Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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Kopf­schüt­teln in ih­rem Selbst­ge­sprä­che fort:

      »Ah, hier ist ihr Ehe­ge­mahl, ihr Mann und noch ein Mann; let my see – yes, P–ech–le! Das wird es sein, der wird sie brin­gen zu ih­rer Verzweif­lung, der Pich­le wird ver­führt ha­ben ih­ren Mann, und ich wer­de zu ihr ge­hen, da sie mich doch zu ihr ruft, wenn sie gleich weiß, dass ich ge­mie­tet habe mei­ne Zim­mer in Flo­renz und bin auf dem Wege nach Flo­renz – yes. Yes, ich wer­de se­hen, was ihr fehlt, ich wer­de ihr kom­men zur Hil­fe ge­gen den Pich­le, ich wer­de ihre Trä­nen ab­trock­nen. Oh yes, ich wer­de kehr­tum ma­chen und nicht nach Flo­renz ge­hen im­me­dia­te­ly, son­dern nach Stutt­gart, wel­ches ha­ben soll auch eine große Ähn­lich­keit mit Flo­renz, was mir lieb ist. That is a very stran­ge let­ter, ein merk­wür­dig son­der­ba­rer Brief, und ich bin ver­pflich­tet, mich mei­ner Freun­din hin­zu­ge­ben mit gan­zer See­le. Ich will Vir­gi­ny las­sen in Mün­chen hier und will wie­der­kom­men nach­her, ob­gleich es ist sehr un­kom­for­ta­bel, aber ich wer­de kurz sein mit Mr. Pich­le, und wer­de dem Baron in sein Ge­wis­sen hin­ein­re­den und wer­de Lucy trös­ten und schnell zu­rück­kom­men. Was sie will, weiß ich nicht, die deut­schen La­dies sind so sehr un­be­stimmt in ih­ren Brie­fen, aber ich wer­de es er­fah­ren, und ich wer­de ihr Hil­fe und Trös­tung brin­gen; denn ich füh­le mich dazu ge­wach­sen; ich füh­le mich ge­wach­sen auf der Erde je­der Er­schei­nung – »yes!«

      »No!« ent­geg­ne­te das Schick­sal, un­höf­lich und bru­tal im höchs­ten Gra­de, das heißt, die Lust und den Hu­mor der Sa­che un­ter der Mas­ke gren­zen­lo­ser Bru­ta­li­tät mit alt­be­kann­ter Meis­ter­haf­tig­keit ver­ber­gend. Schon seit ei­ni­gen Au­gen­bli­cken hat­ten sich im Lei­be der eher­nen Schutz­göt­tin des Bayer­lan­des al­ler­lei Töne ver­neh­men las­sen: jetzt pol­ter­te es in ih­rem Ma­gen, und et­was stieg ihr über das Zwerch­fell hin­aus. Im Haup­te schob Chri­sta­bel den Brief der Freun­din in die Ta­sche zu­rück, klemm­te das Au­gen­glas von neu­em auf die Nase und horch­te nach dem Hal­se hin­un­ter.

      Jetzt stöhn­te und schnauf­te es im Bu­sen der Rie­sin, jetzt zwäng­te es sich durch die Keh­le, es war kein Zwei­fel mehr, es stieg ihr wie­der et­was zu Kop­fe!

       »Eng ist die Welt und das Ge­hirn ist weit,

       Leicht bei­ein­an­der woh­nen die Ge­dan­ken,

       Doch hart im Rau­me sto­ßen sich die Sa­chen«,

      sagt Wal­len­stein, und wir über­las­sen, fast eben­so heim­tückisch und ver­gnügt wie das Schick­sal, es den Le­sern, den Auss­pruch des großen Feld­herrn, Staats­manns und Astro­lo­gen mit dem jetzt zu schil­dern­den Zu­sam­men­stoß in Ein­klang zu brin­gen. Mit Auf­bie­tung all ih­rer Lo­gik wird es ih­nen hof­fent­lich ge­lin­gen.

      Ein we­nig är­ger­lich über die Stö­rung lausch­te Miss Chri­sta­bel Ed­dish nach dem Sch­lun­de der Ba­va­ria hin­ab, und jetzt er­hob sich aus der Öff­nung, die in das gi­gan­ti­sche Haupt führt, lang­sam – lang­sam ein an­de­res Haupt!

      Ein hel­le sei­de­ne schot­ti­sche Rei­se­müt­ze auf ei­nem Wal­de bren­nend ro­ter Haa­re! Ein bren­nend ro­ter Ba­cken­bart! Ein gelb­lich Ge­sicht mit ei­nem lip­pen­lo­sen Mund, in wel­chem eine Rei­he sehr gel­ber Ober­zäh­ne trotz al­ler her­aus­for­dern­den na­tio­na­len Be­rech­ti­gung recht me­lan­cho­lisch zu­ta­ge trat! Ein lan­ger – lan­ger Hals, ein bun­tes Hals­tuch, und ein blen­dend wei­ßer Hemd­kra­gen:

      Sir Hugh Slid­de­ry, Ka­pi­tän im sie­ben­und­sie­ben­zigs­ten In­fan­te­rie­re­gi­ment Ih­rer Ma­je­stät Vik­to­ria, Kö­ni­gin von Groß­bri­tan­ni­en und Ir­land, und ein Mann, der frei­lich sei­nen bes­ten Freun­den und sei­ner in­nigs­ten Freun­din einen heil­lo­sen Schre­cken ein­ja­gen konn­te, auch wenn er ih­nen ge­ra­de nicht, wie au­gen­blick­lich der letz­tern, im Kop­fe der Ba­va­ria im Hal­se her­auf­stieg!

      Miss Chri­sta­bel mit der Ab­sicht, durch­aus kei­ne No­tiz von der sich em­por­win­den­den Stö­rung ih­rer stil­len Na­tur- und Le­bens­be­trach­tun­gen zu neh­men, sah einen Mo­ment flüch­tig hin und starr­te so­fort wie fest­ge­bannt durch das Ver­häng­nis. Und das Haupt in der Ra­chen­höh­le der Rie­sin starr­te auf Miss Chri­sta­bel aus glä­ser­nen Au­gen, und die sich nach­schie­ben­den Schul­tern zuck­ten im jä­he­s­ten Schreck. Miss Chri­sta­bel Ed­dish stieß einen gel­len­den Schrei aus, und fuhr zu­rück in den Hin­ter­kopf der Ba­va­ria, den Son­nen­schirm ge­gen das Fürch­ter­li­che schleu­dernd und mit weit vor­ge­streck­ten Hän­den das Ent­setz­li­che von sich ab­weh­rend. Und wei­ter konn­ten sich die Au­gen des Ka­pi­täns Sir Hugh Slid­de­ry nicht öff­nen. –

      »By Gad«, schrie er her­aus; »beg your par­don! bit­t’ um Ver­zei­hung!« zog den Kopf zu­rück und ver­schwand blitz­schnell, phä­no­men­ar­tig – hun­dert­fach schnel­ler, als er em­por­ge­stie­gen war. Wie­de­r­um kol­ler­te und pol­ter­te es im Lei­be der Ba­va­ria, doch dies­mal ver­lor sich der un­heim­li­che Schall nach un­ten hin, und Chri­sta­bel lausch­te halb ohn­mäch­tig in Schre­cken, Schau­der und Zorn. Jetzt schoss ein lang­bei­ni­ges In­di­vi­du­um zu den Fü­ßen der Gi­gan­tin her­vor, ver­lor an ih­rem Gra­nit­posta­ment einen braun­ro­ten Mur­ray, über­sah in blin­der angst­vol­ler Hast den brei­ten Weg zur Send­lin­ger Land­stra­ße und stürz­te – ras­te im vol­len Lauf quer über die The­re­si­en­wie­se der Ana­to­mie und den Ma­gis­trats-Wa­gen­schup­pen zu. Man muss die The­re­si­en­wie­se im hel­len Mit­tags­son­nen­schein ha­ben lie­gen se­hen, um sich vor­stel­len zu kön­nen, welch ein win­zig, ver­schwin­dend, hüp­fend Pünkt­chen der Ka­pi­tän Sir Hugh Slid­de­ry auf der­sel­ben war!

      Im gol­de­nen Zeit­al­ter kann­te man kei­ne Ge­s­pens­ter. Im sil­ber­nen hat­te man viel­leicht eine Ah­nung da­von, dass es der­glei­chen ge­ben kön­ne, doch nie­mand hat­te eins ge­se­hen. Aber im ei­ser­nen wim­mel­te es von ih­nen in al­len Näch­ten zwi­schen zwölf und ein Uhr; und heu­te, wo der Welt Ent­wick­lung doch un­be­dingt eine Wen­dung zu­rück ge­gen das gol­de­ne Glück des sa­tur­ni­schen Al­ters ge­nom­men hat, wo Frie­de und Frei­heit, Glück und Be­ha­gen sich von al­len Sei­ten her die Hän­de rei­chen, sind wir schlim­mer dar­an denn je; denn heu­te er­schei­nen die Geis­ter im Ver­trau­en auf die hö­he­re Bil­dung und das käl­te­re Blut der Erd­be­woh­ner un­be­fan­gen und mit Vor­lie­be am hel­len Mit­ta­ge, und ir­ren sich dann und wann doch in ih­rem Ver­trau­en auf den kla­ren Blick und die ru­hi­ge Über­le­gung des jetzt le­ben­den Men­schen­ge­schlechts. Wahr­lich, die Ge­s­pens­ter, wel­che den Men­schen am hel­len Mit­tag er­schre­cken, sind schlimm; und je­der­mann, der in den Am­men­ge­schich­ten des Da­seins Be­scheid weiß (und wer weiß heu­te nicht dar­in Be­scheid?) kennt sie. Dem Ket­ten­ge­ras­sel und Tür­klap­pen, dem Ra­scheln, Rau­schen, Seuf­zen, La­chen, Stöh­nen und Wei­nen um Mit­ter­nacht füh­len wir uns all­mäh­lich ge­wach­sen, so­dass wir so­gar an­ge­fan­gen ha­ben, uns phi­lo­so­phisch lus­tig dar­über zu ma­chen; al­lein dem Spuk, der uns am hel­len, lich­ten Tage, in der be­leb­ten Gas­se, auf dem wim­meln­den Markt, im sum­men­den Ge­richts­saal oder der fe­der­krit­zeln­den Schreib­stu­be an­grinst, die Spit­ze zu bie­ten, sind wir ar­men ner­ven­schwa­chen Her­ren und Her­rin­nen der Schöp­fung we­der phi­lo­so­phisch noch un­phi­lo­so­phisch noch lan­ge nicht im­stan­de.

      Ge­schlos­se­nen


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