Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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sich, wie er wähnte, in Gewissensqualen wand. Er wollte ihr helfen:

      »Nimm es nicht zu schwer, Juliette! Sieh doch nur deine Rettung in dem Ganzen! Wenn du es willst, werde ich bei dir sein, wenn du es nicht willst, nicht ...«

      In diesem Augenblick sah sie den kranken jungen Deserteur vor sich, über dessen grindige rotübersprenkelte Brust sie sich vor einigen Tagen in verzweifelter Exaltation gebeugt hatte. Dann aber wollte sie ihre Mutter besuchen. Diese wohnte im Hotel. Ein langer Gang mit Hunderten von Türen. Juliette kannte die richtige nicht ... Gonzagues Stimme war lieb und zärtlich jetzt. Sie tat ihr wohl: »Ich werde bei dir sein.«

      »Wirst du bei mir sein? ... Bist du jetzt bei mir? ...«

      Er lenkte mit Freundlichkeit ins sachliche Gebiet hinüber:

      »Hör gut zu, Juliette! Ich werde heute nacht hier auf dich warten. Doch du mußt um zehn Uhr bereit sein. Solltest du mich vorher brauchen, sollte Bagradian mit mir sprechen wollen, ich nehme das an, so schicke jemanden um mich. Ich werde dir helfen. Du kannst ruhig eine große Reisetasche mitnehmen. Ich werde sie schon tragen. Wähl deine Sachen klug aus! In Beirut bekommst du übrigens alles, was dir fehlt.«

      Sie hatte sich bemüht, ihn zu verstehen. Wie ein Kind sagte sie das Gehörte auf:

      »Heute nacht um zehn ... Ich bringe eine Reisetasche ... In Beirut bekommt man alles ... Und du? ... Wie lange wirst du bei mir sein? ...«

      Ihre wirren Reden in dieser entscheidenden Stunde erschöpften seine Ruhe:

      »Juliette, ich hasse Worte wie ›immer‹ und ›ewig‹.«

      Sie sah ihn begeistert an. Ihr Gesicht glühte. Der halbgeöffnete Mund wölbte sich vor. Ihr war, als sei sie jetzt durch die richtige Tür getreten. Gonzague saß am Klavier und spielte für sie die Matchiche in jener Nacht, ehe die Saptiehs kamen. Da hatte er es selbst gesagt: »Es gibt nur den Augenblick.« Eine tiefe Heiterkeit überströmte sie:

      »Nein, sag nicht ›immer‹ und ›ewig‹! Denk an den Augenblick ...!«

      Jetzt verstand sie in einer unbeschreiblichen Überdeutlichkeit, daß es nur den Augenblick gab, daß die Nacht, das Dampfschiff, die Reisetasche, Beirut, der Entschluß nicht die geringste Bedeutung mehr für sie hatten, daß eine uneinnehmbare Einsamkeit ihrer wartete, in die weder Gonzague noch Gabriel eindringen konnten, eine Einsamkeit voll Heimkehr, in der alles erledigt war. Dieses Glück durchdrang sie mit strömender Kraft. Gonzague sah mit Erstaunen nicht mehr die verstörte, in die Enge getriebene Frau, sondern die Herrin von Yoghonoluk wieder, und schöner noch als damals. Die begehrte Frucht, auf deren Reifen er mit Geduld und Todesverachtung gewartet hatte, war ihm neuer und näher als je. Er nahm Juliette in die Arme wie zum erstenmal. Ihr Kopf taumelte sonderbar von der einen auf die andre Schulter. Er achtete dessen nicht. Und auch die sinnlosen Worte, die sie in traumhafter Leidenschaft zu stammeln schien, gingen an seinem Ohr vorbei.

      Bevor die Männer in ihren Gesichtskreis traten, wußte Sato noch nicht, was geschehen würde. Sie bewachte, in einiger Entfernung den Ehebruch, war aber zu traurig und verdüstert, um sich zwischen die Büsche zu legen und das Paar zu beobachten. Ja, wenn sie die prickelnde Entdeckung wenigstens hätte ausschroten können! Wie wäre die alte Nunik hochbefriedigt und ihr zu Dank und Lohn verpflichtet gewesen dafür! Sato aber war gefangen. Sato durfte nicht mehr gewinnbringende Botschaft von Berg zu Tal, von Tal zu Berg tragen. Um so brennender aber bohrte in ihr das einzige zusammenhängende Gefühl, das sie besaß, Eifersucht. Iskuhi von dem Effendi trennen! Dem Effendi etwas antun! Sie lag auf der Erde, die Knie hochgezogen, und starrte in den rauchverschleierten Himmel.

      Es geschah aber, daß sich ein paar Männer dem Orte langsam näherten. Sato erkannte die Häupter des Führerrates: Ter Haigasun, Bagradian Effendi, Pastor Aram, dahinter Lehrer Oskanian mit dem Muchtar Thomas Kebussjan und dem Dorfältesten von Bitias. Die Gewählten hatten eine kurze, aber sehr ernste Beratung abgehalten und schienen äußerst bedrückt. Sie hatten auch allen Grund zur Beängstigung. Die Lebensmittel, das heißt die Herden, verringerten sich nicht in vorgesehener Weise, sondern nach den unbekannten Gesetzen einer wilden Progression, die sich steigerte, je mehr der Bestand abnahm. Man drosselte immer wieder die Tagesration, ohne den Verfall, der mit dem schlechten Futter zusammenhing, aufhalten zu können. So sehr Aram Tomasian auch dahinter war, die Zurüstungen für den Fischfang kamen zu keinem Ende. Die Ernährungslage sah böse aus. Auch die ansteckende Fieberkrankheit nahm besorgniserregende Formen an. Allein am gestrigen Tage waren im Epidemiewäldchen vier Kranke gestorben. Bedros Hekim konnte sich auf seinen schwachen und alterskrummen Beinen kaum mehr schleppen. Im und um den Lazarettschuppen lagen mehr als fünfzig Verwundete und mindestens ebenso viele in den Laubhütten, alle ohne zureichende Verbände, ohne rechte Arznei, Gott und sich selbst überlassen. Das Bedenklichste jedoch war die brenzlige Verdrossenheit, die sich als unerwartete Folge des Sieges der Menschen bemächtigt hatte. Sie wurde durch die grauenhafte Hitze des Waldbrandes, durch den Rauchschnupfen, durch die schwere Übermüdung, durch die kärgliche und abwechslungslose Fleischkost wohl gefördert, hatte aber ihre tiefste Ursache in der allgemeinen Unerträglichkeit dieses Lebens. In den letzten zwei Tagen war es, abgesehen von dem Vorfall mit Sarkis Kilikian, zu zahlreichen Raufhändeln, darunter sogar zu Messerstechereien gekommen. All diese Gründe zusammen bewogen die Verantwortlichen heute, ihr Augenmerk der Meerseite des Damlajik schärfer zuzuwenden als bisher. Man weiß, daß auf der Schüsselterrasse, die sich ganz außerhalb der Ereignisse befand, die große Fahne »Christen in Not« flatterte. Zwei Späher der Jugendkohorte übten dort das Amt, die See nach Schiffen abzusuchen. Es schien immerhin möglich, daß irgendwelche unzuverlässige Burschen ein oder sogar mehrere Fahrzeuge übersehen hatten, denn bisher war noch nicht einmal ein Fischkutter gemeldet worden, und das im August, zu einer Zeit, wo sonst die Bucht von Suedja von derartigen Barken wimmelt. Ließ Gott wirklich das Meer völlig aussterben, nur damit den Armeniern des Musa Dagh die allerleiseste Lebenshoffnung entzogen werde? Der Führerrat hatte beschlossen, den Wachdienst der Seeseite zu verstärken und neu zu ordnen. Den Posten auf der Schüsselterrasse hatten nunmehr erwachsene Männer zu beziehen. Ferner sollte auf einem weiter südlich gelegenen kapartigen Punkt eine zweite Beobachtungsstation errichtet werden. Um den geeignetsten dieser Punkte persönlich ausfindig zu machen, waren die Gewählten aufgebrochen.

      Der weiche kurzrasige Höhenboden verschluckte selbst für Satos Ohren den Tritt der schweigenden Männer. Als sie sich zur Seite wälzte, waren sie schon sehr nahe. Sato huschte auf – irgend etwas fuhr in sie – und begann den Kommenden entgegen lebhaft fuchtelnde Zeichen zu machen. Die Männer achteten ihrer vorerst nicht. Es war immer dasselbe. Tauchte Sato irgendwo auf, wurden alle Blicke sofort abweisend und wandten sich mit einem schamvollen und strengen Ekel von dem Geschöpf ab. Das Gefühl für die »Unberührbarkeit«, das Pariatum Satos war in jedermann vorhanden, obwohl ja für den Christen alle Kreaturen der Geburt nach vor Gott den gleichen Rang haben. Auch jetzt gingen die sorgenernsten Männer, der fuchtelnden Närrin scheinbar nicht achthabend, an ihr ruhig vorbei. Der letzte in der Schar aber, Muchtar Thomas Kebussjan, blieb plötzlich stehn und drehte sich nach Sato um. Dieses Überwundensein wirkte auf die anderen so stark, daß auch sie stehenblieben und mit bösen Augen die Zeichengeberin musterten. Dies also hatte Satos Kraft zunächst erreicht. Immer gebannter betrachteten die Führer das garstige Ding, das sich wahrhaftig wie eine Besessene unter einem unreinen Einfluß zu winden schien. Satos Augen zwinkerten, die dünnen Beine unter dem einst so artigen Röckchen zuckten, der verzogene Mund, wie ihn sonst nur Taubstumme haben, würgte an einem Lautklotz, die rudernden Hände wiesen immer in die Richtung der Blumenbüsche und des Meeres. Die Suggestion, die von ihrem Gehaben ausging, entkräftete nach und nach den Widerstand der Männer. Sie traten näher an Sato heran, und Ter Haigasun fragte sie unwillig, was es hier gebe und was sie zu berichten habe. Ihr gelbliches Zigeunergesicht verzerrte sich. Sie zwinkerte verzweifelt, als sei es ihr unmöglich zu antworten. Um so heftiger aber wiederholte sie ihre eifrigen Hinweise in die Richtung des Meeres. Die Männer sahen einander an. Ihnen allen ging gleichzeitig ein und derselbe Gedanke fragend durch den Kopf: Ein Kriegsschiff? So wenig man auch mit diesem aufgelesenen Bankert zu tun haben wollte, jeder auf dem Damlajik wußte, daß Sato eine unübertreffliche Ausspäherin war. Vielleicht hatten ihre widerlichen Luchsaugen über dem fernsten Meereshorizont die Ahnung einer Rauchfahne entdeckt, die niemand sonst sehen konnte.


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