Der Löwe von Flandern. Hendrik Conscience

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Der Löwe von Flandern - Hendrik Conscience


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Fast könnte man glauben, Ihr hättet alle trostreichen Worte vergessen; denn stets sprecht Ihr von so grausigen Dingen, daß mich ein Zittern überfällt; meinem Falken ist bang vor Eurer Stimme, – sie klingt so hohl! Das ist gar nicht nett von Euch, und Ihr kränkt mich damit!“

      Wilhelm sah die Maid an, und sein Blick flehte um Mitleid für seinen Schmerz. Als Machteld ihm in die traurigen Augen sah, lief sie auf ihn zu und drückte ihm die Hand.

      „Ach, verzeiht mir, lieber Wilhelm,“ bat sie, „ich habe Euch sehr lieb; aber Ihr müßt mich auch nicht mehr mit dem schrecklichen Worte ‚Sterben‘ kränken; das klingt noch lange in meinen Ohren nach! Seid mir, bitte, nicht mehr böse!“

      Noch ehe Wilhelm ihr antworten konnte, lief sie zu ihrem Falken zurück und begann ihren Zeitvertreib von neuem, während die Tränen noch über ihre Wangen liefen.

      „Mein Sohn,“ sagte Gwijde, „tragt der Jungfrau die Worte nicht nach. Du weißt, daß sie nicht böse gemeint waren!“

      „Ich vergebe ihr von ganzem Herzen; denn ich liebe sie wie eine Schwester. Der Schmerz, den sie um Philippas vermeintlichen Tod empfand, hat mir sehr wohlgetan.“

      Mit diesen Worten öffnete Wilhelm wieder sein Buch und las jetzt mit lauter Stimme:

      „Jesus Christus, Seligmacher, erbarm' Dich meiner Schwester. Um Deiner bitteren Leiden willen erlöse sie, o Herr!“

      Bei dem Namen des Herren entblößte der alte Gwijde sein Haupt, faltete die Hände und betete mit Wilhelm zusammen. Machteld ließ ihren Falken auf dem Stuhl stehen, kniete in der einen Ecke des Zimmers nieder, in der ein Kissen vor einem großen Kruzifix lag.

      Wilhelm fuhr fort:

      „Sancta Maria, Mutter Gottes, ich bitte Dich, hör' mich an, tröste sie in dem dunklen Kerker, o heilige Magd.“

      „O Jesus, süßer Jesus, Barmherziger, erbarm' Dich meiner armen Schwester.“

      Gwijde wartete, bis das Gebet zu Ende war, ohne auf Machteld zu achten, die wieder zu ihrem Falken gegangen war:

      „Aber sag' mir nur, Wilhelm, dünkt es Dich nicht, daß wir Herrn von Valois großen Dank schulden?“

      „Herr von Valois ist der würdigste Ritter, den ich kenne,“ antwortete der Jüngling. „Hat er uns nicht mit größtem Edelmut behandelt? Er hat Euerm grauen Haupt Ehrerbietung erwiesen und Euch sogar getröstet. Ich weiß bestimmt, daß er unserem Unglück und der Gefangenschaft meiner Schwester ein Ende gemacht haben würde, wenn das in seiner Macht stände. Gott lohne ihm seinen Edelmut mit der ewigen Seligkeit!“

      „Ja, Gott sei ihm in seiner letzten Stunde gnädig,“ fügte Graf Gwijde hinzu. „Kannst Du das glauben, mein Sohn, daß er, unser Feind, so edelmütig sein will, sich um unsertwillen in Gefahr zu begeben und sich den Haß Johannas von Navarra zuzuziehen.“

      „Ja, da Ihr von Karl von Valois sprecht, glaube ich das gern. Aber was kann er für uns und unsere Schwester tun?“

      „Höre, Wilhelm! Als er heute morgen mit uns zur Jagd ritt, hat er mir ein Mittel geraten, durch welches wir mit Gottes Hilfe König Philipp den Schönen versöhnen können.“

      Außer sich vor Freude schlug der Jüngling die Hände zusammen und rief:

      „O Himmel, sein guter Engel hat durch seinen Mund gesprochen. Und was sollt Ihr tun, Vater?“

      „Zu Compiègne mit meinen Edeln den König aufsuchen und ihm zu Füßen fallen.“

      „Und Königin Johanna?“

      „Die ungnädige Johanna von Navarra ist mit Enguerrand de Marigny in Paris. Jetzt ist der günstigste Augenblick!“

      „Gebe Gott, daß Eure Hoffnung Euch nicht täuscht! Wann wollt Ihr denn die gefahrvolle Reise unternehmen, Vater?“

      „Übermorgen wird Herr von Valois mit seinem Gefolge nach Wijnendaal kommen, um uns das Geleite zu geben. Ich habe die Edeln, die mir noch treu geblieben sind, zu mir entbieten lassen, um sie davon in Kenntnis zu setzen. – Aber Dein Bruder Robrecht kommt gar nicht. Weshalb bleibt er solange dem Schloß fern?“

      „Habt Ihr seinen Streit von heut morgen bereits vergessen, Vater? Er hat eine Beleidigung von sich abzuwaschen. Jetzt kämpft er wohl gerade mit Châtillon.“

      „Du hast recht, Wilhelm. Das hatte ich vergessen. Dieser Zwist kann uns schädlich sein; denn Herr von Châtillon besitzt am Hofe Philipps des Schönen großen Einfluß.“

      Zu jener Zeit waren Ehre und Ruhm das kostbarste Gut des Ritters. Er durfte keinen Verdacht der Verleumdung auf sich fallen lassen, ohne Rechenschaft dafür zu fordern. Deshalb waren Zweikämpfe etwas Alltägliches, und sie fanden keine besondere Beachtung.

      Plötzlich erhob sich Gwijde und sagte:

      „Da höre ich die Brücke fallen. Sicher sind meine Lehnsleute schon da. Komm, wir gehen in den großen Saal.“

      Sie gingen aus dem Gemach und ließen die junge Machteld allein.

      Bald kamen in den Saal zu dem alten Grafen die Herren van Waldeghem, van Roode, van Kortrijk, van Oudenaarde, van Heyle, van Nevele, van Roubais, der Herr Walter van Lovendeghem mit seinen beiden Brüdern und mehreren anderen, zweiundfünfzig an der Zahl. Einige hielten sich gerade im Schloß auf. Andere hatten ihre Herrschaftssitze in der umliegenden Ebene. Sie warteten alle voll Neugierde auf den Befehl oder die Nachricht des Grafen und standen mit entblößtem Haupte vor ihrem Gebieter.

      Dieser hielt ihnen bald darauf folgende Ansprache:

      „Meine Herren, Ew. Edeln wissen, daß die Treue, die ich meinem Lehnsherren, König Philipp, geschworen habe, die Ursache zu meinem Unglück ist. Als er mich aufforderte, Rechenschaft über die Besteuerung der Gemeinden abzulegen, habe ich als untertäniger Vasall seinem Wunsche willfahren. Brügge hat mir den Gehorsam verweigert, und meine Untertanen haben sich gegen mich erhoben. Als ich mit meiner Tochter nach Frankreich gereist bin, um dem Könige zu huldigen, hat er uns alle gefangen genommen. Mein unglückliches Kind trauert noch im Kerker des Louvre. Das alles wißt ihr; denn ihr steht eurem Fürsten treu zur Seite. Ich habe, wie es meiner Würde ziemte, mir mein Recht erkämpfen wollen, aber das Waffenglück war gegen uns. Der meineidige Eduard von England brach das Bündnis, das wir mit ihm geschlossen hatten, und ließ uns in der Not im Stich. Mein Land ist verloren, ich bin zum Geringsten unter euch geworden, und mein graues Haupt kann die Grafenkrone nicht mehr tragen. Ihr habt einen anderen Herren.“

      „Noch nicht,“ rief Walter van Lovendeghem, „eher würd' ich meinen Degen zerbrechen. Ich erkenne keinen anderen Herren an als den edlen Gwijde van Dampierre!“

      „Herr van Lovendeghem, ich freue mich über Eure treue Liebe von ganzem Herzen; aber erst hört mich kaltblütig zu Ende an! Herr von Valois hat Flandern durch Waffengewalt gewonnen und von seinem königlichen Bruder zu Lehen erhalten. Seinem Edelmut allein verdanke ich es, daß ich mit Ew. Edeln hier in Wijnendaal zusammen sein kann; denn er selbst hat mich aus Rupelmonde in dieses liebe Heim gebeten. Noch mehr: er hat beschlossen, das Haus von Flandern wieder aufzurichten und mich wieder zum regierenden Grafen zu machen. Darüber wollte ich mit Ew. Edeln verhandeln, – denn ich brauche eure Hilfe.“

      Das Erstaunen der Herren, die gespannt gelauscht hatten, wurde durch diese letzten Worte noch mehr gesteigert. Daß Karl von Valois das Land, das er erobert hatte, wieder hergeben wollte, kam ihnen unglaublich vor. Verblüfft sahen sie den Grafen an, und dieser fuhr nach kurzer Unterbrechung fort:

      „Meine Herren, ich setze nicht den geringsten Zweifel in eure aufrichtige Treue zu mir, deshalb habe ich die größte Zuversicht, daß ihr meine letzte Bitte erfüllen werdet: übermorgen breche ich nach Frankreich auf, um mich dem König zu Füßen zu werfen, und ich bitte Ew. Edeln, mich zu begleiten.“

      Einer nach dem anderen antwortete, daß er bereit sei, seinem Grafen überall hin Folge zu leisten und ihm beizustehen. Nur einer sagte nichts. Das war Dietrich der Fuchs.


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