Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch) - Franz Werfel


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dem Wege zusammengebrochen, zweihundert Schritt etwa vom Zelt entfernt. Sie kauerte im bloßen Hemd neben einem Strauch, die abgezehrten Beine ans Kinn gezogen. Auf ihrer Stirn perlte noch immer der Todesschweiß, doch ihre offenen Augen waren wieder fern und stumpf.

      Axtschläge hämmerten fern von den Nordhöhen des Musa Dagh zum Sattel herüber. Die Türken fällten die Steineichen des Berges. Bauten sie Geschützstände? Oder errichteten sie ein befestigtes Lager, um für den neuen Angriff einen Rückzugspunkt zu besitzen und nicht wie bisher die Höhen in der Nacht verlassen zu müssen oder einem Überfall ausgesetzt zu sein? Man entsandte Kundschafter, um den Bergrücken jenseits des Nordsattels auszuforschen, vier der bewährtesten Jungen aus der Spähergruppe. Sie kehrten nicht mehr zurück. Die weite Hochfläche, die noch vor einigen Tagen bis nach Sanderan auf der einen und zum Ras el Chansir auf der andern Seite einen freien Ausweg geboten hatte, war nun tödlich versperrt. Tiefste Bestürzung! Man schickte Sato, die Meisterspionin, aus. Um die war's nicht schade. Sie kehrte auch zurück. Doch man konnte von ihr nichts Brauchbares erfahren. »Viele tausend Soldaten!« Satos Zahlenbegriffe waren höchst unzuverlässig und beschränkten sich nur auf die kleinsten und größten Bezeichnungen. Über die Tätigkeit dieser »vielen tausend« gab sie nur unklare Nachricht: »Sie rollen Holz« oder »sie kochen«. Die Aufgabe schien sie nicht besonders interessiert zu haben. Hingegen hatte sie für ihre Person Beute gemacht: ein Fladenbrot, eine große knusprige Scheibe. Sie hielt es fest an ihren Vogelleib gedrückt, der noch immer in dem artigen Hängekleidchen steckte, das freilich in den wildesten Fetzen und Drapierungen ihre abstoßende Nacktheit umschlotterte. Das Brot war von Satos Rattenzähnen rings angefressen, nicht an zwei oder drei Stellen, sondern an zehn, in gar nicht menschlicher Art. Sie ließ Nurhan Elleon und die andern, die sie ausholten, alsbald stehen und verschwand unauffindbar. Niemand sollte von ihrem Schatz auch nur einen Bissen abbekommen, keiner von der Jugendkohorte und am allerwenigsten Iskuhi. Mit dieser erging es Sato ähnlich wie Lehrer Oskanian mit Juliette. Sie hätte die Kütschük Hanum von einst am liebsten auch an zehn Stellen angebissen, mit wutvergifteten Zähnen. Was aber das Brot anbelangt, so konnte sich Sato doch nur an einem Viertel des Fladens mästen. Vor Nunik gab es nämlich keinen Schwindel und kein Versteck. Sie war allwissend, und schlimmer noch, sie forderte das Ihre, ohne gegenwärtig zu sein. Sato war gezwungen, das abseitige Lager ihrer Freunde aufzusuchen, ob sie wollte oder nicht. Die Allwissende aber schien sie schon zu erwarten. Sie stand im Winde, der ihr ganzes Zunderkleid zurückwehte, und streckte ihre Hände nach Satos Beute aus.

      Dies geschah am sechsunddreißigsten Tag des Lagers und am vierten des Septembermonats. Man hatte des Morgens an jede Familie die vorschriftsmäßige Portion Eselfleisch ausgegeben. Niemand aber wußte, ob es nicht das letztemal sei. Zugleich meldeten alle Beobachtungsstände, daß die Dörfer und die ganze Talsohle so belebt seien wie noch nie. Doch nicht nur neues Militär und neue Saptiehs bewegten sich dort, sondern eine Menge von neugierigem Gesindel habe sich wieder aus den muselmanischen Ortschaften zusammengerottet. Die Ursache dieser Neugier entpuppte sich schnell. Als Samuel Awakian, mit Gabriels Feldstecher ausgerüstet, die große Kuppe erstieg, um die Lage aufzuklären, stürzten ihm die Beobachter erregt entgegen. Etwas ganz und gar Neuartiges hat sich ereignet. Die meisten der Dorfbewohner sahen ein solches Ding zum erstenmal. Es hielt gerade auf der großen Straße von Antakje nach Suedja am Ortseingang des Fleckens Jedidje, wo es von einer kleinen Abteilung Kavallerie erwartet wurde. Awakian erkannte in seinem Fernglas ein kleines graues Militärautomobil, das die Bergengen bei Ain el Jerab mit Todesverachtung überwunden haben mußte. Drei Offiziere kletterten aus dem Wagen und bestiegen die für sie bereitgehaltenen Pferde. Die kleine Reiterschar bog sogleich ins Dörfertal ein. Voran trabten die Offiziere, hinterher die Kavalleristen, in einigen Minuten schon mußten sie Wakef erreichen. Der mittlere Offizier war den zwei anderen stets um eine halbe Pferdelänge voraus. Während diese die üblichen Astrachanmützen trugen, hatte er eine feldgraue Kappe auf dem Kopf. Deutlich sah Awakian die roten Generalstreifen an seinen Reithosen. Die Kavalkade durchtrabte ohne Aufenthalt die Dörfer. Kaum eine Stunde brauchte sie, um Yoghonoluk zu erreichen. Auf dem Kirchplatz wurden der General und seine Begleitoffiziere von einigen Herren schon erwartet. Ohne Zweifel war es der Kaimakam von Antakje, der mit dem Müdir und anderen Beamten den Generalpascha samt seinem Gefolge in die Villa Bagradian führte. Das große Ereignis wurde sofort dem Befehlshaber gemeldet. Samuel Awakian ließ auf eigene Verantwortung den großen Alarm verkünden. Gabriel billigte diese Maßregel nachher. Er verstärkte sie sogar, indem er anordnete, daß von Strand an das Lager für alle Zeit unter Alarm stehe, gleichgültig, ob sich irgend etwas ereigne oder nicht. Awakian aber verriet er seine Überzeugung, daß die Türken noch lange nicht fertig seien und daß sich weder heute noch morgen, wahrscheinlich auch in den nächsten Tagen nichts ereignen werde. Die Tatsachen schienen ihm recht zu geben. Nach zweistündigem Aufenthalt in der Villa bestiegen die fremden Offiziere ihre Pferde und verritten in noch schärferem Trab als bei der Ankunft nach Jedidje. Sie hatten kaum einen halben Tag auf dem Kriegsschauplatz geweilt, als der kleine, verzweifelt ratternde Kraftwagen sie wieder nach Antakje entführte. Der Kaimakam begleitete die Herren in seine Hauptstadt zurück.

      An demselben Tage erhob sich Gabriel Bagradian aus dem Schmerz um seinen Sohn und ermannte sich. Der kriegerische Teil seines Wesens, den die Verschickung in ihm erweckt hatte, gewann noch einmal Macht. Er hatte übrigens schon die letzte Nacht wieder in der Nordstellung verbracht. Da aber wegen der unfreundlichen Gesinnung gegen den Dreizeltplatz die Frauen nicht ohne Schutz bleiben sollten, beurlaubte er Kristaphor und Missak vom Nachtdienst in der Stellung, damit sie für die Sicherheit der Zelte sorgten. Im übrigen hatte Mairik Antaram die Witwe Schuschik zum Pflegedienst herangezogen, wodurch noch zwei weitere schützende Arme von männlicher Kraft zur Verfügung waren.

      Gabriel gelang es von einer Stunde auf die andre, sein inneres Leben völlig auszuschalten. Der Schmerz war da, doch nur als ein dumpf entferntes Bewußtsein, wie eine wunde Körperstelle, die man durch eine Einspritzung betäubt hat. Und wieder stürzte er sich mit wilder Leidenschaft in die Arbeit. Er schien sich durch einen jähen Willensentschluß vollständig erholt zu haben, ja straffer und unbeugsamer geworden zu sein als früher. Erst in diesem Augenblick wurde es ihm klar, welchen unschätzbaren Beistand er an seinem Adjutanten, oder besser, an seinem Stabschef Awakian besaß. Dieser Nimmermüde, dieses seltsam unpersönliche Ich, das in keiner Minute – obgleich den meisten Führern an Wissen und Intelligenz himmelhoch überlegen – sich eine Führerrolle angemaßt hatte, bewies eiserne Kräfte. Awakian war es mehr als Nurhan Elleon zu verdanken, daß die Feldordnung und die Mannszucht unter den Zehnerschaften bisher noch keinen ernsten Schaden genommen hatte. Manche zerrissen sich zwar den Mund über den ungelenken »Büchermacher« mit der Brille, denn überall, wo Waffen getragen werden, stellt sich sogleich eine spöttische Geringschätzung des Intellekts ein. Und dennoch, wenn Awakian in den Stellungen auftauchte, breitete sich ein beinahe behaglicher Eifer aus, jene kostbare Soldatenstimmung, die man Vertrauen in die Führung nennt. Das kam daher, weil der Adjutant, selbst in Abwesenheit des Kommandanten, Bagradians Überlegenheit widerstrahlte wie ein Licht. Auch Awakian konnte seit Stephans Tod keinen Schlaf mehr finden. Leiden und Schuldgefühl peinigten seine Seele. Vier Jahre hatte er im Hause Bagradian gelebt und Stephan liebgehabt wie einen kleinen Bruder. Immer wieder mußte er die Zähne zusammenpressen, und das Blut schoß ihm in den Kopf. Wäre es nicht möglich gewesen, das Unglück zu verhindern? Warum hatte er an jenem furchtbaren Tag nicht gespürt, was in dem Jungen vorging? Eine Gewissenlosigkeit, die er sich nie würde verzeihen können. Nie?? Ah, das blieb ja der einzige Trost, daß dieses Nie nur eine Sache von wenigen Tagen war und daß dadurch alles, alles leichter wog. Samuel Awakian ließ sich nichts anmerken und erwähnte im Verkehr mit Gabriel den Namen Stephans nicht. Doch ebensowenig kam dieser Name über des Vaters Lippen. Dennoch oder gerade deswegen spannte Awakian seine letzte Energie an, um Gabriel zu dienen. Er hatte unter anderem auch eine neue Evidenzliste der Zehnerschaften angelegt. Bagradian konnte ihr entnehmen, daß die Zahl der Kämpfer auf etwa siebenhundert gesunken war. Die große Lücke, die der Tod gerissen hatte, bedeutete aber keine wesentliche Verminderung der Kampfkraft. Mit den frei gewordenen Gewehren konnten die besten Männer der Reserve ausgerüstet werden. Und dann! Die Verteidigungsfront hatte sich ja dank dem Waldbrand auf einige wenige Abschnitte verengt. Die Steineichenschlucht war noch immer ein einziger Ofen voll glühender Kohlen. Diese Heizung spürte man in der Stadtmulde nach wie vor, wo sie zumeist gegen Abend die Gemüter aufstachelte. Gleichviel, die schwächste


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