Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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der Nacht. Wenn der Ka­pi­tän Sir Hugh Slid­de­ry sonst auch ge­ra­de nicht be­son­ders fä­hig war, et­was auf die land­schaft­li­chen Schön­hei­ten oder Häss­lich­kei­ten sei­ner Um­ge­bung zu ge­ben, so war das doch an die­sem Mor­gen an­ders ge­we­sen. Die Tie­fe des Ab­grun­des zur einen Sei­te des We­ges und die Höhe der Fel­sen zur an­de­ren hat­ten ihm ge­wis­ser­ma­ßen als Ge­gen­ge­wicht der Tie­fe sei­nes Schau­ders vor Miss Chri­sta­bel Ed­dish und der Höhe sei­nes Schre­ckens vor ihr ge­dient. Er hat­te hin­auf und hin­un­ter ge­se­hen, und ein­mal, auf ei­ner der Brücken über dem Aby­s­sus, hat­te er so­gar den Wa­gen hal­ten las­sen, war aus­ge­stie­gen, hat­te sich über die Brüs­tung ge­lehnt und einen schwe­ren Stein zum Hin­ter-Rhein hin­un­ter­pol­tern las­sen, und das hat­te ihm mehr als bloß sym­bo­lisch wohl­ge­tan, das hat­te mehr als bloß sym­bo­lisch be­frei­end auf ihn ge­wirkt.

      Tief at­mend war er wie­der ein­ge­stie­gen, und so war er durch das Ver­lo­re­ne Loch ge­fah­ren, hat­te die Bä­ren­burg in der Höhe durch den Feld­ste­cher be­trach­tet und noch ziem­lich früh am Tage An­de­er er­reicht, all­wo ihn sein Dä­mon in der »Os­te­ria« Tra­vi er­war­te­te, um ihn an den Schul­tern um­zu­dre­hen und ihn kurz­weg wie­der nach Nor­den zu di­ri­gie­ren.

      Da hielt er – nicht der Dä­mon, son­dern der eng­li­sche Ka­pi­tän vor der of­fe­nen, bunt und ver­lo­ckend mit ei­ner ita­lie­ni­schen Land­schaft be­mal­ten Bo­gen­wöl­bung, durch wel­che der Weg wei­ter nach Ita­li­en geht und über­ließ sich, dies­mal nicht ganz so wil­len­los als in Thu­sis, den Hän­den der Kell­ner, die aus der ne­ben­an sich öff­nen­den Pfor­te des Wirts­hau­ses her­vor­stürz­ten, um ihn in den Spei­se­saal zu ge­lei­ten.

      Ge­ne­ra­tio­nen auf Ge­ne­ra­tio­nen von Tou­ris­ten ha­ben auf ih­rem Wege nach oder aus den Oran­gen­län­dern die­sen Spei­se­saal im Ho­tel Tra­vi zu An­de­er ken­nen ge­lernt, und auf alle hat er wahr­schein­lich, we­nigs­tens si­cher­lich mit­ten im Hoch­som­mer, einen frös­teln­den Ein­druck ge­macht. Eine lan­ge Ta­fel läuft durch den Saal, und wenn es nicht un­an­ge­nehm sein mag, in an­ge­neh­mer Ge­sell­schaft, die See­le voll von ge­ahn­ten oder ge­schau­ten Wun­dern, sich an die­sem Ti­sche, wenn auch er be­setzt ist, nie­der­zu­las­sen: so ist es umso schau­er­li­cher, in ei­ner Stim­mung, wie die des Ka­pi­tän Sir Hugh war, nur einen ein­zel­nen, in einen Über­zie­her gehüll­ten Gast, und zwar ge­gen Ende des Mo­nats Mai, an ihm sit­zend zu fin­den.

      Der gröbs­te Ge­sell wird sich be­wo­gen füh­len, dem me­lan­cho­li­schen Ere­mi­ten schon von der Tür aus eine Ver­beu­gung zu ma­chen, aber die­se Ver­beu­gung, und selbst des höf­lichs­ten Rei­sen­den, wird un­be­dingt im­mer we­ni­ger ein Pro­dukt der Höf­lich­keit als des in­ner­lichs­ten Fros­tes und ei­ner das Mark der Kno­chen an­grei­fen­den Hilf­lo­sig­keit sein. Auf ei­ner spä­te­ren Sei­te die­ses Bu­ches wer­den wir den Le­ser in den Kur­saal zu Can­statt am Neckar füh­ren und hof­fen, ihm so­dann das an die­ser Stel­le nur an­ge­deu­te­te Ge­fühl gänz­li­cher Ver­lo­ren­heit um vie­les deut­li­cher ma­chen zu kön­nen.

      Als Sir Hugh in den Spei­se­saal des Ho­tels Tra­vi ein­trat, um den Ver­such zu ma­chen, zu früh­stücken, saß der ein­zel­ne Mensch an dem der Pfor­te ent­ge­gen­ge­setz­ten Ende der Ta­fel be­reits beim Früh­stück, und die Wüs­te war um ihn. Ein of­fen­ba­rer Hohn aber auf je­des mensch­li­che Ge­sell­schaft lie­ben­de Ge­müt war die Fra­ge des Ober­kell­ners an den bri­ti­schen Tou­ris­ten: wo der Herr Platz zu neh­men be­lie­ben wer­de? Der Ka­pi­tän fass­te die­se Fra­ge na­tür­lich auf als das, was sie war, und über­hör­te sie voll­stän­dig. Stumm ließ er sich auf den nächs­ten Stuhl fal­len – den Stuhl an der Tür, durch un­er­mess­li­chen Raum ge­trennt von dem Ein­sied­ler ge­gen­über in der ne­be­li­gen Fer­ne. Zu­sam­men­schau­ernd nahm er die ihm höf­lich dar­ge­reich­te Spei­se­kar­te hin, sah je­doch, ehe er sie über­blick­te, ge­rau­me Zeit in den Ne­bel hin­ein und knöpf­te wäh­rend­dem den Rock fes­ter zu.

      Der Gast am obe­ren Ende des Ti­sches in der Wüs­te saß mit me­lan­cho­lisch über sei­nen Tel­ler und sein Ge­tränk ge­krümm­tem Rücken und ver­barg sich, ohne von dem neu­ein­ge­tre­te­nen Fremd­ling die ge­rings­te No­tiz zu neh­men, hin­ter ei­nem der halb im ro­ma­ni­schen halb im deut­schen Kau­der­wälsch ge­schrie­be­nen und ge­druck­ten Grau­bünd­ner Ta­ges­blät­ter, und bleibt uns selbst­ver­ständ­lich so­lan­ge un­be­kannt, bis er die Nase über die­se Zei­tung er­hebt.

      Glück­li­cher­wei­se ge­sch­ah die­ses bald; denn eben hat­te der Ka­pi­tän un­ten am Tisch das Kü­chen­pro­gramm nie­der­ge­legt und sei­ne Wün­sche kund­ge­ge­ben, als der Frem­de oben am Ti­sche über den Bo­ten aus Va­duz, Bo­na­duz, Rhä­züns, Kat­zis oder der­glei­chen her­über­sah.

      Er sah her­über und schi­en sich zu ver­wun­dern. Er ver­wun­der­te sich so­gar sehr. Lang­sam wuchs er, wie ein Schiff über den Mee­res­ho­ri­zont, her­auf. Den bei­den sicht­bar ge­wor­de­nen weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen folg­te ein un­be­dingt noch wei­ter ge­öff­ne­ter Mund. Jetzt leg­te der Fremd­ling das Zei­tungs­blatt mit Nach­druck nie­der, und schlug mit der fla­chen Rech­ten dar­auf, – er leg­te bei­de Hän­de flach auf den gast­li­chen Tisch des Hau­ses Tra­vi; er er­hob sich von sei­nem Stuhl, beug­te sich so­weit als mög­lich über die Ta­fel vor, dem Eng­län­der zu, und dann – dann klang es hohl im öden Rau­me, hohl, aber de­sto über­ra­schen­der, ein­dring­li­cher durch alle Ner­ven­ver­äs­te­lun­gen dröh­nend:

      »Mein Gott, Sir Juh, sind Sie denn das?«

      Und Sir Hugh Slid­de­ry fuhr auf, starr­te den Ru­fer in der Wüs­te an, ließ Mes­ser und Ga­bel fal­len und stam­mel­te:

      »Mr. S’­mol­ke! o ve­r­y… now, in­de­ed!… Herr Dok­tor Smolk!«

      Er war es! Er war es in der Tat, un­ser uns be­reits in je­ner Stutt­gar­ter Knei­pe be­kannt ge­wor­de­ner ju­ris­ti­scher Bei­rat aus Frank­furt am Main, – der in­ter­na­tio­na­le Doc­tor ju­ris Leo­pold Schmol­ke, wel­cher nicht mit dem from­men Ben­ja­min ver­wandt war, aber an je­nem schö­nen Abend un­serm Freund Pechle und dem Baron Fer­di­nand von Ripp­gen ins Ohr flüs­ter­te, dass auch er, Leo­pold Schmol­ke, sich auf das Haus­po­stil­len­we­sen ver­ste­he und dann und wann im­stan­de sei, sei­nen Kli­en­ten ein gott­ge­hei­ligt Schatz­käst­lein gu­ten und lieb­li­chen Ra­tes und Tros­tes auf­zu­schlie­ßen.

      Dass er wirk­lich dazu im­stan­de sei, soll­te der bri­ti­sche Ka­pi­tän Sir Hugh Slid­de­ry au­gen­blick­lich er­fah­ren. Der Ka­pi­tän durf­te dreist zu­grei­fen. Es stand ihm frei, einen fri­schen, vol­len Griff in die weitof­fe­ne Tru­he zu tun, und er tat ihn, wie wir so­fort se­hen wer­den.

      Doch fürs ers­te stan­den bei­de Her­ren im Spei­se­saal des Ho­tels Tra­vi zu An­de­er am Ende oder auch An­fang der Via ma­la vor ih­ren Ku­verts und sa­hen sich er­staunt von fer­ne an; je­doch nicht lan­ge. Im nächs­ten Mo­ment schon gin­gen sie sich has­tig nä­her, tra­ten ein­an­der so nahe als mög­lich und über­zeug­ten sich durch den all­er­ge­naues­ten Au­gen­schein, dass sie sich nicht in der Per­son ge­irrt hat­ten.

      Dann rief der Eng­län­der: »O yes, er ist es! Und die­ses ist ein won­der­ful­les Zu­sam­men­sto­ßen!«

      Und der Frank­fur­ter Ad­vo­kat sprach:

      »Na, hee­re Se,


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