Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
Читать онлайн книгу.geschah, dass sie niemanden auf der Erde zurückließen, um den sie sich in ihrer Todesstunde noch ängstigen mussten. Die Qualen, die Dr. Reichhardt um seine Frau und seine drei Kinder leiden musste, waren unvergleichlich größer. Sie würden ihn bis in die letzte Sekunde seines Sterbens begleiten, das begriff der alte Werkmeister wohl.
Was Dr. Reichhardt eigentlich verbrochen haben sollte, dass ihm der Tod so gewiss schien, erfuhr Quangel nie ganz genau. Es schien ihm, als habe sein Zellengefährte sich nicht so sehr aktiv gegen die Hitlerdiktatur vergangen, sich nicht verschworen, keine Plakate geklebt, keine Attentate vorbereitet, als vielmehr nur so gelebt, wie es seiner Überzeugung entsprach. Er hatte sich allen nationalsozialistischen Lockungen entzogen, er hatte nie mit Wort oder Tat oder Geld zu ihren Sammlungen etwas beigesteuert, aber er hatte oft seine warnende Stimme erhoben. Er hatte klar gesagt, für wie unheilvoll er den Weg hielt, den das deutsche Volk unter dieser Führung ging, kurz, er hatte all das, was Quangel in wenigen Sätzen unbeholfen auf Postkarten geschrieben hatte, zu jedem geäußert, im Inlande wie im Auslande. Denn bis in die letzten Kriegsjahre hinein hatten den Dr. Reichhardt seine Konzerte noch ins Ausland geführt.
Es brauchte sehr viel Zeit, bis der Tischler Quangel sich ein einigermaßen klares Bild von der Art der Arbeit machte, die Dr. Reichhardt draußen in der Welt geleistet hatte – und ganz klar wurde dieses Bild nie, und ganz als Arbeit sah er in seinem tiefsten Innern die Tätigkeit Reichhardts nie an.
Als er zuerst gehört hatte, dass Reichhardt Musiker war, hatte er an die Musikanten gedacht, die in den kleinen Kaffeehäusern zum Tanz aufspielen, und er hatte mitleidig und verächtlich über solche Arbeit für einen starken Mann mit gesunden Gliedern gelächelt. Das war genau wie das Lesen etwas Überflüssiges, auf das nur feine Leute gerieten, die keine vernünftige Arbeit hatten.
Reichhardt musste es dem alten Mann weitläufig und immer wieder erklären, was ein Orchester war und was ein Dirigent tat. Quangel wollte das immer wieder hören.
»Und dann stehen Sie also mit einem Stöckchen vor Ihren Leuten und machen nicht mal selbst Musik …?«
Ja, so sei es wohl.
»Und nur dafür, dass Sie anzeigen, wann jeder losspielen muss und wie laut – nur dafür bekommen Sie so viel Geld?«
Ja, Herr Dr. Reichhardt fürchtete, so sei es wohl, nur dafür bekam er so viel Geld.
»Aber Sie können doch selbst Musik machen, auf der Geige oder auf dem Klavier?«
»Ja, das kann ich. Aber ich tue es nicht, wenigstens nie vor dem Publikum. Sehen Sie mal, Quangel, das ist doch ähnlich wie bei Ihnen: auch Sie können hobeln und sägen und Nägel einklopfen. Aber Sie haben es nicht getan, Sie haben nur die anderen beaufsichtigt.«
»Ja, damit sie möglichst viel schaffen. Haben denn Ihre Leute dadurch, dass Sie dastanden, nun schneller und mehr gespielt?«
»Nein, das haben sie freilich nicht getan.«
Schweigen.
Dann sagte Quangel plötzlich: »Und bloß Musik … Sehen Sie, wenn wir in unsern guten Zeiten gearbeitet haben, nicht bloß Särge, sondern Möbel, Anrichten und Bücherschränke und Tische, da haben wir was gearbeitet, was sich sehen lassen konnte! Beste Tischlerarbeit, verzapft und geleimt, was noch in hundert Jahren hält. Aber bloß Musik – wenn Sie aufhören, ist nichts von Ihrer Arbeit geblieben.«
»Doch, Quangel, die Freude in den Menschen, die gute Musik hören, die bleibt.«
Nein, in diesem Punkte kamen sie nie zu einem vollen Einverständnis; eine leise Verachtung für die Tätigkeit des Dirigenten Reichhardt blieb in Quangel zurück.
Aber er sah, dass der andere ein Mann war, ein aufrechter, wahrhaftiger Mann, der unter Bedrohungen und Schrecknissen sein Leben unbeirrt weitergelebt hatte, stets freundlich, stets hilfsbereit. Staunend begriff Otto Quangel, dass die Freundlichkeiten, die ihm Reichhardt erwies, nicht speziell ihm galten, sondern dass er sie jedem Zellengenossen erwiesen hätte, zum Beispiel auch dem »Hund«. Einige Tage hatten sie einen kleinen Dieb in der Zelle, ein verdorbenes, verlogenes Geschöpf, und dieser Bengel nützte die Freundlichkeiten des Doktors hohnlachend aus; er rauchte ihm all seine Zigaretten fort, er verhandelte seine Seife an den Kalfaktor, er stahl das Brot. Quangel hätte diese Kreatur am liebsten verprügelt, oh, der alte Werkmeister hätte den Bengel schon zurechtgestutzt. Aber der Doktor wollte das nicht haben, er nahm den Dieb, der seine Güte als Schwäche verspottete, in Schutz.
Als der Kerl schließlich aus ihrer Zelle geholt worden war, als sich herausgestellt hatte, dass er in unbegreiflicher Bosheit ein Bild, das einzige Bild, das Dr. Reichhardt von Frau und Kindern besaß, zerrissen hatte, als der Doktor trauernd vor den Fetzen dieses Bildes saß, die sich doch nicht wieder zusammenfügen lassen wollten, und als Quangel da zornig sagte: »Wissen Sie, Herr Doktor, ich glaube manchmal, Sie sind wirklich schlapp. Wenn Sie mir gleich erlaubt hätten, den Schuft ordentlich zusammenzustauchen, da hätte so was nicht passieren können« – da antwortete der Dirigent mit einem traurigen Lächeln: »Wollen wir denn werden wie die anderen, Quangel? Die glauben doch, dass sie uns mit Schlägen zu ihren Ansichten bekehren können! Aber wir glauben nicht an die Herrschaft der Gewalt. Wir glauben an Güte, Liebe, Gerechtigkeit.«
»Güte und Liebe für solch einen boshaften Affen!«
»Wissen Sie denn, wie er so boshaft wurde? Wissen Sie, ob er sich jetzt nicht gegen Güte und Liebe nur wehrt, weil er Angst davor hat, wenn er nicht mehr schlecht ist, anders leben zu müssen? Hätten wir den Jungen nur noch vier Wochen in unserer Zelle gehabt, Sie hätten die Wirkung schon gespürt.«
»Man muss auch hart sein können, Doktor!«
»Nein, das muss man nicht. Solch ein Satz gibt die Entschuldigung für jede Lieblosigkeit ab, Quangel!«
Quangel bewegte unmutig den Kopf mit dem scharfen, harten Vogelgesicht hin und her. Aber er widersprach nicht weiter.
58. Das Leben in der Zelle
Sie gewöhnten sich aneinander, sie wurden Freunde, soweit ein harter, trockener Mensch wie Otto Quangel der Freund eines aufgeschlossenen, gütigen Menschen werden konnte. Ihr Tag war – durch Reichhardt – fest eingeteilt. Der Doktor stand sehr früh auf, er wusch sich kalt am ganzen Leibe, machte eine halbe Stunde Gymnastikübungen und reinigte dann selbst die Zelle. Später, nach dem Frühstück, las Reichhardt zwei Stunden und ging dann eine Stunde lang in der Zelle auf und ab, wobei er nie vergaß, die Schuhe auszuziehen, um seine