Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
Читать онлайн книгу.Quangel übersah die Hand des anderen und murmelte fast unverständlich: »Eiliger Weg!«
Dabei ging er schon weiter, nach der Prenzlauer Allee zu. Dieser lästige Schwätzer hatte ihm gerade noch gefehlt!
So leicht ließ sich der aber nicht abschütteln. Er lachte meckernd und rief: »Da haben wir ja denselben Weg, Quangel!« Und als der andere, stur gradeaus starrend, eilig weiterschritt, setzte er hinzu: »Der Doktor hat mir nämlich gegen meine Hartleibigkeit viel Bewegung verordnet, und allein rumlaufen, das langweilt mich!«
Er fing nun an, weitläufig und genau zu schildern, was er alles schon gegen seine Hartleibigkeit getan hatte. Quangel hörte gar nicht hin. Ihn beschäftigten zwei Gedanken, und der eine verdrängte immer wieder den anderen: dass er keinen Sohn mehr hatte und dass Anna gesagt hatte: du und dein Führer. Quangel gab es sich zu: er hatte den Jungen nie geliebt, wie ein Vater seinen Sohn zu lieben hat. Von der Geburt an hatte er das Kind nur als Störer seiner Ruhe und seiner Beziehungen zu Anna empfunden. Wenn er jetzt doch Schmerz fühlte, so darum, weil er mit Unruhe an Anna dachte, wie sie diesen Tod aufnehmen, was dadurch alles geändert werden würde. Hatte doch Anna schon zu ihm gesagt: Du und dein Führer!
Es stimmte nicht. Hitler war nicht sein Führer oder doch nicht mehr sein Führer, als er Annas Führer war. Sie waren sich immer einig gewesen, als er 1930 mit seiner kleinen Tischlerwerkstatt verkracht war, dass der Führer den Karren aus dem Dreck gerissen hatte. Nach vier Jahren Arbeitslosigkeit war er Werkmeister in der großen Möbelfabrik geworden und brachte jetzt alle Wochen seine vierzig Mark nach Hause. Damit kamen sie gut aus. Das war durch den Führer gekommen, der hatte die Wirtschaft wieder in Gang gebracht. Darüber waren sie sich immer einig gewesen.
Aber in die Partei waren sie darum doch nicht getreten. Einmal reute sie der Parteibeitrag, man musste schon so an allen Ecken und Enden bluten, für das WHW,1 für alle möglichen Sammlungen, für die Arbeitsfront. Ja, in der Arbeitsfront hatten sie ihm in der Fabrik auch ein Ämtchen aufgehuckt, und grade das war der andere Grund, warum sie beide nicht in die Partei eingetreten waren. Denn er sah es bei jeder Gelegenheit, wie sie ständig einen Unterschied zwischen Volksgenossen und Parteigenossen machten. Auch der schlechteste Parteigenosse war denen noch mehr wert als der beste Volksgenosse. War man einmal in der Partei, so konnte man sich eigentlich alles erlauben: so leicht passierte einem nichts. Das nannten sie Treue um Treue.
Er aber, der Werkmeister Otto Quangel, war für Gerechtigkeit. Jeder Mensch war ihm ein Mensch, und ob er in der Partei drin war, das hatte damit gar nichts zu tun. Wenn er in der Werkstatt immer wieder erleben musste, dass dem einen ein kleiner Fehler am Werkstück schwer angekreidet wurde und dass der andere Pfusch über Pfusch abliefern durfte, so empörte ihn das stets von Neuem. Er setzte die Zähne auf die Unterlippe und nagte wütend an ihr – wenn er’s gekonnt hätte, er wäre auch dieses Pöstchen in der DAF längst los gewesen!
Die Anna wusste das gut, darum hätte sie das nie sagen dürfen, dies Wort: Du und dein Führer! Bei der Anna war alles auch ganz anders gewesen, sie hatte ganz freiwillig das Amt in der Frauenschaft übernommen, sie hatte nicht gemusst wie er. Gott ja, er verstand es, wie es dazu bei ihr gekommen war. Zeit ihres Lebens war sie bloß ein Dienstmädchen gewesen, erst auf dem Lande, dann hier in der Stadt. Zeit ihres Lebens hatte sie Trab laufen müssen und war kommandiert worden von anderen. Und in ihrer Ehe hatte sie auch nicht viel zu sagen gehabt, nicht etwa, weil er sie nun viel kommandiert hätte, sondern einfach weil sich um ihn, den Geldverdiener, nun einmal alles drehen musste.
Aber jetzt hatte sie nun dieses Amt in der Frauenschaft, und wenn sie auch hier ihre Befehle von oben empfing, so hatte sie doch nun eine Menge Mädchen und Frauen und sogar Damen unter sich, denen nun sie kommandierte. Das machte ihr einfach Spaß, wenn sie da wieder so eine faule Nichtstuerin mit rotgelackten Fingernägeln aufgetrieben hatte, und sie konnte sie in eine Fabrik schicken. Wenn von einem der Quangels überhaupt so ein Wort zu sagen war wie ›Du und dein Führer‹, dann noch am ersten von der Anna.
Gewiss, gewiss, auch sie hatte schon längst ein Haar in der Suppe gefunden und zum Beispiel gemerkt, dass sich manche von diesen feinen Dämchen einfach nicht zur Arbeit schicken ließen, weil sie zu gute Freunde hatten oben. Oder es empörte sie, wenn bei der Verteilung von warmem Unterzeug immer dieselben drankamen, und das waren eben die mit dem Parteibuch. Auch Anna fand, dass die Rosenthals anständige Leute waren und solch ein Schicksal nicht verdient hatten, aber darum dachte sie doch nicht daran, ihr Amt aufzugeben. Sie hatte neulich erst gesagt, dass der Führer gar nicht wüsste, was seine Leute da unten für Schweinereien begingen. Der Führer konnte nicht alles wissen, und seine Leute belogen ihn einfach.
Aber nun war dieser Tod von Ottochen gekommen, und mit Beunruhigung spürte Otto Quangel, dass von jetzt an alles anders werden würde. Er sieht das kranke, gelblich weiße Gesicht Annas vor sich, wieder hört er ihre Anklage, er ist jetzt zu einer ganz ungewohnten Stunde unterwegs, diesen Schwätzer Barkhausen an der Seite, heute Abend ist die Trudel bei ihnen, es wird Tränen geben, endloses Gerede – und er, Otto Quangel, liebt doch so sehr das Gleichmaß des Lebens, den immer gleichen Arbeitstag, der möglichst gar kein besonderes Ereignis bringt. Schon der Sonntag ist ihm fast eine Störung. Und nun soll alles eine Weile durcheinandergehen, und wahrscheinlich wird die Anna nie wieder die, die sie einst war. Das war zu tief aus ihr gekommen, dieses ›Du und dein Hitler‹. Das hatte wie Hass geklungen.
Er muss sich das alles noch einmal ganz genau überlegen, nur der Barkhausen lässt ihn nicht dazu kommen. Jetzt sagt dieser Mann doch plötzlich: »Sie sollen ja auch einen Feldpostbrief bekommen haben, und er soll nicht von Ihrem Otto geschrieben worden sein?«
Quangel richtet den Blick seiner scharfen, dunklen Augen auf den anderen und murmelt: »Schwätzer!« Weil er aber mit niemandem Streit bekommen will, selbst nicht mit solch einem Garnichts wie dem Rumsteher Barkhausen, setzt er halb widerwillig hinzu: »Die Leute schwatzen alle viel zu viel!«
Der Emil Barkhausen ist nicht beleidigt, den Barkhausen kann man so leicht nicht beleidigen, er stimmt eifrig zu: »Sie sagen’s, wie’s ist, Quangel! Warum kann die Kluge, die Briefschleiche, nicht das Maulwerk halten? Aber nein, gleich muss sie allen erzählen: Die Quangels haben einen Brief aus dem Felde mit Schreibmaschinenschrift bekommen! Ist doch genug, wenn sie erzählen kann, dass Frankreich kapituliert hat!« Er macht eine kleine Pause, und dann fragt er mit einer ganz ungewohnten halblauten, teilnehmenden Stimme: »Verwundet oder vermisst oder …?«
Er schweigt. Quangel aber – nach einer längeren Pause – antwortet nur indirekt auf die Frage des anderen: »Also Frankreich