn auf den Tel­ler­rand und warf die Sup­pe mit dem Löf­fel schnell und gie­rig in den Mund. – Nun wa­ren die Tel­ler leer – so leer, dass kein Tröpf­chen zu­rück­ge­blie­ben war. Mar­tha hol­te die Fleisch­spei­se: ge­räu­cher­tes Schaff­leisch mit wei­ßen Boh­nen – und sie lä­chel­te fei­er­lich, als sie die Schüs­sel voll dun­kel­ro­ter Fleisch­stücke ins Zim­mer trug und mit bei­den Ar­men em­por­hob.

      »Für das Fräu­lein muss ge­bra­te­nes Rind­fleisch da sein«, ver­kün­de­te Frau Böhk. »Rauch­fleisch ist nichts für uns«, füg­te sie sanft hin­zu und strich Rosa mit der Hand über das Haar. »Wir müs­sen ver­nünf­tig sein.« Gre­the blick­te er­schro­cken und mit­lei­dig auf Rosa, als fürch­te­te sie, Rosa wür­de wei­nen.

      Eben­so an­däch­tig wie die Sup­pe ward auch das Fleisch ver­zehrt. Frau Böhk und die Mäd­chen zer­teil­ten mit lieb­ko­sen­der Lang­sam­keit das Fleisch und scho­ben es vor­sich­tig in den Mund. Un­ter den Her­ren je­doch ent­stand Lärm. »Mut­ter! Er nimmt mein Stück; ich hat­te es mir aus­ge­sucht!« klag­te Hans.

      »Was heißt aus­ge­sucht«, pro­tes­tier­te Herr Böhk ernst­lich böse; »was ei­ner hat, das hat er.«

      »Nein! Gera­de die­ses Stück woll­te ich ha­ben. Mut­ter, sag ihm, dass er’s mir gibt.«

      Herr Böhk lach­te ver­le­gen. Er fürch­te­te, vor Rosa lä­cher­lich zu er­schei­nen, und woll­te doch sein Stück nicht fah­ren­las­sen: »Nein, mein Sohn!« mein­te er, »jetzt ge­ra­de nicht. Der Er­zie­hung we­gen – weißt du. Es ist ja un­mo­ra­lisch.«

      »Und nur weil ich es woll­te, nimmt er’s!« wie­der­hol­te Hans. Är­ger­lich blick­te Frau Böhk von ih­rem Tel­ler auf: »Könnt ihr Jun­gen denn nicht Ruhe hal­ten? Böhk, du bist der äl­te­re, gib doch nach.«

      »Der äl­te­re! Na­tür­lich bin ich der äl­te­re!« Herr Böhk war tief ver­letzt: »Ich möch­te wis­sen, wo der da wär, wenn ich nicht der äl­te­re wäre! Sonst muss der Sohn den Va­ter eh­ren, aber hier – nein – da muss der Va­ter dem Sohn ge­hor­chen. Bit­te, lie­ber Hans, nimm das Stück; sei so gut und sage mir, bit­te, ob du spä­ter noch eins neh­men wirst, da­mit ich dir nicht dein Stück fort­neh­me. Oder soll ich viel­leicht gar nicht es­sen und war­ten, bis du fer­tig bist? Sag mir das, mein sü­ßer Hans.«

      »Gib mir das Stück.«

      »Nimm es! Es ist ein Skan­dal.«

      Frau Böhk hat­te sich längst wie­der ih­rer Por­ti­on zu­ge­wandt, sie woll­te sich von die­sen dum­men Ge­schich­ten nicht stö­ren las­sen.

      Die Mahl­zeit war end­lich be­en­det. Er­hitzt lehn­ten sich die Tisch­ge­nos­sen in ih­ren Stüh­len zu­rück. Die Mäd­chen zö­ger­ten noch mit dem Abräu­men und blie­ben sit­zen, die Arme auf den Tisch ge­stützt. Frau Böhk trank Bier und sprach da­bei zwi­schen je­dem Zuge aus dem Gla­se einen kur­z­en Satz: Ag­nes war alt ge­wor­den – nicht wahr? Sie – Frau Böhk – muss­te sich doch ge­wiss mehr pla­gen, aber sie war kräf­ti­ger. Im­mer auf dem Pos­ten sein, wie ein Sol­dat, das er­hält. Herr Böhk kne­te­te En­ten aus Brot, und Hans schau­te ihm ge­spannt zu. Eine be­hag­li­che Mat­tig­keit be­schwer­te sie alle, wie sie da sa­ßen un­ter den Spei­se­res­ten und Gerä­ten – im gel­ben Licht der Mit­tags­son­ne.

      »Nun, Mäd­chen, wer­det ihr nicht ans Abräu­men ge­hen?« mahn­te Frau Böhk. »Man wird wohl müs­sen«, er­wi­der­te Gre­the, streck­te ihre bei­den Arme em­por und reck­te sich.

      Rosa war die ers­te, die den Tisch ver­ließ. »Ja, ja«, sag­te die Heb­am­me. »Ge­hen Sie nur, schla­fen Sie ein we­nig, lie­bes Kind.«

      In ih­rem Zim­mer eil­te Rosa zu dem klei­nen Spie­gel, der über dem Wasch­tisch an der Wand hing. Sie ver­stand es selbst nicht, welch selt­sa­me Neu­gier­de sie an­trieb, an­hal­tend und auf­merk­sam ihr ei­ge­nes Ge­sicht zu be­trach­ten. Die­ses Ge­sicht mit den über­großen blau­en Au­gen er­schi­en ihr heu­te so ver­gäng­lich und über­fei­nert. Ja! Das war es, wo­nach sie sich sehn­te, et­was, bei dem sie sich von dem der­ben Le­bens­mut dort un­ten er­ho­len konn­te, der sie plötz­lich mit ei­nem Ge­fühl der Über­sät­ti­gung und des Wi­der­wil­lens be­drückt hat­te. Das schma­le, vor­neh­me Ge­sicht­chen aber, das ihr aus dem Spie­gel me­lan­cho­lisch und ge­heim­nis­voll ent­ge­gen­lä­chel­te, gab ihr wie­der ihre Mäd­chen­träu­me zu­rück, und als sie sich auf ihr Bett leg­te, ward sie von schö­nen, un­kla­ren Ge­dan­ken in Schlaf ge­wiegt.

      Der Abend war schon her­ein­ge­bro­chen, als Rosa er­wach­te. Mond­schein lag auf dem Fuß­bo­den. Der Ro­sen­stock auf dem Fens­ter­brett warf einen großen ge­zack­ten Schat­ten über den Vor­hang.

      Aus ei­nem tie­fen, traum­lo­sen Schlum­mer er­wa­chend, zö­ger­te Rosa noch, wie­der an das Le­ben an­zu­knüp­fen, und gab sich ganz dem sü­ßen Ge­fühl kör­per­li­cher Ruhe hin. Lang­sam nur kehr­te ihr das Be­wusst­sein ih­rer Lage zu­rück: Dort un­ten lag Ti­glau; die­ses war das klei­ne Ge­mach bei Böhks, ganz recht! Die Böhks hat­te sie im Wohn­zim­mer um den Mit­tags­tisch ver­sam­melt zu­rück­ge­las­sen. Bei all­dem war nichts Trau­ri­ges. Die gute Böhk, die hüb­schen Mäd­chen, Herr Böhk mit sei­ner Vio­li­ne. Und den­noch! Et­was Be­trü­ben­des muss­te es doch ge­ben, sie war ja doch un­glück­lich. Oh, da war es! Jetzt wuss­te sie es! Eine in­ne­re Un­ru­he trieb Rosa auf­zu­sprin­gen. Sie ging ans Fens­ter und schob die Vor­hän­ge zu­rück. Un­ten lag Ti­glau, hell be­schie­nen, und über die Dä­cher hin schau­te Rosa auf das Land hin­aus, das sich dort – ganz weit – in ein blei­ches, sanf­tes Flim­mern ver­lor. »Das ist schön«, sag­te sich Rosa. Sie fühl­te wohl die Frie­den­s­poe­sie die­ses stil­len Lan­des und woll­te sie ge­nie­ßen. Trotz Kum­mer und Harm war die schö­ne, ru­he­vol­le Welt doch da. Rosa stütz­te den Arm auf das Fens­ter­brett und schau­te hin­ab.

      Oft schon hat­te sie es ver­sucht, in ge­sam­mel­tem An­schau­en die Welt zu ge­nie­ßen. Da­heim, wenn der Mond­schein auf dem Dach des Pfarr­hau­ses lag und die Kas­ta­ni­en­wip­fel vol­ler Ster­ne hin­gen, hat­te sie einen Stuhl an das Fens­ter ge­rückt und sich zum Be­trach­ten nie­der­ge­setzt. Aber, weiß es Gott, lan­ge hat­te sie es nie aus­ge­hal­ten. Die Mond­nacht flö­ßte ihr Un­ru­he ein, Lust mit­zu­tun. Sie muss­te hin­aus, muss­te mit Sal­ly und Ma­ri­an­ne durch die Stra­ßen schrei­ten, an die Fens­ter­schei­ben des Fräu­lein Kat­ter po­chen, in den Häu­ser­ni­schen ki­chern.

      Rosa woll­te es kaum glau­ben, aber so war es auch heu­te, sie ver­moch­te nicht ru­hig da­zu­sit­zen, es trieb sie wie­der mit­zu­tun. »Hin­ab­ge­hen kann ich we­nigs­tens«, sag­te sie sich.

      In dem en­gen Mau­er­raum, der die Wen­del­trep­pe ent­hielt, be­fand sich ein run­des Fens­ter, durch das der Mond


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