Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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den Schlachttieren nichts mehr, auch die Eingeweide nicht, fortgeworfen werden durfte. Zugleich wurde die tägliche Zahl auf fünfunddreißig Schafe und zwölf Ziegen herabgesetzt. Damit aber waren andere, das Schlachttier betreffende Gefahren noch keineswegs behoben. Da durch die Stadtmulde, die außerhalb ihrer befindlichen Lageranstalten und nicht zuletzt durch den Stellungsbau sehr viel Weidegrund verlorengegangen war, zeigte sich schon in den ersten Tagen an den Herden ein beträchtlicher Gewichtsverlust. Niemand aber wagte es, die Hirten mit ihren Tieren auf die Triften jenseits des Nordsattels zu schicken. Der Schlachthof war in der Nähe eines Wäldchens ziemlich abseits von der Stadtmulde gelegen. Dennoch aber durchdrangen die Angst- und Todesschreie der Tiere allmorgendlich das Lager. Die Metzger hängten anfänglich die ausgeweideten Hammel und Schafe an die Bäume, wo sie ein oder zwei Tage verblieben. Infolge der großen Sommerhitze aber verdarb das Fleisch sehr schnell. Man grub es deshalb nach den ersten unangenehmen Erfahrungen in die Erde ein, wo es sowohl frisch bewahrt wurde als auch besser ablagerte. Nachdem ein Teil der Metzger am frühesten Morgen sein Tagewerk vollendet hatte, um daraufhin sofort wieder in die Zehnerschaften einzurücken, begann der andre Teil seine Tätigkeit. Auf langen, aus Baumstämmen zusammengenagelten Tischen wurde das Fleisch in kunstgerechte Stücke zerhackt. Von hier brachten es die Frauen, die jeweils den Küchendienst hatten, auf den Feuerplatz. Dort waren inzwischen schon auf zehn großen, ummauerten, doch offenen Feuerstellen das Reisig und die klobigen Holzscheite in Brand gesetzt worden. An hohen dreibeinigen Galgen schwankten mächtige Wasserkessel über den Flammen. Das Fleisch aber briet an langen Stangen und Spießen im offenen Feuer. Die Speisenausgabe erfolgte täglich einmal gemeindeweise durch die Muchtars in Gegenwart Pastor Aram Tomasians. Für jede Ortschaft wurden wiederum auf langen Balkentischen die Familienportionen zurechtgeschnitten. Bitias, um ein Beispiel zu nennen, besaß jetzt nach dem Verlust der Protestanten unter Harutiun Nokhudian hundertundzwölf Familien. Hundertundzwölf Hausfrauen also marschierten an dem Dorftisch reihenweise auf und nahmen aus der Hand ihres Muchtars den genau abgewogenen Anteil in Empfang. Eine Amtsperson, zumeist der Oberpriester oder Lehrer, prüfte auf einer Liste die Kopfzahl der Verköstigten nach und vermerkte durch einen Strich die ordnungsgemäße Ausfolgung der Mahlzeit. Es läßt sich wohl denken, daß dieser Vorgang geraume Zeit in Anspruch nahm und daß hiebei hitzige Zusammenstöße nicht ausblieben. Die Natur hatte eben bei Erschaffung des Schafes und des Zickleins nicht hinreichend für Gerechtigkeit gesorgt. Die einen bekamen das üppige Brust- und Bauchfleisch, andern wieder fielen nur die flechsigen und knochigen Teile zu. Die düsteren Charaktere unter den Weibern sahen in dieser ungleichmäßigen Behandlung durch das Schicksal von feindseligen Menschen ausgeheckte Kniffe und Hinterlisten, um eigens ihnen einen giftigen Tort anzutun. Den Beruhigungskünsten Aram Tomasians oblag es nun, diese eifernden Seelen vom Spiel des Zufalls zu überzeugen und der betreffenden Frau Jeranik und Kohar zu beweisen, daß ihr Schicksal, das sie heute benachteiligte, sie gestern bevorzugt hatte. Solcher logischen Abgeklärtheit waren aber Jeranik und Kohar meist nicht fähig und zogen mit bösen Augen ab, die Fälle der Benachteiligung in ihren Herzen verdoppelnd. Noch ehe aber die zivile Speisenausgabe stattfand, war das Beste schon für die Truppen ausgesondert worden, denen ihre Menage von der hiezu bestimmten Gruppe der Jugendkohorte in die Stellungen hinausgetragen wurde. Alle aber mußten mit dieser einzigen Mahlzeit am Tag ihr Auskommen finden, denn am Abend kochte in den großen Kupferkesseln nur Wasser, in das man irgendein Wurzelwerk warf, um den schalen Absud kurzerhand als »Tee« zu bezeichnen.

      Pastor Aram hatte auch einen ständigen Ordnungsdienst eingeführt. Zwölf Bewaffnete sorgten als Polizei für Ruhe und Ordnung in der Stadtmulde. Sie gingen in allstündlichen Runden bei Tag und Nacht mit den gewichtig drohenden Schritten von Schutzleuten durch die Zeilen der Laubhütten und ließen die Bewohner fühlen, daß Kriegsrecht herrsche und jeder sich jetzt doppelt zusammennehmen müsse. Sie trugen ferner auch die Verantwortung für die allgemeine Reinlichkeit, die Gabriel Bagradian, Pastor Aram, Bedros Altouni, Hapeth Schatakhian und andere »Westler« in fanatischer Weise zur großen Lebensfrage erhoben hatten. Vieles, was in den Dörfern der unbestrittene Brauch gewesen, hier oben wurde es verboten. Man durfte die Abfälle nicht vor die Laubhütten werfen, kein Spülwasser auf die Lagergassen schütten und vor allem die heimlichen Bedürfnisse nur an jenen Stellen verrichten, die vom Führerrat dazu bestimmt worden waren. Bagradian hatte von allem Anfang an auf die Herstellung tiefer Senkgruben bestanden. Verstieß jemand gegen eines der Reinlichkeitsgebote und wurde dabei ertappt, so verhängte der Führerrat unerbittlich über ihn ein eintägiges Fasten, das heißt, er bekam seine Mahlzeit nicht ausgefolgt.

      Der Alltag, den Ter Haigasun für die neuen Lebensumstände so weise angestrebt hatte, bürgerte sich über Erwarten schnell ein. Er war jedoch von dem gemächlichen Alltag des Tales sehr verschieden und voll von Reibungen und Härten. Zu gewissen Stunden, besonders nach Feierabend, wenn die Arbeit den Sinn nicht mehr ablenkte, lastete Mißvergnügen und Gereiztheit über den Sippen. Aram Tomasian vertrat daher im Führerrat die Ansicht, man müsse den außerordentlichen Härten dieses Lebens durch gewisse Veranstaltungen das Gleichgewicht halten, um für eine kurze Abendstunde wenigstens die Seelen vom Druck zu befreien. Es wäre gut, wenn jeder zweite oder dritte Tag eine erfreuliche Abenderwartung in sich schlösse. Das Volk möge sich auf dem Altarplatz versammeln, damit einer der Führer zu ihm spreche, und zwar durchaus nicht über die gegenwärtige Lage, sondern über allgemeine Gegenstände der Nation und des Lebens, die den Blick in die Weite ziehen und die Herzen über sich selbst erheben. Gabriel Bagradian stimmte dem Pastor sogleich zu. Ter Haigasun aber schlug die Augen mit einem kaum merklichen Lächeln aus seiner gewohnten Versunkenheit auf. Er wies darauf hin, daß dieses schöne Vorhaben an einem allzu trockenen und belehrenden Charakter leide. Solch eine hochgespannte Rede bringe wohl den ernsten und klugen Männern, deren es jedoch nur verdammt wenige gebe, einen Vorteil, während dabei die Frauen, die Mädchen, die gesamte Jugend leer ausgehe. Gerade aber von diesem schwankenden und gefühlsbedingten Volksteil hänge die Widerstandskraft des Lagers mehr ab als von den gesetzten und vernünftigen Leuten. Man möge deshalb nach einer Reihe von plagereichen Tagen für einen Abend der einfältigen Vergnügungen und des lustigen Vergessens sorgen. Possenreißer und Geschichtenerzähler gebe es ja im Lager genug, ebenso Tanzmusikanten in großer Menge. Jeder zweite Mann zupfe ja den Tar oder die Sazgitarre. Auch die Kamantschageige und Flöte haben ihre Spieler, von der Handtrommel ganz zu schweigen. Die Musik sei das Geschäft Asajans, des Lehrers und Kirchenchorführers, der diese Festveranstaltungen gleich in die Hand nehmen müsse. Der zwirnsdünne Sänger erstaunte tief, daß sein Erzfeind und Peiniger Ter Haigasun ihn eines solchen Auftrags würdigte. Und er staunte noch mehr, als derselbe allen rohen Belustigungen abholde Ter Haigasun die Errichtung eines hölzernen Tanzbodens, einer Tenne, wie sie in Yoghonoluk zu solchen Zwecken verwendet wurde, nicht nur erlaubte, sondern sogar anempfahl. Ganz unerhört aber war es, daß der Priester keinen Einspruch dagegen erhob, als Vater Tomasian mit seinen Gesellen diese Teufelsbühne aus rohen Brettern am andern Ende des großen Platzes aufzuschlagen begann, und zwar genau dem heiligen Altar gegenüber. Für den nächsten Abend schon wurde das erste Tanzfest angesetzt. Der Führerrat erschien mit Ter Haigasun an der Spitze, die Notabeln alle, auch Gonzague Maris und Juliette, die Gabriel eigens darum gebeten hatte. Zuerst hielt Pastor Aram eine kurze Ansprache, in der er Gott um Verzeihung bat, daß man angesichts der grausamen Leidenszeit dem irdischen Bedürfnis nach Lustbarkeit nachgehe. Als zweiter gab Lehrer Asajan mit einer scharfen Trompetenstimme (wo doch seine Körperlichkeit bestenfalls ein hauchendes Falsett erwarten ließ) einige patriotische Lieder zum besten, darunter auch jenes flammende:

      »Hoch sind die Berge Armeniens ...

       Wir fürchten nicht den Tod durch Feuer und durch Schwert.«

      Der nächste Mitwirkende in der Künstlerreihe war das Grammophon des Hauses Bagradian. Zuerst krächzte es den Krönungsmarsch aus dem »Propheten« in die Abendluft, dann aber sang es leise das traurige Orchesterstück »Aases Tod« von Edvard Grieg. Bei dieser Nummer sah sich die Menge, die im dichten Halbkreis die Tenne umstand, träumerisch an, als habe ihr jener Norweger das langsame Stück aus der eigenen Seele gesungen. Weniger Glück als Edvard Grieg hatte der schwerbewaffnete Hrand Oskanian, der nachher die Tribüne betrat. Er donnerte zwei pathetische Gedichte so haßerfüllt herunter, als sei er ein Anklagerichter, der mit einem Verbrecher abrechnet. Die Silben übersprangen einander so wütend, daß die wenigsten Hörer etwas verstanden. Bei dem ersten Gedicht stand die Sache noch nicht so schlimm. Es hieß »Die armenische


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