Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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wären es schwere Werkzeuge. Was ist das? Er stützte sie. Sie gingen in die Richtung, woher das höllische Geschrei kam. Nach wenigen Schritten schon erkannte er es:

      »Die Esel des Lagers! Sie sind toll geworden.«

      Und tatsächlich, als Gonzague und Juliette zum nahen Pflockplatz der Pack- und Reittiere kamen, hatten sie ein Bild wie aus einem wüsten Traum vor sich. Die braven Esel schienen in wilde Fabelwesen verwandelt zu sein, rissen an den Halftern, stiegen hoch, tanzten auf den Hinterbeinen und schlugen nach allen Seiten aus. Schaum troff aus ihren Lefzen, ihre Augen waren verglaster Schreck. Auch die langen Laute, die sie ausstießen, glichen eher einem trillernden Gewieher als dem ärmlichen Auf und Ab der Eselsprache. Ein Wahnsinnsphantom schien die Kreaturen in Angst versetzt zu haben. Es war kein Wahnsinn. Der Tierinstinkt hatte die Wirklichkeit knapp vor ihrem Eintreten vorausgefaßt. Fern, jenseits des Nordsattels, dröhnte ein breiter Schlag, nach einigen Atemzügen begann oben etwas näher zu rauschen, dann folgte ein kurzer, scharfer Knall und südab von der Stadtmulde stand in mäßiger Höhe eine schneeweiße Wolke. Die Esel schwiegen jäh. Ein sanftes Winseln und Flöten versäuselte ringsum. Die Menschen stürzten aus den Laubhütten. Nur die wenigsten wußten, was vorging, und daß dieses feine Wölkchen über dem Berg eine Schrapnellwolke war.

      Das Geschützfeuer überraschte auch Gabriel Bagradian im Lager.

      Er war müde, da er in der letzten Nacht kaum geschlafen hatte. Immer wieder waren beunruhigende Meldungen von den einzelnen Abschnitten eingetroffen. Ohne Zweifel trieben sich in den zwei letzten Nächten türkische Späher vor den Stellungen umher und versuchten durch die Postenkette zu schlüpfen. Bagradian hatte daher für die kommende Nacht die große Bereitschaft anbefohlen und einen ständigen Patrouillendienst eingesetzt. Als er gegen Mittag auf der Bank seines Hauptquartiers saß, um sich einen Augenblick auszuruhen, wurde er von einem qualvollen Wachtraum heimgesucht, Juliette lag tot auf dem breiten Bette des Pariser Schlafzimmers, und zwar querüber. Sie war mehr als tot, sie war gefroren, ein einziges Stück mattfleischfarbenen Eises. Um die Leiche seiner Frau aufzuschmelzen, sollte er sich neben sie legen ...

      Mühsam schüttelte er diesen Tagmahr ab. Es war klar, er benahm sich schlecht zu Juliette. Aus Feigheit wich er ihr aus, Gott weiß wie lange schon. Wenn sein Amt und sein Leben ihm jetzt auch keine Minute frei ließ, so war dies doch nicht der Grund, der seinem Gewissen standhalten konnte. Er entschloß sich daher, bis heute abend das Kommando an Nurhan Elleon abzugeben, um den Nachmittag mit Juliette zu verbringen. Im Zelt fand er sie nicht. Iskuhi trat gerade aus dem ihren. Bruder Aram war bei Howsannah. Sie wollte das Ehepaar nicht stören. Gabriel bat Iskuhi, bei ihm zu bleiben, bis Juliette heimkehre. Sie ließen sich auf den kurzgemähten Grasboden des Dreizeltplatzes nieder. Gabriel dachte angestrengt nach, was sich an Iskuhi so auffallend verändert haben könne. Ja, das war es, sie trug nicht mehr eines der Kleider, die ihr Juliette geschenkt hatte, sondern ein weites, großgeblümtes Gewand aus hellem, leichtem Stoff mit hoher Taille und Puffärmeln, das einen altmodischen Eindruck machte und auch der einheimischen Frauentracht nicht glich. Iskuhis zerbrechliche Gestalt war ihm früher oft arm und abgehärmt erschienen. Das bauschige Kleid aber verlieh ihr eine zarte schwebende Fülle und verbarg den gelähmten Arm. Noch nie habe ihr ernstes Gesichtchen so frei geleuchtet, dünkte es Gabriel, wie unter dem breiten Seidenschal, den sie über den Kopf geworfen hatte, um sich vor der Sonne zu schützen. Er sah mit Erstaunen, daß Iskuhi einen ziemlich großen und leidenschaftlichen Mund hatte. Einen roten Schleier müßte sie tragen, fiel ihm ein. Und da er heute seinen müden und träumerischen Tag hatte, erwachten in seinem Bewußtsein Bilder aus der Urzeit des Lebens:

      Yoghonoluk, das Haus des Großvaters. Auf dem weichen Grasboden des Parks ist das weiße Damasttuch für das Frühstück schon ausgebreitet. Alles erwartet ehrfürchtig Awetis Bagradian, den Alten, zur ersten feierlichen Mahlzeit des Tages. Auf dem Dreifuß dampft der silberne Teekessel. In Körben häufen sich Berge von Aprikosen, Weintrauben und Melonen auf flachen Schüsseln. Hölzerne Teller mit frischen Eiern, Honig und Aprikosenleder. Unter einer blendenden Serviette wartet das dünne Brot, das der Hausherr nach dem Gebete brechen wird. Gabriel ist acht Jahre alt und hat einen ähnlichen Entari-Kittel am Leib, wie Stephan ihn jetzt trägt. Wäre das Frühstück nur schon vorbei! Dann wird er sich auf den Hängen des Musa Dagh umhertreiben, um große Geheimnisse zu entdecken. Indessen schaut er gebannt auf das faltige Damasttuch. Vielleicht verbirgt sich eine große Schlange darunter. Ein goldenes Rauschen verkündet das Nahen des Großvaters. Doch sonderbar, der alte Awetis ist nichts anderes als dieses goldene Rauschen, er tritt aus ihm nicht hervor; sein goldener Klemmer an der Schnur, sein weißer Spitzbart, sein schwarz-gelber Morgenrock, seine roten Saffianschuhe werden nicht sichtbar, sein Bild bleibt verborgen, obgleich er mächtig da ist. Dafür aber sieht Gabriel, wie alle Frauen langsam den Schleier über den Kopf ziehen und dem Herrn ehrfürchtig den Rücken kehren, wie es sich geziemt. Ist das eine wirkliche Erinnerung oder nur eine aus Erinnerungsstücken falsch zusammengesetzte Einbildung? Gabriel wußte es nicht. Iskuhi aber war jedenfalls, unbekannt warum, dem Teppich seiner Urzeit eingewoben. Sie saß ihm gegenüber auf der Erde. In ihr Gesicht versunken, erinnerte er sich erst nach langer Zeit, daß man auch etwas sprechen müsse:

      »Was haben Sie zu Stephan, diesem Monstrum, gesagt, Iskuhi?«

      Sie spreizte die Finger der rechten Hand auseinander. Eine Geste des Unbehagens und der Mißbilligung:

      »Ich war entsetzt, Gabriel Bagradian, und ich war ganz verzweifelt, daß er es meinetwegen getan hat.«

      Er zögerte mit seinen Worten:

      »Auch ich war natürlich entsetzt. Die Folgen dieses Dummenjungenstreiches sind nicht auszudenken. Nun, Gott sei Dank ist es gut abgelaufen. Eine Warnung für mich! Man muß auf den Burschen besser achtgeben. Aber wie? Er ist in einem schrecklichen Alter.«

      Iskuhi bekam ihr altkluges Lehrerinnengesicht:

      »Ja, man muß sich mehr um Stephan kümmern. Der Himmel weiß, was in ihm vorgeht.«

      »Nicht nur der Himmel weiß es, Iskuhi. Auch ich kann mir ganz gut denken, was in ihm vorgeht ... Wenn er nicht mein Sohn wäre, würde mir der Streich ganz gut gefallen ...«

      Er ließ dieses Geständnis ausklingen und fragte erst nach einer kleinen Pause:

      »Und Ihre Bibel, Iskuhi? Ist sie wirklich die Dummheit wert, die Stephan begangen hat?«

      Iskuhi erhob sich schnell:

      »Ich hab sie sehr gern. Schon deshalb, weil sie mir Aram geschenkt hat. Wenn Sie wollen, so zeige ich sie Ihnen. Bitte, warten Sie.«

      Ohne eine Aufforderung abzuwarten, lief sie eilig ins Zelt und brachte das Buch. Jetzt setzte sie sich dicht neben Gabriel. Spitz stachen ihre kleinen Knie unter dem weichen Kleidstoff hervor. Sie wollte die Bibel aufschlagen, stutzte aber, als fürchte sie Gabriels strenges Urteil:

      »Künstlerischen Wert hat sie gar keinen, Gabriel Bagradian. Ich aber finde die Bilder hübsch ...«

      Gabriel beachtete die Bibel gar nicht, sondern ließ seinen Blick auf Iskuhis Mund verweilen:

      »Sie lieben Ihren Bruder wohl mehr als alles andre auf der Welt, wie?«

      Dies klang fast wie ein leichter Tadel. Iskuhi schlug ihr Lieblingsbuch angelegentlich auf, als spreche sie nicht gern über ihre Gefühle:

      »Wir sind aneinander sehr gewöhnt, Aram und ich. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.«

      Sie rückte noch ein bißchen näher und hielt ihm das erste Bild hin, damit er es bewundern könne. Gabriel, der etwas kurzsichtig war, neigte sich über den volkstümlichen Quartband, der aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts stammte. Die hellkolorierten kindlichen Bildchen besaßen einen gewissen Reiz. Sie erinnerten mit ihren gezierten Figuren, mit ihren schief schmachtenden Gesichtern, mit ihren blumigen Umrankungen an mittelalterliche Evangelienbücher. Der Charakter der Abbildungen war aber alles andre als freundlich fromm. Der armenische Maler hatte sich, der gepeinigten Volksseele entsprechend, mehr für die krassen, pathetischen oder kopfhängerischen Gegenstände entschieden, zumal was das Alte Testament anbetraf: Die Vertreibung aus dem Paradiese! Das lodernde Schwert war ein Krummsäbel und der Erzengel trug eine Glorie, die einem diamantgeschmückten


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