Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
Читать онлайн книгу.hatte Lepsius zu trösten versucht. Eine entsagungsschmerzliche Handbewegung aber schnitt ihm das Wort ab. »Wir haben heute in Erfahrung gebracht, daß nach Zeitun, Aïntab, Marasch usw. nun auch die Deportation über die ostanatolischen Vilajets verhängt ist. Außer dem Westen von Kleinasien bleibt also bisher nur Aleppo und der Küstenstrich von Alexandrette verschont. Sie wissen besser als jeder andere, daß die Deportation ein verschärfter und in die Länge gezogener Foltertod ist. Von den Bewohnern Zeituns soll niemand mehr am Leben sein.« Die Augen des Patriarchen hatten Johannes Lepsius jeden Einspruch verboten: »Lassen Sie das Unmögliche bleiben und konzentrieren Sie sich auf das Mögliche! Vielleicht gelingt es Ihnen, ich glaube es nicht, einen Aufschub für Aleppo und den Küstenstrich zu erwirken. Jeder Tag ist ein Gewinn. Pochen Sie auf die deutsche Öffentlichkeit und die Zeitungen, die von Ihnen unterrichtet werden. Vermeiden Sie vor allem eins: Moralisieren Sie nicht! Das lockt diesem Menschen nur Hohn hervor! Bleiben Sie bei den politischen Tatsachen! Drohen Sie mit der Wirtschaft, das verfängt am ehesten. – Und jetzt empfangen Sie meinen Segen, lieber Sohn, für Ihr edles Werk! Christus sei mit Ihnen!« Lepsius hatte den Kopf gebeugt, der Patriarch aber schrieb ein großes Kreuz über seine ganze Brust.
Nun aber sitzt er da, in der schwerfälligen Barke auf den Wellen des Goldenen Horns treibend, der Schiffer stößt seine Ruder ungerührt bedachtsam ins Wasser, und als sie endlich anlegen, sind mehr als zwanzig Minuten vergangen. Mit dem ersten Blick sieht Johannes Lepsius, daß auf dem Standplatz nicht eine Araba wartet. Er lacht verzerrt vor sich hin, denn hinter dieser ausgesuchten Reihe raffinierter Hindernisse verbirgt sich mehr als Zufall. Gegnerische Mächte werfen ihm Prügel zwischen die Beine, weil er sich in die armenische Sache mengt, die wohl ihren ungehemmten Lauf nehmen soll. Er schaut sich auch nach keiner Droschke mehr um, sondern beginnt, so groß, alt und auffallend er auch ist, zu laufen. Damit kommt er nicht weit. Die Plätze und Gassen des alten Stambuls sind von einer gewaltigen, festfeiernden Menge erfüllt. Unter den beflaggten Häusern, an buntgeschmückten Läden und Cafés vorbei, schieben und stoßen sich Tausende mit Fez oder Tarbusch, schreiende fanatisierte Gesichter. Was ist geschehen? Hat man an den Dardanellen die Alliierten vertrieben? Lepsius denkt an das ferne Geschützfeuer, das er in der Nacht so oft hört. Die schweren Geschütze der englischen Flotte begehren pochenden Einlaß nach Konstantinopel. Und er erinnert sich, daß heute irgendein Gedenktag der jungtürkischen Revolution gefeiert wird. Vielleicht ist es das Erinnerungsfest des Tages, an dem das Komitee seine politischen Feinde durch Mord aus dem Weg räumte, um endgültig die Macht zu ergreifen? Gleichviel, welcher Gedenktag auch gefeiert werden mag, die Menge tobt und brüllt. Vor einem Geschäftshaus eine dicke Stauung! Junge Leute steigen auf bereitwillige Schultern, erklettern das Gesimse, und in der nächsten Minute poltert eine große Firmentafel zur Erde. Lepsius, der in den Menschenknäuel geraten ist, fragt einen Nachbarn, der keinen Fez trägt, nach dem Sinn dieser Geschehnisse. Es werden keine fremden Aufschriften mehr geduldet, hört er, die Türkei den Türken, alle Wegweiser, Straßen- und Geschäftstafeln dürfen nur mehr einsprachig türkisch sein! Und der Nachbar (wahrscheinlich ein Grieche oder Levantiner) lacht boshaft: »Da haben sie aber diesmal unsere Verbündeten demoliert. Es ist ein deutsches Geschäft.«
In langer Reihe drängen sich die aufgehaltenen Straßenbahnzüge hintereinander. Es ist eigentlich gleichgültig, denkt Lepsius, wann ich hinkomme, die Sache ist verloren. Dennoch aber nimmt er einen Anlauf und zerteilt mit rücksichtslosen Stößen die Menge. Noch eine Seitengasse, dann öffnet sich der Platz vor ihm. Das große Palais des Seraskeriats. Hoch ragt der Turm Mahmuts des Zweiten. Jetzt läßt sich der Pastor Zeit. Er beginnt langsam zu gehn, um die Löwenhöhle nicht atemlos zu betreten. Als er, durch endlose Treppen und Gänge zermürbt, seine Karte im Büro des Kriegsministeriums abgibt, erhält er von einem eleganten, überaus freundlichen Ordonnanzoffizier den Bescheid, Exzellenz Enver Pascha bedaure lebhaft, daß es ihm unmöglich war, länger zu warten, er bitte aber den Herrn, ihn im Ministerium des Innern im Serail mit seinem Besuch zu beehren.
Johannes Lepsius hat jetzt einen noch weit längeren Weg zurückzulegen als vorher. Aber diesmal ist die Verhexung völlig gebrochen, die Dämonen haben sich eines anderen besonnen, sie drängen ihm gewissermaßen die Bequemlichkeit auf. Vor dem Tor wartet ein eben frei gewordener Wagen, der Kutscher ist auf gute Fahrt bedacht, er vermeidet die volkreichen Stätten und in zauberhaft kurzer Zeit erreicht der Kämpfer, völlig ausgeruht und von einer ihm selbst unbegreiflichen Zuversicht durchströmt, die stille Welt des Serails, um alsbald mit Donnerhufen auf dem alten Katzenkopfpflaster dem Ministerium entgegenzurollen. Hier ist er erwartet. Ehe er noch die Karte zückt, empfängt ihn ein Beamter mit der Frage: »Dr. Lepsius?« Welch günstige Vorbedeutung! Wieder Treppen und ein langer Gang. Diesmal aber glaubt er, von guten Ahnungen getragen, leichtfüßig dahinzuschweben. Das stille Ministerium des Innern, Talaat Beys Festung, macht einen angenehm verträumten Eindruck auf ihn. Märchenhaft beinahe wirken die Amtszimmer, die keine Türen haben, sondern nur von sich blähenden Vorhängen abgeschlossen sind. Auch dies beruhigt ihn, er weiß nicht warum, als gute Vordeutung. Er wird am Ende des Ganges in ein besonderes Appartement geführt. Es ist das Hauptquartier Enver Paschas im Ministerium des Innern. In diesen beiden Räumen hier sind gewiß die Würfel über das armenische Schicksal geworfen worden. Ein größeres Zimmer, dem Anschein nach ein Warte- und Sitzungssaal, und daneben ein Kabinett mit einem großen leeren Schreibtisch. Der Vorhang zu diesem Kabinett ist zurückgeschlagen. Lepsius bemerkt an der Wand über dem Schreibtisch drei Bilder. Rechts Napoleon, links Friedrich der Große, und dazwischen die vergrößerte Photographie eines türkischen Generals, ohne Zweifel Enver Pascha, der neue Kriegsgott.
Der Wartende setzt sich ans Fenster. Sein Auge saugt, über den Kneifer hinweg, Ruhe aus dem schönen Bild des Verfalls, aus Kuppelsturz und Marmorbruch, von Pinien beschirmt. Dahinter der Bosporus mit spielzeughaft dahinschiebenden Dampferchen. Der kurzsichtige, blau in die Ferne gerichtete Blick des Pastors, der kindliche Mund, der sich aus dem sanften, grauen Bärtchen hervorwölbt, die strengen Wangen, die noch von Eile und Not gerötet sind, all dies bildet einen Ausdruck von Leiden und von Schwärmerei, die gegen sich selbst unerbittlich ist. Ein Diener bringt eine Kupferkanne mit Kaffee. Lepsius genießt gierig drei, vier Schalen hintereinander. Durch diesen Kaffee wird ihm ein Vorsprung gegeben, seine Nerven spannen sich, die Adern treiben frischer das Blut zum Kopf. Als Enver Pascha eintritt, hat Lepsius gerade die letzte Tasse geleert.
Johannes Lepsius hat sich schon in Berlin Enver Pascha genau beschreiben lassen, dennoch ist er sehr überrascht, daß der türkische Mars, einer von den sieben oder neun Herren über Leben und Tod der Welt, so klein gewachsen und unansehnlich ist. Er begreift sofort Napoleons und Friedrichs Bilder. Heroen von 1,60 Körpermaß, geniale Gernegroßen, die ihren Erfolg gegen körperliches Zukurzgeratensein durchgesetzt haben. Lepsius möchte wetten, daß Enver Pascha hohe Absätze trägt. Die Persianerkappe, die er nicht ablegt, geht jedenfalls über die Höhe der Adjustierungsvorschrift hinaus. Die goldverschnürte Marschalls- (oder Phantasie-) Uniform ist wundervoll in die Taille geschnitten, hebt durch ihren straffen, knappen Sitz die Gestalt und verleiht ihr im Bunde mit zwei blitzenden Reihen von Orden etwas Leichtsinnig-Jugendliches und Zierlich-Wagemutiges. ›Zigeunerbaron‹, denkt Lepsius und kann sich, während sein Herz immer schneller klopft, eines energischen Walzers aus fernen Jugendtagen nicht erwehren:
Dies und noch mehr
Kann ich auf Ehr ...
Die Textworte aber, die ihn im Hinblick auf die strahlende Uniform anwandeln, stehen ganz und gar im Widerspruch zu Wesen und Anblick des jungen Generalissimus. Enver Pascha hat einen verlegenen, ja manchmal schüchternen Gesichtsausdruck und einen Augenaufschlag wie ein Mädchen. Mit seinen schmalen Hüften und abfallenden Schultern bewegt er sich fein und anmutig. Lepsius kommt sich plump vor. Der erste Angriff, den der Feind gegen ihn führt, besteht in einer jähen Sympathie mit seiner tänzerischen Erscheinung, die er in dem Besucher zu erwecken weiß. Nach den Begrüßungsworten führt er ihn nicht in das anstoßende Kabinett, sondern bittet ihn, Platz zu behalten, und rückt sich sofort einen Stuhl von dem Sitzungstisch zum Fenster, ohne auf die Lichtverteilung zu achten, die für ihn ungünstig ist.
Johannes Lepsius eröffnet das Gespräch (so hat er sich's in seinem Kampfprogramm zurechtgelegt) mit dem Gruß einer deutschen Verehrerin, den er dem General überbringt. Dieser lächelt mit dem ihm eigenen verlegenen Reiz und bekennt mit einem angenehmen Tenor, der die Harmonie seiner Erscheinung