Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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zu geleiten. Betäubende Hitze herrschte. Selten nur überkletterte ein Hauch vom Mittelmeer den Musa Dagh, um sich des syrischen Sommers zu erbarmen. An der Spitze der Prozession bildete ein laufender Staubwirbel den gespenstischen Vortänzer, eine beklagenswert dürftige Abart jener erhabenen Rauchsäule, die den Kindern Israel in der Wüste vorangezogen war. Der Friedhof lag weitab auf dem Wege nach Habibli-Holzdorf. Wie die meisten Totenorte im Orient erstreckte er sich auf einer geneigten Hügellehne und war von keiner Mauer umgeben. Dies sowie die gestürzten oder schief im Boden versunkenen Grabplatten, in deren verwitterten Kalkstein Kreuz und Schrift roh gemeißelt waren, gaben ihm beinahe das Ansehen einer türkischen oder jüdischen Begräbnisstätte Kleinasiens. Als der Zug anlangte, flatterte es da und dort von den Grabgehäusen und Platten fledermausgrau auf. Es waren alte Weiber in zerzundernden Gewändern, die nur mehr durch die Substanzen von Staub und Schmutz zusammengehalten wurden. Greisinnen zieht es überall an solche Stätten. Auch im Westen kennt man diese ausdauernden Stammgäste des Todes, diese Beiwohnerinnen und Wächterinnen der Verwesung, die oft nur im Nebenamte betteln. Hier freilich in Yoghonoluk war's eine im Gräberschutt nistende, jedoch geschlossene Berufsklasse von Begräbnisfrauen, Klageweibern und Geburtshelferinnen, die nach dem sozialen Brauchtum der Dörfer am Rande der Volksgemeinschaft leben mußten. Ein paar blinde Bettelgreise mit biblischen Prophetenköpfen gehörten dazu sowie einige Krüppel, phantastisch mißgestalt, wie nur der Orient sie hervorbringt. Die Bevölkerung schützte sich vor ihrem eigenen Rassenabhub dadurch, daß sie ihn, in Ermangelung anderer Anstalten, an diesen Ort verbannte, der zugleich ein heiliger und unreiner Ort war. So kam es auch, daß kein Mensch zusammenschrak, als zwei wahnsinnige Frauen mit herzzerreißenden Kreischtönen den Friedhofshügel hinanflohen, um sich zu verstecken. War demnach der Kirchhof und seine Umgebung das Spittel-, Pfründner- und Irrenhaus von Yoghonoluk, so bedeutete er auch noch etwas anderes, den Verbannungsort der Magie. Die Fackel der Aufklärung in den Händen der Altouni, Krikor, Schatakhian und ihrer Vorgänger hatte die Zauberei aus den Dorfgrenzen vertrieben, aber nicht völlig vernichtet. Die Klageweiber unter der Führung von Nunik, Wartuk, Manuschak waren dem Hasse des Arztes bis hierher gewichen, aber nicht weiter. Hier warteten sie ihrer Aufträge, die sie nicht nur zur Bewachung und Waschung der Toten riefen, sondern weit öfter noch zu verstockten Kranken und Kindesmüttern, die der wissenschaftlichen Heilkunde Altounis weniger vertrauten als den Kräutertränken, Beschwörungssprüchen und Gesundbetungen Nuniks, Wartuks, Manuschaks. Die Sache der Wissenschaft stand in diesem alten Kampf nicht immer zum besten, das ließ sich nicht verkennen, hatte doch der Aberglaube ihr gegenüber, was die Menge der Heilmittel und Heilweisen anbelangt, einen unberechenbaren Vorsprung. Auch lag es im schartigen Wesen des Arztes, war er mit seinem Latein zu Ende, keinen trostreichen Schwulst von sich zu geben. Ein Wesen wie Nunik hingegen konnte gar nicht ans Ende ihrer Kenntnisse gelangen und beugte sich niemals vor dem Tode. Starb ihr ein bäuerlicher Patient, so hatte er es sich selbst zuzuschreiben, weil er in einer schwachen Stunde Bedros Altouni gerufen und damit alle Bemühungen zunichte gemacht hatte. Für ihre Kunst war Nunik ein lebendiges Sinnbild. Es ging unter den Dorffrauen die Sage, daß sie zu Zeiten Awetis Bagradians, des Alten, ebenso siebzigjährig gewesen sei wie heute. Die Männer der Aufklärung hatten die Beschwörerinnen und Kurhexen verfolgt und aus dem Umkreis der Lebenden verjagt. Das hinderte diese aber nicht, außer ihrer offiziellen Klagetätigkeit, die Wohnstätte der Toten bei Nacht zu verlassen und ihren heimlichen Geschäften in allen sieben Dörfern nachzugehen. Zur Stunde jedoch waren sie alle auf dem Friedhof versammelt, um unter den Blinden und Bresthaften ihr Teil an Almosen entgegenzunehmen. Als sich der Trauerzug mit den Glocken dem Totenorte näherte, hatte sich Sato davongemacht und war vorausgelaufen. Sie besaß unter dem Gräbervolk schon längst ihre Freunde. Die am Rande wohnten, lockten die Randseele. Unter ihnen war es ja so leicht. Und im Hause Bagradian war es ja so schwer. Mochte das geschenkte Kleidchen der großen Hanum auch Satos eitlen Stolz entfachen, in Wirklichkeit würgte es sie doch samt Schuhen und Strümpfen und reinlicher Kammer wie ein Dressierhalsband. Mit den Bettlern und Klageweibern und mit den Wahnsinnigen konnte Sato in einer entfesselten Sprache Worte wechseln, die es nicht gab. Ah, die Sprache der Großen abstreifen wie einen drückenden Schuh, mit nackten Füßen reden dürfen, welch ein Glück! Nunik, Wartuk, Manuschak aber wußten von Geheimnissen zu erzählen, die Satos Sinn mit verwandten Schauern erfüllten, als hätte sie dergleichen selbst aus ihrem Ahnenleben mit in diese Welt gebracht. Da konnte sie stillsitzen und stundenlang zuhören, während die blinden Bettler neben ihr mit aufmerksamen Fühlfingern ihren mageren Kinderleib abtasteten. Wäre Iskuhi nicht gewesen, vielleicht hätte Sato die anderen auf den Damlajik ziehen lassen, um bei dem Friedhofsvolk und in der Freiheit zu hausen. Die Glücklichen durften nicht mit ins enge Berglager. Der Führerrat hatte mit allen Stimmen gegen die von Gabriel Bagradian diesen Beschluß gefaßt. Letzterer wollte keinen Teil des Volkes ausgeschlossen wissen, obgleich er, als Oberbefehlshaber, am klarsten einsah, daß jeder überflüssige Fresser die Kampfkraft schwächte. Die Betroffenen schienen aber wegen des Ausschlusses weder unglücklich zu sein, noch auch die Türken besonders zu fürchten. Sie streckten den Volksgenossen ihre Hände und Gebrechen mit denselben Bettellitaneien entgegen wie immer.

      Der Himmel war so brennend nackt, daß auch nur die Vorstellung einer Wolkenflocke der Fabelei eines Märchenerzählers geglichen hätte. Dieses unerbittliche Blau schien schon seit den Zeiten der Sintflut keinen Regen mehr gekannt zu haben. Die Menschen drängten sich um das offene Grab, von den Glocken Yoghonoluks Abschied zu nehmen. In friedlichen Tagen hatte kaum einer mehr des gewohnten Läutens geachtet. Jetzt aber war es wie das Verstummen ihres eigenen Lebens. Als die Glockenmutter und die Glockentochter versanken, hörte man keinen Atemzug. Der erstickte Kupferton, den die herabrollenden Erdschollen verursachten, weissagte dem Volk, daß es keine Heimkehr mehr gab und keine Auferstehung für die Bestatteten. Nach einem kurzen Gebet Ter Haigasuns zerstreute sich die Menge schweigsam über den großen Kirchhof, und die einzelnen Familien suchten die Grabstätten ihrer Anverwandten auf. Auch Gabriel und Stephan traten in das Mausoleum der Bagradians ein. Es war ein kleiner niedriger Kuppelbau, einer Türbe ähnelnd, in der die Türken ihre Heiligen und Würdenträger beizusetzen pflegen. Großvater Awetis hatte den Gruftbau für sich und sein Weib errichten lassen. Der Stifter des Glanzes lag, nach altarmenischer Sitte, ohne Sarg, nur in sein Totenhemd gehüllt, unter den Steinplatten, die wie betende Hände schief zueinandergeneigt waren. Außer ihm und der Ahne ruhte nur noch ein Dritter hier, Bruder Awetis, der Getreue Yoghonoluks, ein junger Toter noch. Mehr Platz gibt es auch nicht, dachte Gabriel, dem nicht feierlich, sondern merkwürdig spöttisch zumute war. Stephan aber trat gelangweilt von einem Fuß auf den andern, wie einer, der noch mehrere Ewigkeiten weit vom Tode entfernt ist.

      Ter Haigasun stand, von einer kleinen Schar umgeben, auf der Höhe der Hügellehne, dort, wo das Totenland seine letzten Zungen vortrieb. Einige Männer hatten ein großes massengrabartiges Viereck ausgeschaufelt. Mit der aufgehäuften Erde wurden fünf Tragbutten angefüllt. Ter Haigasun ging nach vollbrachtem Werk von einer zur anderen und schlug das Kreuz über sie. Bei der letzten blieb er stehen und beugte sich hinab. Es war keine schwarze, sondern bröcklig arme Erde. Ter Haigasun griff in die Butte und führte eine Handvoll der geweihten Erde an sein Gesicht, wie ein Bauer, der den Humus prüft:

      »Möge sie genug sein!« sagte er zu sich selbst. Dann aber blickte er mit erstaunter Versonnenheit den Kirchhof hinab, der schon fast menschenleer war. Die Bewohner der Dörfer hatten sich längst auf den Heimweg gemacht. Es ging auf den Mittag zu. In den größeren Ortschaften, wie Habibli und Bitias, waren ähnliche Feiern angekündigt. Für den großen Aufbruch aber hatte der Führerrat die Stunde nach Sonnenuntergang bestimmt.

      Gabriel sorgte für Juliette in der zartesten Weise vor. Sie sollte, in den armenischen Abgrund gezogen, von ihrer Welt so wenig vermissen, wie es unter solchen Umständen möglich war. Diese ihre europäische Welt beschäftigte sich freilich zur selben Zeit mit einem Gemetzel, dagegen alles Ähnliche als stümperhafte Zufälligkeit anmutete, wurde es doch mit allem Komfort der Neuzeit, nach den letzten Ergebnissen des Wissensfortschrittes, nicht mit dem harmlosen Blutdurst der Leidenschaftsbestie, sondern der mathematischen Gründlichkeit der Intelligenzbestie exakt durchgeführt. Lebten wir jetzt in Paris – hätte sich Gabriel Bagradian zum Beispiel sagen können –, so müßten wir uns zwar nicht auf dem steinicht nackten Boden eines syrischen Berges einrichten, wir besäßen WC und Badezimmer, wären aber trotzdem täglich und nächtlich mehrmals gezwungen, uns in einen finsteren Keller vor schweren Fliegerbomben


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