Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch) - Franz Werfel


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die Männer der Südbastion verteilt werde, an Tunichtgute und unsichere Kantonisten also. Sie durften nun im Rauche schwelgen wie nicht einmal in ihren besten Lebenszeiten. Dieses Wohlbehagen sollte es verhindern, daß sie auf unnütze Gedanken kämen. Auch Sarkis Kilikian lag, vom Tabakgenuß völlig ausgefüllt, auf dem Rücken und schien gegen die Weltordnung derzeit nichts einzuwenden haben. Lehrer Hrand Oskanian freilich war Nichtraucher.

      Diesen leichtsinnigen, aber lebensfördernden Maßnahmen standen zwei andre bedachtsame und nächtige gegenüber. Ter Haigasun hatte sie in einem langen Zwiegespräch dem Arzte abgerungen. Altounis Gesicht, runzlig wie ein welkes Blatt, wurde immer trockener und brauner. Ein Husten erschütterte seinen dürren Brustkasten, das tiefere Unbehagen verschleiernd. Sowenig Bedros Hekim auch vom Leben hielt, er hatte mit letzter Kraft für seine Erhaltung hier oben gekämpft. Jetzt aber mußte er einsehen, daß Ter Haigasun im Recht war. Die Umstände vertauschten die Rollen der beiden Männer. In dieser Sache entschied der Priester gottloser als der Arzt.

      Am vierunddreißigsten Exilstag, vierundzwanzig Stunden nach Krikors Tod, befanden sich auf dem Infektionsplatz etwa zweihundert Kranke, im und um den alten Lazarettschuppen aber mehr als hundert, außer den Schwerverwundeten jene Entkräfteten zumeist, die während der Arbeit oder auf dem Wege zusammengebrochen waren. Angesichts eines Volkes von fünftausend Seelen konnte dieser Krankenstand, zu dem ja auch die Verwundeten gehörten, noch immer nicht beängstigend erscheinen. An diesem Tage aber schoß, unvermittelt und unbegründet, die Kurve der Sterblichkeit wild in die Höhe. Bis zum Abend erloschen dreiundvierzig Menschenleben, und es war zu erwarten, daß ihnen im Laufe der nächsten Stunden noch manche folgen würden. Der Friedhof genügte längst nicht mehr, um so vielen neuen Gästen Herberge zu geben. Der Rand der verhältnismäßig tieferen Erdschicht war schon überschritten. Jetzt stieß der Spaten bereits unter vier Fuß auf den Kalkknochen des Damlajik. Man hätte sich demnach im Umkreis der Möglichkeiten auf die Suche nach einem günstigeren Boden für die ewige Ruhestatt begeben müssen. Dieser aber wäre kaum zu finden gewesen. Auch war's angezeigt, mit der verbrauchten Arbeitskraft höchst vorsichtig umzugehen und sie nicht an den Tod zu verschwenden. Da sich überdies in den Butten kein Körnchen der alten Heimaterde mehr fand, die Ter Haigasun den Abgeschiedenen hätte mitgeben können, blieben diese ganz und gar auf Gottes Allwissenheit angewiesen, daß Er beim letzten Gericht erkenne, wohin sie gehörten. Es blieb demnach gleichgültig, wie und wo sich die Toten nach den Tagen des Musa Dagh ausschliefen. Ihr Schlaf würde ja nach all dem Erlebten tief und fest sein.

      Ter Haigasun führte daher eine neue Begräbnisart ein, ohne sie dem Volke des langen und breiten vorher zu verlautbaren. In später mondloser Nacht wurden die Leichen gesammelt und auf die Schüsselterrasse getragen, die ja wie ein riesiger Schiffsschnabel weit ins Meer hinausragte. Alles mußte mit Hand anlegen, die Pfleger, das Friedhofsvolk und was sonst noch auf der Nachtseite des Lagerlebens beschäftigt war. Drei- und viermal wurde der Weg zurückgelegt, ehe alle Toten in ihren zugebundenen Hemdsäcken auf dem nackten Felsen nebeneinander lagen.

      Seit Neumond hatte das Wetter umgeschlagen. Kein Regen zwar, doch über die Kuppen des Musa Dagh fegte ein unwilliger und aufsässiger Wechselsturm, manchmal als atemberaubender Steppenwind, manchmal als schaumiger Schirokko von der See her, doch immer wieder sich drehend, als wollte er die gebundeneren Elemente, Erde und Wasser, zum Narren halten. Hätte Gabriel Bagradian die Stadtmulde nicht so günstig gewählt, keine einzige Hütte wäre stehengeblieben. Auf der ausgesetzten Schüsselterrasse schien der Sturm seinen Horst zu haben. Wenn er den Felsen ansprang, konnten sich die Menschen kaum aufrechterhalten. Die Fackeln und Kirchenkerzen, die das Gefolge trug, wurden im ersten Augenblick ausgeblasen. Nur das silberne Rauchfaß, das der Diakon dem Priester hinhielt, erschimmerte leicht. Ter Haigasun ging mit kleinen Schritten, einsegnend, von einem Toten zum andern. Nunik, Wartuk und Manuschak waren über die Art dieses Begräbnisses äußerst ungehalten, übten aber, da sie auf dem Damlajik nur geduldet waren, keine Kritik. Sie beeilten sich, die Verfehlung des Priesters an den hilfsbedürftigen Seelen gutzumachen, indem sie inbrünstiger als sonst in ihre altheilige Klage ausbrachen. Die erbosten Windstöße nahmen frech den Wettstreit auf. Es kam dabei ein Geheul heraus, das keiner Seele in dem Kampf gegen die niederziehenden Höllengewalten helfen konnte. Zwei Männer hoben den ersten Toten an Schultern und Füßen hoch und trugen ihn an die Kante der Felsnase heran. Dort aber stand ein mächtiger Kerl auf gespreizten Beinen, fühllos gegen den Sturm, die Hände wie zwei große ungegliederte Lattichblätter in Bereitschaft erhoben. Dies war Kework, der Tänzer mit der Sonnenblume, der Kretin. Man hatte ihm sein Amt mit einiger Mühe klargemacht. Endlich war er zum Verständnis gelangt, erfreut nickend: »O ja, ganz wie auf den Schiffen ...« Dabei hörte man zum erstenmal, daß Kework in seiner Jugend auf einem Kohlenkutter das Schwarze Meer befahren hatte. Der Schwachsinnige besaß ein diensteifriges Herz, und nichts befriedigte sein Gemüt mehr, als wenn er sich nützlich erweisen konnte und ihm eine Arbeit anvertraut wurde. Die Art dieser Arbeit spielte keine Rolle. Alle anderen Männer machten hierbei Unterschiede. Für die Mitglieder der hohen Kriegerkaste, für die Leute aus den Zehnerschaften des ersten Treffens, galten alle Arbeiten, die nicht unmittelbar mit der Verteidigung zusammenhingen, für entwürdigend. Die Angehörigen der Reserve wiederum fanden die Tätigkeit der Metzger, Feueranzünder, Krankenpfleger unter ihrem Rang. Diese ihrerseits blickten verächtlich auf die Totengräber herab. Kraft eines unverwüstlichen Menschheitsgesetzes hatte sich auch auf dem Damlajik eine Hierarchie herausgebildet, deren Gründe hier ebenso unklar waren wie anderswo. Kework der Tänzer aber stand mit Sato und einigen andern Bettlern, Krüppeln, Geisteskranken jenseits dieser Stufenleiter. Wenn man ihm Arbeit gab, erhob man Kework über seine Klasse und adelte ihn gewissermaßen zum Proleten. Er fühlte sich erwünscht, gebraucht und mithin beglückt. Auch jetzt war dem so. Kework ließ es nicht zu, daß ihm ein andrer auch nur den kleinsten Anteil seiner Würdigkeit raubte. Er nahm den Leichnam in Empfang und stieß die beiden Männer, die ihm helfen wollten, mit den Ellenbogen zurück. Das Meer schien noch eine Sternspur der vergangenen hellen Nächte zu bewahren. Von den weißen Kämmen draußen stieg eine Lichtahnung auf und ließ die Gestalt des Tänzers scharf hervortreten. Einige Laternen bezeichneten den drohenden Rand des Felsens. Trotz der Laterne aber war's ein grausam gefährliches Werk, das man Kework aufbürdete. Die Schüsselterrasse lag nämlich auf der sogenannten Hohen Wand, die vollkommen lotrecht mehr als vierhundert Meter in die Tiefe sauste. Unten hatte sich das Meer so tief in den Fuß der Hohen Wand eingefressen, daß die Felsplatte wirklich wie auf einer ausgestreckten Hand frei im Raume schwebte und die Brandung von oben nicht sichtbar war. Ein falscher Schritt auf diesem gigantischen Schiffsbug, und der schnellste und gründlichste Tod war sicher. Den Tänzer aber faßte jetzt in tiefer Nacht keine Angst und nicht der leiseste Schwindel an, während sich die andern Männer eilig zurückzogen. Auf dem schmalen, schwacherleuchteten Rande tanzte er wirklich und wiegte sich und den Toten, einer gewaltigen Amme gleich. Seine Hände schwangen den entseelten Körper, der in seinem dreifach zugeknöpften Hemd noch durch einen Stein beschwert war, leicht und wägend hin und her, ehe sie ihn mit einem flachen unglaublichen Schwung weit hinausschleuderten. Der Leichnam versank lautlos und unsichtbar in der Nacht. Kework hatte, trotz der lächerlich geringen Nahrung, die ihm seit vielen Tagen zugewiesen wurde, nichts von seiner Kraft verloren. Als er, nach einer Stunde etwa, sich rhythmisch auf seinen gespreizten Beinen wiegend, den dreiundvierzigsten Toten mit leichtem Schwung in der Unendlichkeit verschwinden ließ, schien er dann über die leeren Hände und die beendete Arbeit sehr traurig zu sein. Gerne hätte er vierhundert, tausend, das ganze Volk so sanft gewiegt und zur Ruhe gebracht. Ein unbeteiligter Zeuge wäre erstaunt gewesen, wie ohne Grauen diese Bestattung war, ja wie schön.

      Nicht hierum jedoch hatte es sich in dem Gespräch zwischen Ter Haigasun und Bedros Hekim gehandelt, denn dieser kämpfte nicht um die Toten, sondern um diejenigen, welche noch lebten. Der Priester vertrat die für seinesgleichen kühne Meinung, es sei besser, die Kranken, die sich schon hoffnungslos an der Grenze befänden, ruhig hinüberzulassen, jene vor allem, die nicht bei Bewußtsein waren oder wunschlos vor sich hin dämmerten. Der Arzt gab zu, daß die Kranken in diesem Zustand nicht nur nicht nach Nahrung verlangten, sondern sich wehrten, wenn ihnen die Pfleger die kärgliche Milch oder Suppe brachten. Sie würden darunter nicht leiden, wenn man sie ohne Unterbrechung träumen und im Traum verschmachten ließe. Ter Haigasun dachte dabei am wenigsten an den Verpflegungsgewinn für die gesunden Kinder, auch die Entlastung der Lebensfähigen von den Todgeweihten bekümmerte


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