Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
Читать онлайн книгу.die von dieser schauderhaften Wirklichkeit weit wegführt, hatte ihn selbst begehrlich danach gemacht. Vielleicht durfte er ein paar müßige Stunden lang die unerbittliche Welt und das unerbittliche Ich vergessen. Für heute war nichts mehr zu befürchten. Der Tag schritt vor. Die Beobachter sämtlicher Stände meldeten allstündlich: Nichts Neues im Tal. Eine Kundschafterpatrouille, die sich fast bis nach Yoghonoluk vorgewagt hatte, war heimgekehrt und berichtete, daß sie nirgends auch nur einen Saptieh zu Gesicht bekommen habe. Gabriel warf einen Blick auf den Titel des gelben Romans. Es war ein Buch von Charles Louis Philippe, das er gern hatte, obgleich er sich nur ganz undeutlich daran erinnerte. Gewiß aber gab es darin kleine Cafés mit Tischen und Stühlen auf der Straße. Breite Sonne lag auf staubigen Vorstadtboulevards. Ein winziger Hof mit einer Akazie und einem moosgrünen Kanalgitter in der Mitte. Und dieser elende Hof verrät einen frühlingshafteren Frühling als die gesamte Rhododendron-, Myrten-, Anemonen- und Narzissenpracht des Musa Dagh im März. Alte finstere Holztreppen, ausgetreten wie Muscheln. Hinab klappert ein unsichtbarer Frauenschritt ...
Als Gabriel das Buch öffnete, fiel ein viereckiges Briefchen heraus. Der kleine Stephan hatte es vor einigen Jahren geschrieben. Damals – es war ebenfalls im August – nahm Gabriel gerade an der großen Konferenz zwischen Jungtürken und Daschnakzagan in Paris teil, während sich Juliette mit dem Kinde zur Erholung in Montreux aufhielt. Auf jenem berühmten verbrüderungsfreudigen Kongreß wurde das einige Vorgehen der freiheitlichen Jugend beider Völker zur Erneuerung des Vaterlandes beschlossen. Die Folge dieses Treueschwures war es bekanntlich, daß sich Bagradian nebst einigen andern Idealisten in die Reserveoffiziers-Akademie einschreiben ließ, als die Kriegswolken sich über der Türkei zusammenzogen. Stephans Briefchen, das seit jenen Augusttagen unberührt in dem Pariser Roman von Charles Louis Philippe lag, wußte noch nichts von der ungeheuerlichen Zukunft. Es war mit der starren Kleinkinderschrift französischer Abc-Schützen in friedlicher Mühsamkeit geschrieben:
Mein lieber Papa! Wie geht es Dir? Wirst Du noch lange in Paris bleiben? Wann kommst Du zu uns? Mama und mir ist sehr bange nach Dir. Hier ist es sehr schön. Es grüßt und küßt Dich Dein dankbarer Sohn
Stephan
Gabriel saß auf dem Bett, in dem Gonzague Maris zu schlafen pflegte, und starrte auf die zittrigen Züge der Kinderschrift. Es war unfaßbar, daß jenes hübschgekleidete Kind, das in einem hellen Hotelzimmer auf Juliettens noch immer duftendem Leinenpapier die wohlerzogenen Zeilen gekritzelt hatte, mit dem herangewachsenen Wald- und Wüstenmenschen von vorhin eins sein sollte. Gabriel Bagradian, der jetzt an Stephans unruhige Tieraugen und an das kehlige Kauderwelsch des Bubenrudels dachte, ahnte gar nicht, daß mit ihm selbst eine ähnliche Verwandlung vor sich gegangen war. Sein Bewußtsein erfüllten jetzt die hundert aufsprießenden Kleinigkeiten jenes fernen Augusttages, die der Kinderbrief erweckt hatte. Und kein Blutgreuel, kein Martertod schien ihm herzzerreißender als dieses kleine Welkblatt eines Alltags, dem nichts mehr etwas anhaben konnte.
Nach dem Versuch, die ersten fünf Zeilen des Romans zu lesen, schloß Gabriel den Band. Er glaubte, daß er in diesem Leben seinen Geist kaum mehr auf ein Buch werde richten können. Ebensowenig vermöchten die schweren Hände eines Eisendrehers eine feine Schnitzerei zu verfertigen. Seufzend erhob er sich von Gonzagues Bett und strich die Decke zurecht. Da bemerkte er, daß Maris auf dem Fußende des Lagers seine frischgewaschene Wäsche peinlich genau bereitgelegt hatte. Nähzeug, Schere und Stopfwolle lagen daneben, denn der Grieche besserte seine schadhaften Hemden und Strümpfe selbst aus. Gabriel wußte nicht, warum ihn der Anblick dieser Wäsche an Abreise gemahnte. Er ging zu seinem Koffer und warf den Roman hinein. Stephans Kinderbrief aber steckte er in seine Tasche. Als er das Scheichzelt verließ, fiel ihm der Bahnhof von Montreux ein. Juliette und der kleine Stephan erwarteten ihn. Juliette hatte damals einen roten Sonnenschirm getragen.
Gabriel stand vor dem Zelteingang der Frauen Tomasian. Er fragte durch den Spalt hindurch, ob sein Besuch der Wöchnerin genehm sei. Mairik Antaram bat ihn herein. Seitdem sie die junge Mutter und den Säugling betreute, mied sie der Ansteckung wegen den Lazarettschuppen. Das leidenschaftlich kühne Gesicht der alten Frau glühte vor mütterlicher Teilnahme. Sie war immer in Bewegung, als koste sie die vielen Handgriffe des Dienstes, die Kind und Wöchnerin erfordern, wie ein ganz persönliches Glück aus, dessen sie nicht genug bekommen könne. Trotz Antarams rastloser Mühe schien das Kind gar nicht gedeihen zu wollen. Das winzige Gesichtchen war noch immer bräunlich und verhutzelt wie knapp nach der Geburt, Die Augen standen ohne Blick weit offen. Das Bedenklichste aber war, das Kind schrie fast niemals. Howsannah sah sehr verfallen aus. Doch es waren nicht nur die Folgen der schweren Geburt, die sich auf ihrem Antlitz zeigten, sondern ein krankhafter Ausdruck feindseliger Verstocktheit dazu. Von ihren Zügen war alle Jugend verschwunden und hatte lauernder Schärfe Platz gemacht. Als Gabriel an ihr Bett trat, entblößte die Pastorin die Brust ihres Kindes und deutete vorwurfsvoll auf das violette Feuermal, das auf der Herzseite schon bis zur Größe eines halben Medjidjehstückes gewachsen war:
»Immer größer wird es ...«, sagte sie in sonderbar feierlichem Ton wie die Prophetin einer himmlischen Strafe. Mairik Antaram aber schalt sie mit ungeduldiger Erbitterung:
»Sei glücklich, Pastorin, und danke Gott, daß der Junge das Zeichen auf der Brust und nicht im Gesichte trägt. Was willst du denn?«
Howsannah schloß böse die Augen, als sei sie es müde, ihr besseres Wissen immer wieder gegen leere Tröstungen behaupten zu müssen:
»Und warum trinkt er so schlecht? Und warum weint er nicht?«
Antaram beschäftigte sich damit, Windeln auf einem heißen Stein zu wärmen. Sie rief, ohne von ihrer Arbeit wegzuschauen:
»Warte noch zwei Tage bis zur Taufe! Manches Kind fängt erst nach der Taufe so recht zu plärren an.«
Howsannahs Gesicht krampfte sich abwehrend zusammen:
»Wenn wir ihn nur bis zur Taufe bringen ...«
Die Doktorsfrau wurde sehr zornig:
»Du bist ein Quälgeist für dich und andre, Pastorin. Wer weiß denn hier auf dem Damlajik, was in zwei Tagen sein wird, Taufe oder Tod? Nicht einmal Bagradian Effendi weiß es, ob wir in zwei Tagen noch leben werden.«
»Wenn wir aber leben«, lächelte Gabriel, »so wollen wir hier vor den Zelten zu Ehren des Täuflings und seiner Mutter eine kleine Feier veranstalten. Ich habe schon deswegen mit dem Pastor gesprochen. Nennen Sie die Leute, Frau Tomasian, die Sie dabeihaben möchten!«
Howsannah Tomasian lag abweisend da:
»Ich bin nicht von hier. Ich habe keine Bekannten ...«
Iskuhi, die auf ihrem Bett saß, hatte den Gast die ganze Zeit über still angesehen. Und auch Gabriels Blick kehrte immer wieder zu ihr zurück. Er hatte den Eindruck, als sei Iskuhi noch viel mitgenommener und hilfsbedürftiger als die Wöchnerin, die zu seltsamer Feindseligkeit noch die Kraft aufbrachte und im übrigen die umhegte Wichtigkeit ihres Zustandes auskosten durfte. Die junge Schwägerin aber saß wie eine Gefangene in dem Zelt. Gabriels Blick umschmiegte sie:
»Haben Sie Lust, Iskuhi Tomasian, mich ein Stück zu begleiten? Meine Frau ist nämlich verschwunden. Ich will sie suchen gehen.«
Iskuhi sah Howsannah fragend an. Diese aber forderte das Mädchen mit weinerlicher Stimme und gekränkter Übertriebenheit auf, Bagradian Effendi zu begleiten.
»Aber natürlich, Iskuhi, geh nur! Ich brauche dich nicht. Beim Umlegen kannst du ja doch nicht helfen. Es wird dir wohltun.«
Iskuhi zögerte, weil sie die Heimtücke in Howsannahs Worten spürte. Da aber legte sich Mairik Antaram ins Mittel:
»Schau, daß du weiterkommst, Sirelis, mein Liebchen! Und laß dich ja vor dem Abend nicht blicken! Das ist hier kein Leben für dich.«
Vor dem Zelte erkundigte sich Gabriel Bagradian verwundert:
»Was ist denn mit Ihrer Schwägerin geschehen, Iskuhi?«
Sie blieb einen Augenblick stehen und sah an ihm vorbei:
»Das Kind ist sehr elend. Howsannah fürchtet, daß es sterben wird.«
Dann