Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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Der Sturz des Kommissars Escherich

      In dem Jahr, das auf den »Selbst­mord« des klei­nen Enno Klu­ge ge­folgt war, hat­te der Kom­missar Esche­rich ein ver­hält­nis­mä­ßig ru­hi­ges Le­ben füh­ren kön­nen, nicht gar zu be­läs­tigt durch die Un­ge­duld sei­ner Vor­ge­setz­ten. Da­mals, als die­ser Selbst­mord ge­mel­det wor­den war, als er­sicht­lich wur­de, dass der schmäch­ti­ge Mann sich al­len Ver­hö­ren durch Ge­sta­po und SS ent­zo­gen hat­te, gab es na­tür­lich bei Ober­grup­pen­füh­rer Prall Ge­wit­ter über Ge­wit­ter. Aber das leg­te sich mit der Zeit, die Spur war end­gül­tig kalt ge­wor­den, nun muss­te auf eine neue Spur ge­war­tet wer­den.

      Im Üb­ri­gen war die­ser Kla­bau­ter­mann nicht mehr so wich­tig. Die sture Mo­no­to­nie, mit der er Kar­ten im­mer glei­chen In­halts schrieb, die nie­mand las, nie­mand le­sen woll­te und die alle Leu­te in Ver­le­gen­heit oder Angst stürz­ten, ließ ihn nur lä­cher­lich und dumm er­schei­nen. Wohl piek­te Esche­rich noch brav sei­ne Fähn­chen in den Stadt­plan von Ber­lin. Mit ei­ni­ger Be­frie­di­gung sah er, dass sie nörd­lich vom Alex­an­der­platz im­mer dich­ter wur­den – da muss­te der Vo­gel sein Nest ha­ben! Und dann die­se auf­fäl­li­ge An­samm­lung von fast zehn Fähn­chen süd­lich vom Nol­len­dorf­platz – auch dort muss­te der Kla­bau­ter­mann re­gel­mä­ßig, wenn auch in großen Zeitab­stän­den hin­kom­men. Das al­les wür­de sich ei­nes Ta­ges schon noch be­frie­di­gend auf­klä­ren …

      Du kommst uns schon! Du kommst uns im­mer nä­her, un­ver­meid­lich!, ki­cher­te der Kom­missar und rieb sich die Hän­de.

      Aber dann ging er wie­der zu sei­nen an­de­ren Ar­bei­ten über. Es gab wich­ti­ge­re und drin­gen­de­re Fäl­le. Eine Art Wahn­sin­ni­ger, ein über­zeug­ter Nazi, wie er sich ti­tu­lier­te, war ge­ra­de sehr ak­tu­ell, er tat nichts, als alle Tage dem Mi­nis­ter Go­eb­bels einen grob be­lei­di­gen­den, oft por­no­gra­fi­schen Brief zu schrei­ben. Zu­erst hat­ten die­se Brie­fe den Mi­nis­ter amü­siert, spä­ter ir­ri­tiert, dann hat­te er ge­tobt und sein Op­fer ver­langt. Sei­ne Ei­tel­keit war töd­lich ver­letzt.

      Nun, Kom­missar Esche­rich hat­te Glück ge­habt, er hat­te den Fall »Schwein­igel«, wie er ihn ge­tauft hat­te, bin­nen heu­te und ei­nem Vier­tel­jahr er­le­di­gen kön­nen. Der Brief­schrei­ber, der üb­ri­gens wirk­lich in der Par­tei war und so­gar al­tes Par­tei­mit­glied, war zu Herrn Mi­nis­ter Go­eb­bels ge­bracht wor­den, und da­mit konn­te Esche­rich den Fall ad acta le­gen. Er wuss­te, er wür­de nie wie­der et­was von »Schwein­igeln« hö­ren. Der Mi­nis­ter ver­gaß nie eine ihm an­ge­ta­ne Krän­kung.

      Dann ka­men an­de­re Fäl­le – vor al­lem der je­nes Man­nes, der an pro­mi­nen­te Leu­te En­zy­kli­ken des Paps­tes und Ra­dio­an­spra­chen von Tho­mas Mann ver­sand­te, ech­te und ge­fälsch­te. Ein ge­schick­ter Bur­sche, die­ser Mann – es war nicht ganz ein­fach ge­we­sen, ihn zu krie­gen. Aber schließ­lich hat­te Esche­rich ihn doch für die Hin­rich­tungs­zel­le in der Plöt­ze reif ma­chen kön­nen.

      Und die­ser klei­ne Pro­ku­rist, der plötz­lich grö­ßen­wahn­sin­nig ge­wor­den war, der sich zum Ge­ne­ral­di­rek­tor ei­nes nicht exis­tie­ren­den Stahl­werks ge­macht hat­te und der ver­trau­li­che Brie­fe nicht nur an an­de­re Di­rek­to­ren tat­säch­lich exis­tie­ren­der Wer­ke schrieb, son­dern auch an den Füh­rer, die über den alar­mie­ren­den Stand der deut­schen Rüs­tungs­in­dus­trie Ein­zel­hei­ten mit­teil­ten, die oft nicht er­fun­den sein konn­ten. Nun, die­ser Vo­gel war ver­hält­nis­mä­ßig leicht zu fan­gen ge­we­sen; der Kreis der Leu­te, die sol­che In­for­ma­tio­nen be­sa­ßen wie der Brief­schrei­ber, war ver­hält­nis­mä­ßig klein.

      Ja, Kom­missar Esche­rich hat­te ei­ni­ge be­deut­sa­me Er­fol­ge ge­habt; in den Kol­le­gen­krei­sen mun­kel­te man schon, er wer­de bald au­ßer der Rei­he auf­rücken. Es war ein ganz er­freu­li­ches Jahr ge­we­sen, die­ser Zeit­raum seit dem Selbst­mord des klei­nen Klu­ge; der Kom­missar Esche­rich war zu­frie­den.

      Aber dann kam eine Zeit, da stan­den die Vor­ge­setz­ten Esche­richs plötz­lich wie­der vor dem Stadt­plan Kla­bau­ter­mann still. Sie lie­ßen sich die Fähn­chen er­klä­ren, sie nick­ten nach­denk­lich, wenn auf ihre Mas­sie­rung nörd­lich des Alex­an­der­plat­zes hin­ge­wie­sen wur­de, sie nick­ten noch nach­denk­li­cher, wenn Esche­rich auf die­sen in­ter­essan­ten Vor­trupp süd­lich des Nol­len­dorf­plat­zes ver­wies, und dann sag­ten sie: »Und was ha­ben Sie nun für Spu­ren, Herr Esche­rich? Was für Plä­ne ha­ben Sie aus­ge­heckt, die­sen Kla­bau­ter­mann zu fan­gen? Seit dem Ein­marsch in Russ­land ist der Bur­sche ja mäch­tig ak­tiv ge­wor­den! In der letz­ten Wo­che wa­ren es ja wohl fünf Brie­fe und Post­kar­ten?«

      »Ja«, sag­te der Kom­missar. »Und in die­ser Wo­che sind es auch schon wie­der drei!«

      »Also wie steht die Sa­che, Esche­rich? Be­den­ken Sie, wie lan­ge der Mann jetzt schon schreibt, das kann doch un­mög­lich so wei­ter­ge­hen! Wir ha­ben hier kein sta­tis­ti­sches Amt zur Re­gis­trie­rung von hoch­ver­rä­te­rischen Kar­ten, Sie sind ein Fahn­dungs­be­am­ter, mein Lie­ber! Also, was ha­ben Sie für Spu­ren?«

      So be­drängt, be­klag­te sich der Kom­missar bit­ter über die Dumm­heit der zwei Frau­en, die den Mann ge­se­hen und nicht an­ge­hal­ten hat­ten, die ihn ge­se­hen hat­ten und nicht mal be­schrei­ben konn­ten.

      »Ja, ja, al­les schön und gut, mein Lie­ber. Aber wir re­den hier nicht von Zeu­gen­dumm­heit, wir re­den von den Spu­ren, die Ihr klu­ges Köpf­chen ge­fun­den hat!«

      Worauf der Kom­missar die Her­ren wie­der an die Kar­te führ­te und ih­nen flüs­ternd zeig­te, wie über­all nörd­lich vom Alex Fah­nen steck­ten, nur ein be­stimm­ter, nicht sehr großer Be­zirk blieb völ­lig frei von Fah­nen.

      »Und in die­sem Be­zirk steckt mein Kla­bau­ter­mann. Da legt er kei­ne Kar­te ab, weil er zu be­kannt ist, weil er im­mer be­fürch­ten muss, dass ihn ein Nach­bar sieht. Es sind nur ein paar Stra­ßen, al­les klei­ne Leu­te, die da woh­nen. Da sitzt er.«

      »Und warum las­sen Sie ihn da sit­zen? Wa­rum ha­ben Sie nicht längst Haus­su­chung an­ge­ord­net in den paar Stra­ßen? Sie müs­sen ihn da doch schnap­pen, Esche­rich! Wir ver­ste­hen Sie nicht, sonst sind Sie doch wirk­lich ganz brauch­bar, aber in die­sem Fal­le ma­chen Sie eine Dumm­heit nach der an­de­ren. Wir ha­ben uns mal die Ak­ten an­ge­se­hen. Da ist die­se Ge­schich­te mit dem Klu­ge, den Sie trotz sei­nes Ge­ständ­nis­ses ha­ben lau­fen­las­sen! Und dann küm­mern Sie sich nicht mehr um ihn und las­sen den Bur­schen glatt Selbst­mord ver­üben, gra­de dann, wenn wir ihn am nö­tigs­ten ge­brau­chen! Dumm­hei­ten über Dumm­hei­ten, Esche­rich!«

      Der Kom­missar Esche­rich, ner­vös sei­nen Schnurr­bart dre­hend, ge­stat­tet sich, dar­auf hin­zu­wei­sen, dass der Klu­ge ent­schie­den mit dem Kar­ten­schrei­ber nicht das Ge­rings­te zu tun hat­te. Die Post­kar­ten wa­ren vor wie nach sei­nem Tode un­ver­än­dert ge­kom­men.

      »Ich hal­te sein Ge­ständ­nis, dass ihm ein Un­be­kann­ter die Kar­te zum Ab­le­gen ge­ge­ben hat, für un­be­dingt glaub­haft.«

      »Na, wenn Sie’s nur da­für hal­ten! Wir hal­ten es für not­wen­dig, dass Sie nun end­lich et­was tun! Ist uns ganz egal, was, aber jetzt wol­len wir Er­fol­ge sehn! Ma­chen Sie also erst mal Haus­su­chung in den paar Stra­ßen. Wer­den ja sehn, was da­bei raus­kommt.


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