Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
Читать онлайн книгу.mitgemacht hatte, zu seiner Geltung. Zwar mit Frauengewändern geht es wie mit dem Sommerlaub; sie verwelken im Herbst der Mode, mögen Stoff und Seide noch so gut und köstlich sein. Juliette wußte nichts mehr von den Fortschritten der Mode in Paris. So erfand sie denn eine eigene, »nur nach dem Gefühl«, und begann für sich und Iskuhi ihren Kleiderschatz umzuschneidern und zu verändern. Diese leidenschaftlich geübte Nachmittagsarbeit löste die Vormittagsarbeit im Haus und Garten auf das sinnvollste ab. Juliette hatte wirklich kaum Gelegenheit, zu sich zu kommen. Die Modewerkstätte wurde in einem der leeren Zimmer aufgeschlagen. Zwei geschickte Mädchen aus Yoghonoluk wählte die Herrin als Gehilfinnen aus. In den Dörfern sprach sich die Sache herum. Jeden Augenblick erschienen Frauen und boten alte und neue Seiden- und Spitzengewebe zum Kaufe an. Juliette erwarb einen Vorrat, mit dem sie den gesamten Frauenflor eines Ballfestes hätte gewanden können. Die Stunden gingen hin. Fruchtbar an zauberhaften Eingebungen wie sie war, warf sie, ohne die »Vogue« zum Vorbild zu haben, ihre Entwürfe aufs Papier. Manches davon wurde in Taten umgesetzt. Der Zweck spielte keine Rolle. Die arme Iskuhi freilich konnte bei der Arbeit nur zuschauen. Dagegen bot sie für Juliettens Künste eine märchenzarte Modellträgerin. Besonders anmutig standen ihr matte Farben. Immer wieder mußte sie dieses und jenes probieren, das Haar lösen, das Haar aufstecken, sich drehen und wenden. Sie tat es gar nicht ungern. Ihre durch das Schicksal von Zeitun verschüttete Lebenslust begann sich zu regen und die Wangen leicht zu färben.
»Du bist wirklich eine Heuchlerin, ma petite«, gestand Juliette. »Man könnte meinen, du hättest nie etwas anderes getragen als eure Kittel und womöglich noch einen türkischen Schleier vor dem Gesicht. Dann aber ziehst du meine Kleider an und bewegst dich in ihnen, als würdest du dein Lebtag nur an Putz denken. Nicht ungestraft hast du in Lausanne die französische Kultur gerochen.«
Eines Abends verlangte Juliette von ihr, sie möge eine der »großen«, eine der ausgeschnittenen und ärmellosen Roben anlegen. Iskuhis Gesicht verdunkelte sich:
»Aber das ist doch unmöglich. Ich kann es ja nicht mit meinem Arm.«
Juliette warf einen bekümmerten Blick auf sie:
»Das ist wahr! … Aber wie lange wird die Geschichte noch dauern? Zwei, drei Monate. Dann sind wir wieder in Europa. Und dich, Iskuhi, nehme ich mit. Darauf gebe ich dir mein Wort. In Paris und in der Schweiz gibt es einige Anstalten, die solche Leiden heilen.«
Fast zur gleichen Stunde, in der Gabriel Bagradians Gattin solche kühne Hoffnungen hegte, kamen die ersten verschmachteten Züge der Ausgestoßenen in Deir es Zor am Rande der mesopotamischen Küste ans Ziel.
Nicht immer war Iskuhi so scheu und schweigsam. Wenn die Schreckensbilder sich für längere Zeit entfernten, wenn das Kaleidoskop-Gesicht sie freigab, konnte sie plötzlich wieder lachen und mit Lust und Laune allerlei Spaßhaftes aus Zeitun erzählen. Daß sie aber eine Liederseele war, entdeckte erst Stephan, der sich seit neuerem am Nachmittag aus der Werkstätte der Frauen nicht fortrührte. Juliette hatte sich wieder einmal in ein Thema verbissen, das ihrem Mann schon manche trübe Stunde bereitet hatte. Merkwürdigerweise wurde sie durch Iskuhi, in Gabriels Stellvertretung, besonders dazu gereizt, über das armenische Volk abfällige Bemerkungen zu machen und ihm das Lichtmeer der gallischen Zivilisation entgegenzuhalten wie einem halbdunkeln Winkel:
»Ihr seid ein altes Volk«, eiferte sie, »gut! Ein Kulturvolk! Meinetwegen! Aber wodurch beweist ihr eigentlich, daß ihr ein Kulturvolk seid? Nun ja, ich weiß schon. Die Namen, die ich immer wieder hören muß: Abovian, Raffi, Samanto! Aber wer kennt diese Leute? Außer euch niemand auf der Welt. Eure Sprache kann ein europäischer Mensch nie begreifen und sprechen. Ihr habt keinen Racine und Voltaire gehabt. Und ihr habt keinen Catulle Mendès und keinen Pierre Loti. – Hast du je etwas von Pierre Loti gelesen, meine Liebe?«
Iskuhi hob, von dieser bitteren Rede betroffen, aufmerksam den Kopf:
»Nein, Mad... nein, ich habe nichts gelesen.«
»Es sind Bücher aus fernen Ländern«, stellte Juliette mißbilligend fest, als wäre das Grund genug für Iskuhi, diesen Pierre Loti zu kennen. Es war nicht gerade nobel von Juliette, mit solchen erdrückenden Vergleichen zu arbeiten. Doch sie befand sich jetzt in der Lage, das Ihre gegen eine mächtigere Umgebung zu verteidigen, und so war's nicht unverständlich. Man merkte den Augen Iskuhis an, daß sie manches zu sagen hatte. Aber es kam nach einer Weile nur ein einfacher Satz heraus:
»Wir haben alte Gesänge, die sehr schön sind.«
»Singen Sie etwas, Mademoiselle«, bat Stephan, der sie aus einer Zimmerecke heraus betrachtete. Iskuhi hatte ihn kaum bemerkt. Jetzt aber wurde es ihr klar wie noch nie, daß der Sohn der Französin ein echter armenischer Knabe war, ohne den Hauch einer fremdstämmigen Wesenheit, unter der blassen Stirn die unverkennbaren Augen seines Volkes, die in ihrem ganzen Leben doch nur Gutes und Angenehmes gesehen hatten. Vielleicht war es diese Erkenntnis, aus der heraus sie ihren inneren Widerstand bezwang und sich zum Singen entschloß. Sie sang nicht, um die Zweiflerin Juliette vom Werte armenischer Lieder zu überzeugen. Sie sang nur für Stephan, als sei es ihre Pflicht, diesen entfremdeten Knaben in seine und in ihre Welt zurückzuführen. Iskuhi hatte eine dünne hauchige Stimme, keinen schönen Frauensopran, eher die Stimme eines kleinen Mädchens. In den traurig-rhythmischen Melodien aber erklang die Stimme nicht nur kindlich, sondern mehr noch priesterinnenhaft. Sie begann mit jenem Gesang, den sie aus Yoghonoluk in die Waisenschule von Zeitun verpflanzt hatte, dem Gesang »vom Kommen und Gehn«, der weniger wegen seines weisen Textes als seiner getragenen Melodie zu einem Arbeitslied der sieben Dörfer geworden war:
»Die Unglückstage ziehen vorbei
Gleich den Tagen des Winters, sie kommen und gehn.
Die Schmerzen der Menschen bleiben nicht lang,
Wie die Kunden im Laden, sie kommen und gehn.
Verfolgungen, blutige, peitschen das Volk.
Die Karawanen, sie kommen und gehn.
Die Menschen entkeimen dem Garten der Welt.
Ob Bilskraut, ob Balsam, sie kommen und gehn.
Nicht stolz sei der Starke, der Schwache nicht bleich!
Das Leben vertauscht sie, sie kommen und gehn.
Die Sonne strahlt furchtlos ihr ewiges Licht,
Die Wolken am Altar, sie kommen und gehn.
Die Welt ist ein Herbergshaus, Sänger, am Weg.
Die Gäste, die Völker, sie kommen und gehn.
Mutter Erde umherzt das gebildete Kind,
Unwissende Rassen verkommen, vergehn.«
Während des Gesanges spürte Juliette ganz rein an Iskuhi jenes Undurchdringliche, das in Gestalt der Schüchternheit, der Trauer, ja auch in der abwehrenden Entgegennahme von Geschenken all ihren Bemühungen hartnäckig widerstand. Da sie nicht alles aufgefaßt hatte, ließ sie sich das Lied zum Teil übersetzen. Bei der letzten Strophe triumphierte sie:
»Da sieht man wieder, wie hochmütig ihr seid. Das gebildete Kind, zu dem sich Mutter Erde so schmeichelhaft benimmt, ist das Armeniertum und die unwissenden Rassen, das sind alle anderen ...«
Stephan verlangte fast herrisch:
»Noch etwas, Iskuhi!«
Juliette aber wollte etwas Leidenschaftliches hören. Nichts zum Nachdenken und nichts, wo von gebildeten Kindern und unwissenden Rassen die Rede ist: »Ein echtes Chanson d'amour, Iskuhi!«
Iskuhi saß regungslos auf ihrem Stuhl, ein bißchen nach vorne gebeugt. Die linke Hand mit den eingekrümmten Fingern lag in ihrem Schoß. Da die tiefgetönte Sonne hinter ihr das Fenster füllte, war ihr Gesicht dunkel und ihre Züge nicht wahrnehmbar. Nach einer kleinen Frist schien sie in ihrer Erinnerung etwas gefunden zu haben:
»Ich kenne ein paar Liebeslieder, die man hier singt. Das hab ich mir alles gemerkt, als ich noch sehr klein war und gar nichts davon verstand. Eines davon besonders. Es ist ganz verrückt. Eigentlich müßte es ein Mann singen, obgleich das Mädchen dabei die Hauptsache ist.«
Die Kleinmädchen-