Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

Читать онлайн книгу.

Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


Скачать книгу
Gabriel tief, indem er ihn anzog. Die gemischten Gefühle aber flossen zu einer Art Liebe zusammen. Der »Ethiker Bagradian« wollte, so glaubte er wenigstens selbst, aus dem Deserteur einen Menschen machen, so etwa wie gewisse Männer die Einbildung hegen, Straßendirnen »retten« zu müssen. Es war einer der groben Fehler, die der militärische Führer auf dem Damlajik beging, daß er um Kilikian warb, anstatt ihn nach wie vor in unnahbarem Abstand und unter schärfster Aufsicht zu halten. Während Gabriel mit dem Deserteur sprach, fühlte er sich zu seinem eigenen Unbehagen befangen. Es gelang ihm nicht, den Ton zu treffen. Die undurchdringliche Apathie des anderen machte ihn unsicher. Er war wie jeder Redende gegenüber dem Schweigenden im Nachteil, so wie die Bewegung der Ruhe, das Leben dem Tode gegenüber im Nachteil, oder besser, in einer buhlenden Lage sich befinden:

      »Ich freue mich, daß ich mich in dir nicht getäuscht habe, Sarkis Kilikian. Den Erfolg vom Vierzehnten haben wir nicht zuletzt dir zu verdanken. Die Maschinen, die du konstruiert hast, waren ein prächtiger Gedanke. Deine Studien im Seminar sind dir dabei wohl eingefallen. Die Belagerungstechnik der Römer, wie ...?«

      »Keine Ahnung, davon weiß ich nichts«, grinste Sarkis.

      »Wenn die Türken es nicht mehr wagen werden, im Süden den Berg anzugreifen, so wird es auch dein Werk sein, Kilikian.«

      Dieses Lob schien auf den Russen einen leichten Eindruck zu machen, wenn auch keinen angenehmen. Seine stumpfen Augen streiften Gabriel:

      »Man hätte es noch viel besser machen können ...«

      Gabriel spürte die unbestechliche Ablehnung durch Sarkis Kilikian. Zugleich ärgerte ihn seine eigene Schwäche, die solche Verneinung nicht erwidern konnte:

      »Du hast gewiß auf den Bohrtürmen von Baku die Erfahrungen eines Ingenieurs gemacht ...«

      Der Russe betrachtete spöttisch seine Feldflasche:

      »Ich war nicht einmal Vorarbeiter dort, sondern ein ganz gewöhnlicher Hilfsarbeiter ...«

      Gabriel Bagradian schob ihm Zigaretten hin:

      »Ich habe dich hierherbestellt, Kilikian, um dir meine Absichten mitzuteilen, die dich betreffen. Hoffentlich werden wir noch einige Tage Ruhe behalten. Früher oder später wird es aber zu einem Angriff kommen, gegen den alles Frühere ein Kinderspiel war. In diesem Kampf will ich dir einen sehr wichtigen Posten anvertrauen, mein Freund ...«

      Kilikian leerte die Feldflasche bis auf den letzten Tropfen und stellte sie nachdrücklich hin:

      »Das ist deine Sorge und deine Sache. Du bist der Kommandant.«

      Der lange Plebejertisch war inzwischen in lärmende Bewegung geraten. Über die des Alkohols entwöhnten Menschen hatte sich Trunkenheit gesenkt. Auf Juliettens Geheiß war übrigens noch ein dritter Weinkrug entsiegelt worden. Zwei streitbare Parteien bildeten sich, die Optimisten und die Pessimisten. Tschausch Nurhan Elleon hatte die Bank bestiegen. Sein grauer drahtiger Schnurrbart zitterte. Er bleckte das rotgeäderte Weiße seiner Augen und rasselte mit seiner ausgeschrienen Feldwebelstimme: Wer die Hoffnung ausspreche, daß der Feind nicht mehr angreifen werde, sei ein verkappter Feigling und Verräter. Er, Nurhan, wünsche mit Ungeduld einen neuen Angriff. Besser heute als morgen! Was wäre das sonst für ein Leben auf dem Damlajik? Nur hungern und versumpfen!? Dazu habe er gar keine Lust! Das Leben mache ihm überhaupt kein Vergnügen mehr. Er sei fünfzig Jahre alt und habe genug. Wer anders denke als er, sei ein dummer Teufel.

      Es fanden sich aber dieser dummen Teufel einige, die gegen Narhans Wahnsinn heftig zu streiten begannen. Der alte Baumeister Tomasian, der seiner Sinne auch nicht mehr ganz mächtig war, wurde dunkelrot vor Zorn. Nurhan sei ein Gotteslästerer, schrie er. Man feiere hier die Taufe seines Enkelkindes, und er wolle solche Reden nicht dulden. Als Großvater bete er zum Heiland, daß sein Enkelsohn, wenn er auch jetzt noch ein elender Wurm zum Auslöschen sei, dereinst schöne und friedliche Tage unten in Yoghonoluk oder anderswo auf dieser Welt erleben möge. Der Heiland werde dies nach seinem eigenen Willen lenken und nicht nach dem Willen eines blutrünstigen Onbaschi. Er aber glaube fest, daß die Türken sehr bald Vernunft annehmen würden. Damit war das Stichwort für den Muchtar Kebussjan gegeben. Auch er stellte sich taumelnd auf die Bank, wackelte mit der Glatze und sah äußerst vergnügt alle und keinen an:

      »Verhandeln muß man«, zischte er geheimnisvoll pfiffig; »seit zwölf Jahren bin ich Muchtar von Yoghonoluk ... Ich verhandle mit den Türken, mit Kaimakam und Müdir ... Der Kaimakam hat mich stets geehrt ... Pünktlich habe ich den Bedel der Gemeinde abgeliefert ... Und ich wurde in seine Kanzlei geführt, denn der Kaimakam und der Mutessarif und der Wali und der Wesir und der Sultan, sie wissen alle, daß ich der Thomas Kebussjan bin ... Wenn ich mit ihnen verhandle, wird mir nichts geschehen, denn ich bin ein großer Steuerzahler ... Ihr aber seid kleine Steuerzahler und könnt euch mit mir nicht vergleichen ...«

      Die kleineren Steuerzahler, die in ihrer Ehre gekränkten Dorfschulzen der anderen Ortschaften, rissen Kebussjan von seiner Rednerbühne herab. Tschausch Nurhan schrie, daß er unnütze Proviantvertilger nicht mehr dulden werde und daß nun jedermann demnächst unter seine Fuchtel komme, möge er auch siebzig Jahre alt sein oder mehr. Gelächter. Der besoffene Streit drohte in unangenehme Formen auszuarten. Doch glücklicherweise hatte Gabriel Bagradian den weiteren Ausschank seines Weines verboten, ehe er mit Awakian, der ihm eine heimliche Meldung überbrachte, schnell verschwunden war. Der vornehme Tisch wurde immer leerer. Ter Haigasun hatte das Gelage schon nach einer knappen Stunde verlassen. Aram Tomasian war kurz nach ihm in das Zelt zu den Frauen gegangen. Als an dem langen Tisch der Streit ausfallender zu werden versprach, hatte sich Sarkis Kilikian mit seiner Feldflasche hinübergesetzt und beobachtete aus seinen stumpfen Augen die alten Kampfhähne, ohne irgendeine Belustigung zu verraten. Noch saßen Gonzague und Juliette still nebeneinander, Lehrer Hrand Oskanian hockte nach wie vor zu Füßen der Frau. Er verschmähte es, einen der frei gewordenen Plätze einzunehmen. Plötzlich aber sprang der Schweiger auf, sich auf sein Gewehr stützend, als sei er von einer Schlange gebissen worden. Er betrachtete Julietten einige Sekunden lang entsetzt, dann drehte er sich um und ging steif davon. Oskanian hatte nur wenig getrunken und doch hielt er, schon nach wenigen Schritten, das, was er zu sehen geglaubt hatte, für ein Wahngebilde des Weines. Es war ganz und gar unmöglich und nicht denkbar, daß eine blonde und weiße Göttin ihr Knie leidenschaftlich an das Knie eines abenteuernden Subjektes drängt, von dessen Herkunft kein Mensch etwas weiß. Trotz dieser unbezweifelbaren Erkenntnis spürte aber Oskanian den Herzstich noch, als er bereits über den Altarplatz ging. Juliette aber, die plötzlich unruhig geworden war, stand auf und verabschiedete sich, um Howsannah Tomasian zu besuchen, die sie sträflicherweise die ganze Zeit vernachlässigt hatte.

      Zuletzt saßen nur noch Apotheker Krikor und Gonzague Maris einander gegenüber. Gonzague betrachtete seinen ehemaligen Hauswirt mit unverhohlen erschrockener Aufmerksamkeit. Die Veränderung, die sich mit diesem seit den letzten Wochen zugetragen hatte, war kaum glaublich. Aus dem mittelgroßen sehnigen Mann schien ein magerer verwachsener Zwerg geworden zu sein, dessen Wasserkopf an einem dürren Halsstengel haltlos schwankte. Die Schultern waren hinaufgezogen und vorgedreht, die Gelenke der Finger durch große Knoten und Wülste entstellt. Nur die Mandarinenmaske hatte sich nicht ganz und gar verwandelt, wenn man von der graubraunen Verfärbung der Haut absah. Doch in das überlegen gleichmütige Spektrum seines Gesichtsausdruckes war eine neue Lichtlinie eingeschaltet, ein Lächeln jenseitiger Verschlagenheit. Krikor trank fleißig seinen Wein aus einer Teetasse. Dabei zitterte aber seine kranke Hand so stark, daß er jedesmal ein unfreiwilliges Trankopfer darbringen mußte.

      »Sie sollten nicht so viel trinken, Apotheker Krikor«, mahnte Maris.

      Krikor schüttelte seinen schweren Kopf, der in der letzten Zeit so merkwürdig gewachsen zu sein schien:

      »Ich esse überhaupt nichts mehr ... Das Trinken aber ist geistiger Dienst, so lehrt der persische Philosoph Ferhad el Katib.«

      »Sie müßten sich schonen und ins Bett legen ...«

      »Ich fange erst an, mich gesund zu fühlen«, sagte der Kranke mit einer Paradoxie, die nicht nur um ihrer selbst willen erklang.

      Der Streitlärm, das aufhetzende Gelächter und Gespotte am langen Tisch wurde,


Скачать книгу