Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich Glauser

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Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten - Friedrich  Glauser


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nur ein Teil, und ich verstehe, daß es euch komisch vorgekommen ist. Man sucht die Kranken zum Arbeiten anzuhalten… Mein Mann hat große praktische Begabung, er hat Arbeiten direkt erfunden, er hat den Wärtern (damals sagte man noch Wärter) Kurse gegeben, er ist des Tages fünf-, sechs-, zehnmal über die Abteilungen gegangen; – er, der sonst immer gern flucht, wenn etwas nicht geht, er war geduldig… Und der Direktor ist jeden Abend zum Bärenwirt seinen Dreier trinken gegangen, hat seine Köchin geheiratet, hat mit sechzig einen Sohn taufen lassen… Und als alles in Gang war, als die Anstalt wirklich in Ordnung war, als Leute kamen, um sie zu besichtigen, als die Patienten in den Nächten ruhig waren, die Abteilungen, die früher nach Irrenhaus ausgesehen hatten, nichts anderes waren als Werkstätten, in denen Papiersäcke geklebt, Matten geknüpft wurden – als man Kranke entlassen konnte, die man früher für unheilbar hielt – wer hat den Ruhm eingeheimst?… Ich habe einmal zufällig im Direktionsbüro einen Brief gelesen… Irgendein deutscher Professor schrieb dem Direktor, er habe sich gewundert über die moderne Führung der Anstalt, und er beglückwünsche den Direktor, daß er die neuzeitlichen Errungenschaften der Psychotherapie in seiner Anstalt eingeführt habe…«

      Frau Laduner hatte sich warm geredet. Nun schwieg sie. Ihre Hände ruhten im Schoß, und ihr Leinenrock war fast bis zu den Knieen gerutscht. Studer fand, die Füße der Frau Laduner sähen gutmütig aus. Gutmütig und tatkräftig.

      Er dachte: ›Das Bataillon hört auf mein Kommando!‹ und versteckte ein Lächeln unter seinem Schnurrbart…

      »Und jetzt ist der Direktor tot!« sagte Frau Laduner. Sie atmete tief, und der Stoff ihrer Bluse spannte sich über ihrer Brust. Genau so tief hatte Dr. Laduner geatmet, in der Allee unter den Apfelbäumen, an deren Ästen die winzigen, grasgrünen Früchte hingen, die ebenso sauer waren wie der Klang der Stundenglocke im Türmchen der Anstalt Randlingen…

      Eine Klinke wurde heruntergeschlagen, eine Tür aufgerissen…

      »Frau Doktr, i glaube, dr Herr Doktr isch cho«, sagte Studer und stand auf.

      In der Wohnung wurde eine Tür mit lautem Knall zugeschmettert. Sie wolle go luege, sagte Frau Laduner. Und dann verabschiedete sie sich vom Wachtmeister.

      2.

      Am Türpfosten der Wohnung im ersten Stock war ein Blechschild angebracht, wie man es in jenen Automaten ausstanzen konnte, die früher auf allen Bahnhöfen wuchsen…

      ›Dr. med. Ulrich Borstli‹ stand darauf.

      Vorsichtig versuchte Studer, die Türe zu öffnen, sie war unverschlossen, er stand dann in einem Gang, der dem Gang in der Wohnung Dr. Laduners ähnelte. Ihm war ein wenig beklommen zumute. Aber dann dachte er, daß er schließlich beauftragt sei, den ›Konnex‹ (wie Dr. Laduner sagte) zwischen dem Verschwinden des Patienten Pieterlen und dem Tode des alten Direktors aufzudecken.

      So rief er laut: »Hallo!« Und »Niemer umeweg?«… Stille. Es roch nach kaltem Stumpenrauch. Studer betrat das erste Zimmer.

      Ein Flügel, ein Notenständer, ein Rauchtisch mit einem gefüllten Aschenbecher. Armsessel, ein offener Kamin, davor ein lederner, abgewetzter Klubsessel. Und über dem Klavier hing die vergrößerte Photographie einer Frau. Studer trat näher. Ein spitzes Gesicht, große Augen, die schweren Zöpfe waren kunstvoll über dem Hinterkopf aufgetürmt… Ein altes Bild… Die erste Frau?…

      Der Flügel war verschlossen und mit Staub bedeckt. Zu beiden Seiten der Fenster hingen rote Plüschvorhänge, und durch die Scheiben leuchtete der bleiche Stamm einer Birke. An ihren feinen Ästen hingen zerknitterte Blätter…

      Im Nebenzimmer stand ein Schreibtisch und auf dem Schreibtisch eine Flasche Kognak mit einem gebrauchten Glas daneben. Studer erinnerte sich, daß der Direktor die Gutachten der chronischen Alkoholiker machte – und er mußte leise lachen. Neben der Flasche lag ein Buch aufgeschlagen, Studer suchte das Titelblatt.

      ›Die Memoiren des Casanova.‹

      Eine etwas sonderbare Lektüre!… Nun ja… Aber man mußte die Schubladen des Schreibtisches durchsuchen.

      Sie waren unverschlossen. Nirgends Geld. Die zwölfhundert Franken, die der Direktor gestern von der Krankenkasse erhalten hatte, waren nicht vorhanden… Er hatte sie also bei sich getragen? Aber seine Taschen waren leer gewesen… Und der Sandsack?…

      Das Schlafzimmer: Zwei Betten, das eine war nicht überzogen, das andere ungebraucht, kein Kopfeindruck auf dem Kissen. Die Decke war glattgestrichen…

      Was war es nur, was die ganze Wohnung durchdrang? Es war nicht allein der kalte Stumpenrauch, obwohl er zu der besonderen Atmosphäre gehörte, es war auch nicht der leichte Kognakgeruch, und doch war auch er nicht wegzudenken. Es war nicht der aufgeschlagene Casanova und das unüberzogene leere Bett und nicht der Staub und nicht der geschlossene Flügel und die Plüschvorhänge und die Birke mit den zerknitterten Blättern…

      Studer blieb mitten im Arbeitszimmer stehen, vor dem offenen Schrank, in dem wenige Bücher unordentlich herumlagen. Auf dem Schreibtisch war ein dreiteiliger Rahmen aufgestellt: Photographien… Mädchen, Männer, ein Brautpaar, Kinder… Enkel des alten Direktors?…

      »Aaahh«, machte Studer ganz laut.

      Jetzt konnte er ganz genau sehen, was die Wohnung durchdrang:

      Einsamkeit.

      Ein alter Mann, der zum Bärenwirt flieht, weil er die Einsamkeit nicht mehr aushält. Zwei Frauen sind ihm gestorben. Die Kinder weit weg… Die Enkel kommen nur in den Ferien… Und die jungen Pflegerinnen, mit denen man spazieren geht?… Ein alter Mann kämpft gegen die Einsamkeit, und es ist ein hoffnungsloser Kampf…

      Studer schlich davon, schlüpfte ins Stiegenhaus, hastete in den zweiten Stock, betrat die Wohnung. Frau Laduner kam ihm entgegen. Ein Pfleger habe nach ihm gefragt, sie habe ihn ins Gastzimmer geführt.

      Als Studer die Türe öffnete, saß der kleine Gilgen auf dem Rande eines Stuhls, und sein Gesicht war bleich und ängstlich…

      3.

      Gilgen kratzte sich die Glatze. Er hatte einen Rock angelegt, der viel geflickt war. Aus der Tasche des Rockes zog er nun ein Blatt Papier, vierfach zusammengefaltet, und reichte es Studer. Der Titel war mit schöner Rundschrift gemalt, und es war eine Art Widmung:

      »Dem sehr verehrten und sehr gütigen und sehr weisen Inspektor Jakob Studer von einem großen Kriegsverletzten gewidmet im Auftrage Mattos, des großen Geistes, dessen Reich sich weitet über das Erdenrund.«

      Und dann kam das sonderbare Stück Prosa, das Studer am Morgen gelesen hatte, aber es begann ein wenig anders:

      »Wenn der Nebel den Regen spinnt zu dünnen Fäden…« Und so weiter… und so weiter… Es kam der Abschnitt über die bunten Papiergirlanden, die über die Welt flattern, und dann flackern Kriege auf, es kam der Satz über die roten Bälle und die Revolutionen lodern zum Himmel… Es war ähnlich und doch anders. Diesmal berührte es Studer merkwürdig, und es fröstelte ihn ein wenig. Es war soviel passiert inzwischen… Er hatte den Direktor gefunden am Fuße der Eisenleiter… Er hatte die Wohnung gesehen und die Einsamkeit eines alten Mannes begriffen… Er hatte das Aufatmen Dr. Laduners gesehen und das Aufatmen seiner Frau…

      Und Wachtmeister Studer las den letzten Abschnitt von Schüls ungereimtem Gedicht. In diesem hieß es:

      »Matto! Er ist mächtig. Alle Formen nimmt er an, bald ist er klein und dick, bald schlank und groß, und die Welt ist sein Puppentheater. Sie wissen nicht, die Menschen, daß er mit ihnen spielt wie ein Puppenspieler mit seinen Marionetten… Und dabei sind seine Fingernägel lang wie die eines chinesischen Gelehrten, gläsern und grün…«

      Der gute Schül! Mattos Fingernägel schienen ihn zu beschäftigen… Aber, was war denn los? Studer fühlte sich unbehaglich, aber es war nicht mehr Schüls ›Dichtung‹, es war etwas anderes…

      »Wer spielt denn da in einem fort Handharpfe?«


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