Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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geistlos sein muß. Was aber das taktische Lehrbuch anbetraf, so fand er darin eine Anzahl von Warnungen, Hinweisen, Zeichnungen, Rechenexempeln, die er in kleinem Maßstab auf die gegebenen Verhältnisse anwenden konnte. Tschausch Nurhan Elleon und die Unterführer hielten mit den Zehnerschaften täglich die strengsten Übungen ab. Gabriel Bagradian stellte in den einzelnen Abschnitten die vielfältigsten Manöveraufgaben, damit jeder einzelne sich mit jeglichem Stein und Strauch vertraut mache und für alle nur möglichen Angriffsfälle die entsprechende Gegenwehr schon vorgesehen sei. Auch die Alarmmaschine war nun bereits auf das äußerste verfeinert. Innerhalb einer knappen Stunde konnten trotz der ziemlich großen Entfernungen alle Posten besetzt, umbesetzt und die größten Mannschaftsverschiebungen durchgeführt werden.

      Nicht minder erstaunlich aber muß das in der Stadtmulde geleistete Werk genannt werden. Pastor Tomasians Leidenschaftlichkeit hatte sich gegen die Fülle der kleinen Zwiste, gegen die Gehässigkeiten der engen Nachbarschaft, gegen das Unbehagen an der Gemeinschaftsernährung sowie gegen den versteckten Widerstand und die Verschlafenheit der Muchtars siegreich behauptet. Wiederum war es ein abendländischer Mann (drei Studienjahre in Genf), der Gabriels Kampf gegen östliches Geschehenlassen so erfolgreich unterstützte. Ohne Zweifel bedeutete Ter Haigasun die unvergleichlich stärkere Persönlichkeit als der ausgezeichnete Aram, und doch, der Vikar des armenischen Tales war im Norden nur bis Edschmiadsin, im Westen nur nach Stambul, im Süden nur nach Jerusalem gekommen und daher nicht ganz frei von jener Empfindungsstumpfheit gegen abschaffbare Unbill, die dem Europäer das Leben im Morgenlande so gründlich erschwert. Trotz seiner erprobten Macht über die Gemüter hätte Ter Haigasun vielleicht das Werk Aram Tomasians nicht so schnell vollbracht und im Laufe von zehn Tagen das elende Freilager der Stadtmulde in eine Siedlung verwandelt, die immerhin einem Marktflecken zu Zeiten Abrahams und der Erzväter ähnelte. Jede Familie, ob arm, ob reich, besaß nun ihre wohlverdeckte Laubhütte, ein paar Quadratmeter wettergeschützten Bodens, durch Teppiche, Matten, Bettzeug wohnlich gemacht. Dieses blasse Echo eines Heimes genügte schon, die Menschen in den wichtigen Gefühlswahn einzulullen, auch hier oben würden ihre irdischen Verhältnisse dauernden Bestand haben. Das Lager war nicht nur in einzelne Gemeindequartiere geteilt, die Hütten bildeten sogar ganze Straßenzüge, die alle in den großen Altarplatz einmündeten. Die Bodenfläche der Stadtmulde war uneben und höckerig, doch der Siedlungsbau und die Wege waren so angelegt, daß dieses Auf und Ab ziemlich gemildert schien. Der Altarplatz, der Mittelpunkt dieser primitiven, aber starkbevölkerten Ortschaft, machte einen geradezu stattlichen Eindruck. Nachdem Muchtar Thomas Kebussjan die Errichtung seines hölzernen Gemeindehauses durchgesetzt hatte, gaben seine sechs Kollegen nicht früher Ruhe, bis auch sie, als nicht weniger würdige Gemeindehäupter, das Recht erhielten, ähnliche Blockhäuser auf den Altarplatz hinzusetzen. Das schönste Werk Vater Tomasians aber war und blieb die große Regierungsbaracke, die nicht nur wirkliche Fenster und Türen besaß, sondern auch mit Schindeln gedeckt war, die aus den Vorräten des Baumeisters stammten. Die Festigkeit des Gebäudes konnte als Sinnbild jener kühnen Hoffnungen gelten, welche die Verteidiger erfüllte. Es bestand aus drei Räumen, einem großen Mittelzimmer, dem Sitzungssaal, und zwei kleinen Seitenkammern. Die rechte Seitenkammer war durch eine feste Wand vom Sitzungsraum abgetrennt. Diesem Kotter war die Rolle des Staatsgefängnisses zugedacht, für den Fall, daß man sich eines schweren Übeltäters entledigen mußte. Ter Haigasun aber war der Überzeugung, diese Armesünderzelle werde sich als überflüssig erweisen. Die linke Kammer war dem Apotheker Krikor zugewiesen. Krikor hatte zwischen sich und der Politik eine Bücherwand mit einem schmalen Durchgang aufgebaut, jenseits deren sein Bett stand. Seine schmuckhaften Tiegel, Vasen und Retorten hatte er auf Wandbrettern untergebracht, während Petroleumkannen, Tabakballen und Bürstenbinderwaren zu seiner großen Genugtuung fehlten, da sie dem allgemeinen Volksgut einverleibt worden waren. Die Regierungsbaracke vereinigte demnach nicht nur den Charakter eines Parlaments, Ministeriums und Gerichtshauses, sondern auch den einer Bibliothek und Universität. Denn hier empfing Apotheker Krikor seine Jünger, die Lehrer, um sie seinerseits zu belehren. Von Tag zu Tag seltener verließ der Meister sein Gehäuse. Vielleicht wollte er die große Gefangenschaft auf dem Damlajik dadurch aufheben, daß er sie für seine Person noch enger beschränkte. Vielleicht auch wollte er die ganze Lebensveränderung damit ungeschehen machen, daß er sie aus seinem Augenkreis bannte. Er saß stundenlang starr auf seinem Bett, nur hie und da ein Buch aus der Wand nehmend, um es vorsichtig gleich wieder zurückzustellen. Sein Körper krümmte sich sichtbar zusammen. Die Lehrer, die nun wichtige Amtswalter waren, besuchten ihn nur selten. Kamen sie aber, enttäuschte sie der Meister immer bitterer, denn er vermehrte ihr Wissen nicht mehr durch unerhörte Tatsachen aus der allgemeinen Weltkunde, sondern tischte ihnen dunkle Geschichten mit tiefsinniger Moralität auf, die sie schnell wieder aus seiner Nähe vertrieben. Hrand Oskanian faßte deswegen sogar eine heftige Abneigung gegen den ehemals Hochverehrten, was mehr für sein dermaliges Krieger- als für sein einstiges Dichtertum sprach. »Der Alte ist nicht mehr ganz bei sich«, meinte er wegwerfend zu dem Kollegen Schatakhian, der aber den Geschmähten erbittert verteidigte. Während der großen und kleinen Führerberatungen verließ der Apotheker, obgleich er doch zu den Gewählten gehörte, seine Seitenkammer nicht, aber er schaute mit seinem gelben Mandarinengesicht aus erstaunten Schlitzaugen in den Sitzungssaal hinüber, als könne er die Sprache dieser Menschen überhaupt nicht verstehen. In den Nächten jedoch erhob er sich oft von seinem Lager und setzte sich vor das Regierungsgebäude. Er blinzelte zu dem Ewigen Licht hin, das unter dem Altarbild brannte, zu den beiden Petroleumlampen, die den Platz erhellten, er lauschte in die Laubhüttengassen hinein, aus denen Schlafgeräusche drangen. Alle halben Stunden kam die Patrouille der Nachtwache und begrüßte den Apotheker. Dieser aber gab keine Antwort, sondern schüttelte unablässig den Kopf. Es schien die Gebärde einer unendlichen Verwunderung zu sein, die gar nicht mit sich fertig werden kann, war aber in Wirklichkeit das erste Anzeichen eines bedenklichen Körperverfalls.

      Man sieht demnach, und man sieht es nicht ohne Rührung, daß diese winzige Menschheit von fünftausend Seelen den langen Weg der Zivilisation in einem Katzensprung wiederholte. Sie war hier oben von allen Mitteln nahezu entblößt angekommen. Das bißchen Petroleum, ein paar Kerzen, die notwendigsten Werkzeuge, das war alles, woraus ihre Kulturerbschaft bestand. Der erste Wolkenbruch schon hatte den armseligen Haufen von Decken, Betten, Laken, Matten verwüstet, das einzige, was sie noch an häuslichen Bequemlichkeiten besaßen. Und doch, nicht der allseitig unabwendbare Tod, nicht die niedrigste Notdurft vermochte es, in ihnen die göttlicheren Bedürfnisse auszulöschen, die Sehnsucht nach Religion, nach Ordnung, nach Vernunft und geistigem Wachstum. Ter Haigasun las die Messe an Sonn- und Feiertagen wie immer. Auf der Schulhalde wurde Unterricht für die Kinder gehalten. Bedros Altouni, der Siebzigjährige, und Mairik Antaram hatten den Lazarettschuppen musterhaft instand gesetzt und rauften mit allen übrigen Führerstellen, um für ihre Kranken die besten Nahrungsmittel zu ergattern. Im Hinblick auf die Lebensgewohnheiten des Tals hatte sich die allgemeine Moral sogar gehoben. Auf den abgemagerten und blassen Gesichtern lag eine gewisse Zufriedenheit. Der lange Augusttag hatte nicht Stunden genug, soviel Pflichten gab es zu erfüllen. Schon um vier Uhr morgens begann die erste Arbeit. Die Melkerinnen zogen auf den Platz, wo die Hirten bereits die Geißen und Mutterschafe zusammengetrieben hatten. Die Milch wurde dann in großen Gefäßen an die westliche Grenze der Stadtmulde geschafft, wo Mairik Antaram schon wartete, um die Verteilung an die Familienmütter, das Lazarett und die Käserei vorzunehmen. Zur selben Zeit pilgerten Frauen und Mädchen in langen Zügen zu den nahe fließenden Quellen, um ihre großen Tonkrüge mit dem frischen Quellwasser zu füllen, das in diesen Gefäßen auch bei der größten Sonnenglut eiskalt blieb. Die zahlreichen Quellen mit ihrem herrlichen Wasser bildeten eine der größten Segnungen, die der Musa Dagh seinen Kindern spendete. Während die Züge mit den Wasserträgerinnen heimkehrten, begaben sich die sieben Muchtars auf die Schafweiden, um das Schlachtvieh für den Bedarf des nächsten Tages auszuwählen. Was den Fleischverbrauch anbelangt, so machten sich allerdings frühzeitig sehr bedrohliche Anzeichen fühlbar. Ein Fettschwanzschaf ergab in diesen Gegenden trotz doppelten Lebendgewichtes weniger als zwanzig Oka oder fünfundzwanzig Kilogramm eßbaren Fleisches. Da über fünftausend Menschen fast ausschließlich von diesem Fleische leben mußten, darunter sehr viele schwer arbeitende, kam eine tägliche Stückzahl von ungefähr fünfundsechzig zu schlachtenden Schafen heraus, wollte man die Zehnerschaften und die Arbeitsreserve wirklich sättigen. Wie lange aber war bei dermaßen erschreckender Herdenverminderung das Leben auf dem Berg


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