Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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würden. Der Befehlshaber besitze ferner selbstverständlich auch eine eigene Strafgewalt. Er könne unbotmäßigen und im Dienste faulen Leuten das Essen entziehen, sie in Fesseln legen lassen und zur Bastonnade milderen oder schärferen Grades nach eigenem Ermessen verurteilen. Nur die Verhängung der Todesstrafe stehe allein Ter Haigasun zu, nachdem sie vom ganzen Führerrat einstimmig beschlossen worden sei. Doch auch dem Lagervolke müsse der Ernst der Kriegsgesetze schon in den ersten Stunden klargemacht werden. Die Hauptaufgabe des inneren Komitees bestehe darin, für strenge Regelmäßigkeit zu sorgen, die harten Umstände natürlich erscheinen zu lassen und alles daranzusetzen, daß sich hier oben nicht anders als im Tale ein ganz gewöhnlicher Alltag entwickle. In seinen Ausführungen wies Ter Haigasun mit stärkstem Nachdruck auf »Gewohnheit« und »Alltag« hin. Von diesen unscheinbaren Mächten hänge die Kraft und Dauer des Widerstandes mehr ab als von außergewöhnlichen Leistungen. Keine einzige Hand dürfe daher beschäftigungslos bleiben. Auch die Kinder sollten nicht müßiggehen und den Todeskampf des Volkes mit ihrem Ferienglück in Verbindung bringen. Es sei deshalb auf einem dafür zu bestimmenden Platz Schule zu halten, und zwar in aller Form und Strenge. Die Lehrer müßten in jenen Stunden, da sie anderweitig dienstfrei seien, im Unterricht miteinander abwechseln. Nur rastlose Arbeit werde die Menschen über dieses enge Leben hinwegbringen können, schloß Ter Haigasun: »Also auf, Leute! Geht an die Arbeit! Wir wollen die Zeit so wenig wie möglich mit Ratsgeschwätz totschlagen!«

      Die Muchtars beriefen ihre Gemeinden auf den großen Altarplatz zusammen, der innerhalb der Stadtmulde schon abgesteckt war. Gabriel Bagradian ließ die sechsundachtzig Zehnerschaften des ersten Treffens unter dem Kommando Tschausch Nurhans antreten. Der Rekrutenkönig sorgte dafür, daß die Armee in einem scharf abgezirkelten und wohlausgerichteten Viereck den noch nicht eingeweihten Altar umstand. Dann betrat Ter Haigasun die Altarbühne, die sich auf fünf Stufen ziemlich hoch über den Platz erhob und sehr geräumig war. Der Priester forderte nur Bagradian und keinen der anderen Führer auf, neben ihn zu treten. Dann wandte er sich dem Viereck der Zehnerschaften zu und verlas mit weithin schallender Stimme die Dienstordnung aus dem Schriftstück Samuel Awakians. Nachher fügte er noch einige drohende Worte hinzu. Über jeden, der sich gegen den Willen des kriegerischen Führers auflehne oder seine Pflicht vergesse, werde ein unnachsichtliches Strafgericht hereinbrechen. Das möchten sich hauptsächlich die ortsfremden Zuzügler aus den türkischen Kasernen gesagt sein lassen. Die Aufnahme in das Lager, die Ernährung aus den allgemeinen Vorräten bedeute keine Selbstverständlichkeit, sondern eine brüderliche Wohltat der Volksgemeinschaft, deren sich die Fremden erst würdig erweisen müßten. Ter Haigasun ergriff das silberne Kruzifix, das auf dem Altartisch stand, und stieg mit Gabriel Bagradian in den inneren Raum des Vierecks hinab. Langsam sprach er den Zehnerschaften die Eidesformel vor, die sie mit erhobenen Schwurfingern wiederholen mußten:

      »Ich schwöre zu Gott, dem Vater, dem Sohn, dem Heiligen Geist, daß ich mit meinem letzten Blutstropfen dieses Volkslager verteidigen werde, daß ich mich dem Befehlshaber und allen seinen Anordnungen in blindem Gehorsam unterwerfe, daß ich die Macht des gewählten Führerrates anerkenne und in eigensüchtiger Absicht niemals den Berg verlassen will, so wahr mir Gott, der Herr, zur Seligkeit verhelfe!«

      Nach dieser Vereidigung marschierten die Männer der ersten Linie hinter den Altar. Die elfhundert Menschen der Reserve, die in zweiundzwanzig Gruppen eingeteilt waren, schwuren einen kürzeren Eid des Gehorsams und Arbeitswillens. Auf der Reserve lag die Hauptlast des Stellungs- und Lagerbaus. Sie besaß für den Kampfesfall keine anderen Waffen als jene landwirtschaftlichen Hieb- und Stichgeräte, die sie aus den Dörfern mitgenommen hatte. Zuletzt kamen die dreihundert Halbwüchsigen der »leichten Kavallerie« vor den Altar. Ter Haigasun sprach ein paar ermahnende Worte zu ihnen, und Gabriel Bagradian setzte ihnen die Pflichten ihres Späher-, Melde-, Kundschafter- und Signaldienstes auseinander. Er bildete aus den Jugendlichen »nach dem Augenmaß« drei große Haufen. Der erste Haufen sollte die Späherposten und Beobachtungsstände besetzt halten und alle zwei Stunden eine Meldung an das Hauptquartier schicken. Zu diesem wichtigen Geschäft wurden die hundert ältesten und vertrauenswürdigsten Knaben ausersehen. Ihnen oblag es auch, bei Tag und Nacht die Wache für die Schüsselterrasse zu stellen, um mit ihren scharfen Bubenaugen den schwachen Rauch vorbeiziehender Schiffe (lächerliche Hoffnung) rechtzeitig zu sichten. Dem zweiten Haufen übertrug Bagradian den Ordonnanzdienst. Diese hundert Knaben mußten sich stets im Umkreis des Hauptquartiers aufhalten, um die Befehle des Kommandanten in alle Richtungen auszutragen und die Verbindung mit den einzelnen Verteidigungsabschnitten zu besorgen. Die Ordonnanztruppe war dem Hauptadjutanten Samuel Awakian unterstellt. Stephan wurde diesem Korps zugeteilt. Das dritte Hundert endlich stand dem Pastor Aram zur Verfügung, um im Lagerdienst verwendet zu werden und, ein Beispiel nur, den Kämpfern die Menage in die Linie hinauszutragen.

      Die Gliederung, die Bagradian in das Dorfvolk gebracht hatte, bewies augenblicklich ihre Vorteile. Das soldatische Wichtigkeitsgefühl, das die einzelnen Zehnerschaften erfüllte, die prickelnde Lust zu befehlen, von der die Unterführer sogleich belebt wurden, das kindliche Vergnügen an Reih und Glied, all diese Menschlichkeiten verschleierten die unerbittliche Grundtatsache durch den wohltätigen Eifer des Spieles. Als die Züge bald darauf nach allen Seiten zum Stellungsbau abmarschierten, erhob sich da und dort, schüchtern zwar, doch hartnäckig ein Chorgesang, das alte Arbeitslied des armenischen Tales:

      »Die Unglückstage ziehen vorbei

       Gleich den Tagen des Winters, die kommen und gehn.

       Die Schmerzen der Menschen bleiben nicht lang,

       Wie die Kunden im Laden, sie kommen und gehn.«

      Gabriel Bagradian beschied Tschausch Nurhan und die Hauptleute der größeren Zehnerschaftsverbände zu sich. Inzwischen aber hatte Ter Haigasun den Altarplatz verlassen und sich auf den Dreizeltplatz begeben, der in der Nähe einer großen Quelle, von Buchsbäumen umgeben, von efeuumrankten Felsen und Myrtengebüsch nach drei Seiten geschützt, ein vortrefflicher Beweis für Gabriels zärtliche Obsorge war. Ter Haigasun wünschte Hanum Juliette Bagradian zu sprechen. Da Kristaphor, Missak, Howhannes und die übrige Dienerschaft mit der Einrichtung des abseits gelegenen Küchenplatzes beschäftigt war, konnte der Priester seinen Wunsch niemand anderem vortragen als Gonzague Maris, der auf dem Dreizeltplatz eilig hin und her promenierte, wie es bewegungssüchtige Seereisende auf einem schmalen Schiffsverdeck zu tun pflegen. Der junge Grieche ging zu Juliettens Expeditionszelt und schlug den kleinen Gong an, der über dem Eingang hing. Die Hanum aber ließ sehr lange auf sich warten. Als sie endlich erschien, bat sie Gonzague, für Ter Haigasun einen Stuhl aus dem Zelte herauszutragen. Dieser aber wehrte ab. Leider dürfe er nicht viel Zeit verlieren. Er ließ seine Hände in den breiten Ärmeln der Kutte verschwinden und senkte die Augen. Was er in einem steifen Französisch vorbrachte, war voll getragener Förmlichkeit. Die Güte von Madame sei bekannt. Er bitte Madame daher, dem Volke die Ehre zu erweisen und folgenden Auftrag zu übernehmen. Es sei notwendig, daß von der vorspringenden Felsterrasse auf der Steilseite des Berges eine sehr große weiße Fahne mit einem roten Kreuz ins Meer hinaus wehe, um jenen Schiffen, die Gott in seiner Gnade senden möge, Kunde von dem Elend zu geben. Darum müsse die Fahne auch eine Aufschrift in französischer und englischer Sprache tragen: »Christen in Not! Hilfe!« Ter Haigasun verbeugte sich, als er an Juliette die feierliche Frage stellte, ob sie gewillt sei, mit Hilfe anderer Frauen die Herstellung dieser Fahne zu besorgen. Juliette versprach es, jedoch mit einer lauen und empfindungslosen Art von Zusage. Es war merkwürdig, die Französin schien gar nicht die Ehrung zu verstehen, die Ter Haigasun ihr durch seinen Besuch und diese Bitte in feinster Art zuteil werden ließ. Sie war wieder einmal taub gegen alles Armenische. Als sich aber Ter Haigasun rasch und nur mit einem Kopfnicken entfernte, wurde sie plötzlich sehr unruhig und suchte selbst zwei große Leintücher aus, die mit der Nähmaschine zu der gewünschten Fahne zusammengesteppt werden sollten.

      Gabriel schärfte Tschausch Nurhan und den anderen Unterführern noch einmal die Unerläßlichkeiten eiserner Disziplin ein. Von nun an dürfe niemand mehr ohne Erlaubnis den Posten verlassen, auf den er gestellt ist. Es könne ferner auch nicht geduldet werden, daß die Männer des ersten Treffens die Nacht bei ihren Familien in der Stadtmulde verbrächten. Bis auf die von den Führern ausdrücklich gestatteten Ausnahmefälle habe jedermann in den Stellungen zu schlafen. Bagradian bestimmte auch einen von allen Seiten gut erreichbaren Platz zu seinem Hauptquartier. Dort


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