Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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den großen Nebenbuhler. Die Gegenwart so vieler würdiger Personen dämpfte seine dreiste Gereiztheit um keinen Hauch. Er sah immer seinen Vater an:

      »Haik ist nur um drei Monate älter als ich. Er spricht nicht einmal französisch. Mr. Jackson wird ihn nicht verstehn. Und was Haik kann, das kann ich auch.«

      Jetzt riß Gabriel Bagradian die Geduld. Er machte einen heftigen Schritt auf Stephan zu:

      »Was kannst du? Nichts kannst du! Ein verweichlichter Europäer, ein verzogenes Großstadtkind bist du. Dich fängt man wie eine blinde Katze. Fort mit dir jetzt! Geh zu deiner Mutter! Hier will ich dich nicht länger sehen, sonst ...«

      Diese Worte einer harten Züchtigung waren recht unweise. Sie trafen Stephan an der verwundbarsten Stelle. Von seiner mühsam erkämpften Höhe schleuderten sie ihn vor aller Öffentlichkeit herab. Nun waren all seine Taten vergeblich getan, der Bibelraub für Iskuhi und das Heldenstück mit den Geschützen, das ihm beinahe den Ehrentitel »Elleon« eingetragen hätte. Blitzhaft lernte Stephan verstehen, daß keine Tat für die Ewigkeit getan ist, daß in allem Ruhm rachsüchtige Untreue steckt und daß man immer wieder von vorne anfangen muß. Er wurde plötzlich ganz still. Seine gebräunte Haut rötete sich immer dunkler. Er sah Iskuhi mit riesigen Augen an, als entdecke er sie erst jetzt. Es schien ihm, daß sie seinen Blick streng und unfreundlich abweise. Iskuhi als feindselige Zeugin seiner Niederlage, das war zuviel. Unversehens plärrte Stephan los, nicht wie ein beinahe erwachsener Mensch, nicht wie ein Meisterschütze, nicht wie der Eroberer feindlicher Geschütze, sondern wie ein kleiner Junge, dem Unrecht geschieht. Dieses schluchzende Kinderweinen aber löste in der Umgebung durchaus kein Mitgefühl aus, sondern ganz im Gegenteil Schadenfreude. Es war eine ziemlich zusammengesetzte Schadenfreude, die nicht nur Stephans Kameraden, sondern auch die Großen empfanden, und sie galt nicht nur dem Bagradiansohn, sondern aus dunklen Ursachen auch Gabriel Bagradian selbst. Das Grundverhältnis von Menschen untereinander verändert sich fast nie. Dieses Grundverhältnis zwischen den Bagradians und dem ansässigen Volke drückte sich aber, trotz aller Siege, aller Bewunderung, Dankbarkeit, Verehrung, noch immer zutiefst in dem Gefühle aus: Ihr gehört nicht zu uns. Die Gelegenheit für dieses Gefühl mußte nur auftauchen, wie eben jetzt. Stephan unterdrückte sein heulendes Elend sogleich. Aber die kurze Äußerung seines Schmerzes hatte genügt, unter seinen Kameraden in der Haik-Bande sowie in den übrigen Gruppen der Jugendkohorte reichlichen Hohn zu erregen. Spottworte sausten. Selbst der einbeinige Hagop lachte nachdrücklich und auffällig. Nur Haik selbst stand ernst in sich versunken, als gehe ihn dieser Zwischenfall nichts an und reize nicht einmal seine Heiterkeit. Stephan hatte keine andere Wahl, als mit verräterisch zuckenden Schultern gemächlich davonzuschlendern, seine Schmach gleichmütig im Rücken lassend. Gabriel Bagradian sah seinem Sohne stumm nach. Der Ärger war ganz und gar verflogen. Die Erinnerung an den alten Brief des Knaben aus Montreux verstörte ihn. Stephan, hübsch gekleidet, den Kopf nach Kinderart schief übers Papier gebeugt, malt mit großen Buchstaben. Und wieder war es das herzzerreißende Bewußtsein der abgelebten Nebensachen, das ihn ergriff. Er dachte, Stephan ist schon groß, er wird im November vierzehn Jahre alt. Sofort aber bestürzten ihn Begriffe wie »wird« und »November« als fratzenhafte Utopien. Eine kalte Ahnung huschte vorbei: Irgend etwas ist nicht mehr zu verhindern. Gabriel Bagradian begab sich nach dem Dreizeltplatz, um noch einmal mit seinem Sohn zu sprechen. Doch weder Stephan noch auch Juliette waren daheim anzutreffen. Im Scheichzelt wechselte Gabriel die Wäsche. Dabei bemerkte er, daß eine der Münzen fehlte, die er vom Agha Rifaat Bereket zum Geschenk erhalten hatte. Es war die goldene mit dem stark vorspringenden Kopf Aschot Bagratunis, des großen Armenierkönigs. Er drehte die Taschen all seiner Kleidungsstücke um und um. Die goldene Münze fand sich nicht.

      Es geschah zum Unheil, daß die Landnahme durch Türken und Araber dem vagabundierenden Doppelleben Satos ein Ende setzte. Als sie sich das letztemal hinabgewagt hatte, wäre es ihr beinahe an den Kragen gegangen, denn auch unten im Tale hatten sich Horden muselmanischer Halbwüchsiger gebildet, die beim Anblick dieses scheuen Wildes sofort zur Jagd riefen. Jetzt aber verlegte ihr der große Bergbrand die gewohnten Dämmerpfade und Schlupflöcher. Sato blieb leider nichts übrig, als sich mit der Hochfläche des Damlajik und mit einigen Schrunden und Rinnen seiner Steilseite zu begnügen. Doch das ausgeleierte Gelände des Lagerkreises, all diese vertretenen Steige, Pfade, Hohlwege, die langweiligen Kuppen und Wellen von der Südbastion über die Stadtmulde bis zum Nordsattel, wie hätten sie die verkörperte Unrast befriedigen können, die Sato in Person war? Dazu stand sie mit der Dorfjugend schlechter denn je. Ter Haigasun hatte vor einigen Tagen trotz des Widerstrebens der Lehrer angeordnet, daß wieder Schule gehalten werden müsse. Doch jetzt gelang es nicht einmal dem schärfsten aller Schultyrannen, Hrand Oskanian, die gewohnte Totenstille während des Unterrichts durchzusetzen, wenn Sato unter den Kindern saß. »Stinkerin, Stinkerin«, heulte der grause Chor, sobald die Vagabundin auf dem Schulplatz erschien. Es liegt unausrottbar im Wesen des Menschen, daß er seinen ewig erbosten Geltungsdrang auf Kosten der Niedriger-, Ärmer-, Mißgeborenen, ja auch nur der Fremdbürtigen erbarmungslos steigert, wie und wo er kann. Diese Sucht, zu erniedrigen, und der rachgierige Rückschlag, den sie auslöst, sind sehr bedeutende Hebel der Weltgeschichte, die von dem zerschlissenen Mantel der politischen Ideale nur kärglich bedeckt werden. Auch hier oben, auf der letzten Zufluchtstätte der Verfolgten, gab die zugewanderte elternlose Sato dem Kindervolk den erwünschten Anlaß, sich selbst erhaben und wohlgeboren zu fühlen. Während einer Schulstunde, die wieder einmal Iskuhi abhielt, nahm das Hohngeheul so erschreckend überhand, daß die Lehrerin selbst, ohne ihren eigenen Abscheu zu verbergen, die Verhaßte fortschickte:

      »Geh, Sato, und laß dich bitte nie wieder blicken.«

      Mit zähem Gleichmut, der nichts von Ehre und Schande wußte, hatte sich Sato immer gegen die ganze Horde behauptet. Nun aber, da ihr bewundertes Fräulein, ihre Kütschük Hanum, selbst zum Feinde überging und sie vertrieb, mußte Sato gehorchen. In ihrem europäischen Hängekleidchen mit den Schmetterlingsärmeln, das zerfetzt und schmutzstarrend ihr ein groteskes Ansehen gab, hatschte sie langsam von dannen. Doch sie ging nur bis zum nächsten Gebüsch, dahinter sie sich still auf die Lauer legte, dem Schakal gleich, der ein Karawanenlager mit hungrigen Augen verschlingt.

      Sato war nicht so arm wie es schien. Auch sie hatte eine unabhängige Welt. Sie verstand zum Beispiel die Tiere gut, denen sie auf ihren Streifzügen begegnete. Iskuhi und andere hätten wohl darauf geschworen, daß Sato eine grausame Tierquälerin sei. Für diese Annahme sprach alles. Und doch war gerade das Gegenteil wahr. Das Bastardgeschöpf ließ seinen Haß und seine Schadensucht keineswegs an den Tieren aus, sondern behandelte sie mit Behutsamkeit und flüsterndem Einverständnis. Sie nahm mit unempfindlicher Hand den gerollten Igel vom Wege auf und wisperte so lange zu ihm, bis sich die Kugel löste, die spitze Schnauze entblößte und die flink geriebenen Äuglein eines kleinen Bazarhändlers sie rasch abschätzten. Sato, die nur wie mit einem Klotz im Munde reden konnte, hatte Kenntnis von allerlei Lockrufen und -tönen des Vogelsangs. Alle diese Eigenschaften, die ihr ein Ansehen verschafft hätten, verbarg sie aber geflissentlich, weil sie sich damit sozial zu schaden fürchtete. Wie mit den Tieren, so verstand sie es auch, mit den wahnsinnigen Weibern zu reden, die im Friedhofumkreis von Yoghonoluk hausten. Sie merkte es gar nicht, daß diese atem- und sinnlosen Plaudertaschen anders plapperten als vernünftige Weiberzungen sonst: Es war jedenfalls angenehm, an solchen Disputen teilzunehmen, die ein Mindestmaß von Mühe und Anstand der Sprache gegenüber erforderten. Die kleinen Tiere, die Närrinnen und etwa die blinden Bettler noch, das war das Reich, aus dem Sato jene Überlegenheitsgefühle bezog, die jedes Menschenwesen zum Leben braucht. Was freilich Nunik, Wartuk und Manuschak anbelangt, war sie die Dienende und Ehrfürchtige. Durch die Entwicklung der Dinge aber war die Gemeinschaft zerrissen. Die Streifzüge in dem Geviert der Verteidigung blieben ergebnislos und langweilig. Die Jugendlichen stießen sie unerbittlich aus ihren Reihen. Ihre beschäftigungslose Unruhe wurde nach und nach auf ein anderes Gebiet gelenkt. Ausspionieren der Erwachsenen! Mit feinster Witterung, die aller unerlernbaren Schullehre spottete, erkannte sie, was in diesen Erwachsenen aufgelöst, tierhaft, bettelgierig, suchtvoll und verrückt war. Sie hörte das Gras jener gefährlichen Gefühle wachsen, von deren Bestand in der Welt sie kaum eine Ahnung hatte. Wo etwas nicht in Ordnung war, zog sie, ohne daß sie es wußte, der lüsterne Spionenmagnet hin.

      Es kann somit nicht wundernehmen, daß Sato sehr bald an Gonzague


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