Anne in Ingleside. Lucy Maud Montgomery
Читать онлайн книгу.durfte er doch nicht weinen.
„Sollen wir dich mal grün und blau zwicken?“ fragte Andy nun. Walter war in seinen Augen ein Schlappschwanz, und ihn zu ärgern würde einen Mordsspaß machen.
„Ruhe!“ befahl Alice da streng, sehr streng, und doch klang es sanft. Es lag aber etwas in ihrem Ton, das selbst Andy kleinlaut werden ließ.
„Hab ich ja nicht so gemeint“, murmelte er eingeschüchtert.
Jetzt standen die Karten für Walter schon günstiger, und das Spiel, das sie anschließend gemeinsam im Obstgarten spielten, verlief tatsächlich einigermaßen friedlich. Aber als dann alle zum Abendessen ins Haus stürzten, überkam Walter wieder das Heimweh. Es war so schrecklich, daß er größte Mühe hatte, nicht vor allen anderen loszuheulen … wenn nicht Alice ihn freundschaftlich am Arm gestupst hätte, als sie sich an den Tisch setzten. Aber er konnte trotzdem nichts essen, es ging einfach nicht. Mrs. Parker zwang ihn nicht – um so größer würde sein Appetit beim Frühstück sein —, und die anderen waren zu sehr mit Essen und Schwatzen beschäftigt, als daß sie ihm besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Walter fragte sich, warum sie sich alle eigentlich so anschrien. Er konnte nicht wissen, daß eine taube alte Großmutter mit im Haus gelebt hatte, die erst vor kurzem gestorben war. Sie schrien aus Gewohnheit. Er bekam richtig Kopfschmerzen davon. Wenn er sich vorstellte, wie die anderen jetzt in Ingleside beim Abendessen saßen: Mama würde am Tischende sitzen und in die Runde lächeln, Papa würde mit den Zwillingen Spaß machen, Susan würde Shirleys Milchfläschchen zubereiten, Nan würde kleine Leckerbissen Für Krabbe unter den Tisch schmuggeln. Sogar Tante Mary Maria, die ja zur Zeit dazugehörte, war plötzlich in seiner Vorstellung von zärtlichem Glanz umgeben. Wer wohl diese Woche den Gong schlagen durfte? Eigentlich war er dran, und Jem war auch nicht da. Wenn er sich doch bloß verkriechen könnte, um zu weinen! Aber in Lowbridge schien es nicht einen einzigen Platz zu geben, an dem man seinen Tränen hätte freien Lauf lassen können. Außerdem … da war schließlich Alice … Walter kippte ein Glas Wasser in einem Zug hinunter und stellte fest, daß das half.
„Unsere Katze kann Veitstänze vollführen“, sagte Andy plötzlich und versetzte ihm einen Fußtritt unter dem Tisch.
„Unsere auch“, erwiderte Walter. Krabbe hatte schon zweimal einen solchen Anfall gehabt. Und er sah nicht ein, daß die Ingleside-Katzen den Lowbridge-Katzen in irgendeiner Art nachstehen sollten.
„Ich wette, unsere Katze kriegt schlimmere Anfälle als eure“, spottete Andy.
„Ich wette, das tut sie nicht“, gab Walter ungerührt zurück.
„Na, na, jetzt hört doch auf mit euren Katzen“, sagte Mrs. Parker, die nach dem Essen in Ruhe ihren Artikel über ‚mißverstandene Kinder‘ zu schreiben gedachte. „Geht raus und spielt. Ihr müßt sowieso bald ins Bett.“
Bett! Plötzlich fiel Walter ein, daß er ja auch die Nacht hier verbringen mußte, mehrere Nächte sogar, vierzehn Nächte. Entsetzlich. Er marschierte mit geballten Fäusten hinaus in den Obstgarten. Dort gab es gerade eine wüste Balgerei zwischen Bill und Andy.
„Du hast mir einen Apfel mit Wurm gegeben, Bill Parker!“ heulte Andy. „Ich werd dich lehren, mir wurmige Äpfel zu geben, ich beiß dir die Ohren ab!“
Streitereien wie diese waren bei den Parkers an der Tagesordnung, und Mrs. Parker nahm das daher nicht sonderlich ernst. Sie sagte, es täte ihnen gut, sich ab und zu auszutoben; um so umgänglicher seien sie hinterher. Aber Walter waren solche Kämpfe fremd, und er schaute entsetzt zu.
Fred feuerte die beiden noch an, und Opal und Cora lachten nur. Aber Alice hatte Tränen in den Augen. Das war für Walter zuviel. Er stürzte sich zwischen die beiden Kämpfer, die gerade eine kurze Verschnaufpause eingelegt hatten, um dann von neuem loszulegen.
„Hört sofort auf!“ rief er. „Ihr macht Alice angst.“
Bill und Andy starrten ihn entgeistert an. Dann brachen sie ob dieses wagemutigen Eingriffs in lautes Hohngelächter aus, und Bill versetzte ihm einen Klaps auf den Rücken.
„Der Kleine hat ganz schön Mumm, Leute“, rief er. „Aus dem wird noch mal was. Da hast du ein Äpfelchen, ganz ohne Wurm. “Er warf ihm einen zu.
Alice wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und blickte mit solcher Bewunderung zu Walter auf, daß jetzt Fred wütend wurde. Natürlich war Alice noch ein Baby, aber auch Babys stand es nicht zu, anderen Jungen bewundernde Blicke zuzuwerfen, solange er, Fred Johnson aus Montreal, zugegen war. Das konnte er nicht auf sich sitzenlassen. Fred hatte vorhin, als er im Haus war, gehört, wie Tante Jen Onkel Dick etwas zugeraunt hatte, während sie telefonierte …
„Deine Mutter ist schwer krank“, sagte er mit Betonung zu Walter.
„Das… das glaub ich nicht“, rief der erschreckt.
„Stimmt aber. Ich hab genau gehört, wie Tante Jen es zu Onkel Dick gesagt hat. Und daß sie wahrscheinlich schon tot ist, wenn du heimkommst.“
Walter blickte in Panik um sich. Wieder hielt nur Alice zu ihm, und wieder schlugen sich die anderen auf Freds Seite. Dieser niedliche Junge hatte etwas an sich, was sie reizte.
„Wenn sie krank ist“, sagte Walter ernst, „dann wird mein Vater sie heilen.“ Er wird nicht, er muß! dachte er insgeheim.
„Ich fürchte, das wird nicht möglich sein“, sagte Fred und machte ein bedauerndes Gesicht, während er gleichzeitig Andy zuzwinkerte.
„Für meinen Vater ist nichts unmöglich“, sagte Walter beharrlich, wurde aber schon unsicher.
„Russ Carter ist letzten Sommer nur für einen Tag nach Charlottetown gefahren, und als er zurückkam, war seine Mutter mausetot“, mischte Bill sich ein.
„Irgendwas passiert immer, wenn man von zu Hause weggeht“, sagte auch Opal. „Was würdest du sagen, wenn du heimkommst und Ingleside ist abgebrannt?“ Sie lachte hämisch.
„Wenn deine Mutter stirbt, wird man euch Kinder wohl trennen“, meinte Cora fröhlich. „Vielleicht wohnst du dann bei uns.“
„Au ja, bitte“, rief Alice voll Freude.
„Na, ich glaube, sein Vater wird sie alle behalten“, überlegte Bill. „Wahrscheinlich wird er bald wieder heiraten. Aber vielleicht stirbt er ja auch. Ich hab gehört, wie Papa sagte, Dr. Blythe arbeitet sich noch zu Tode. Jetzt seht ihn euch bloß mal an. Du hast ja richtige Mädchenaugen, Kleiner, Mädchenaugen, Mädchenaugen!“
„Jetzt halt endlich die Klappe!“ rief Opal, die plötzlich genug von dem Spielchen hatte. „Hör auf, dich über ihn lustig zu machen. Er weiß doch ganz genau, daß du ihn bloß ärgern willst. Laß uns lieber runter zum Park gehen und das Baseball-Spiel ansehen. Walter und Alice können ja hierbleiben. Wir können schließlich nicht ständig kleine Kinder mit uns rumschleifen.“ Sie drehte sich um und ging. Die anderen folgten.
Walter war nicht gerade betrübt darüber, daß sie gingen, ebensowenig Alice. Sie setzten sich auf einen Baumstamm und musterten sich mit scheuen Blicken. „Ich zeig dir das Knöchelspiel“, sagte Alice dann, „und ich leih dir mein Plüschkänguruh aus.“
Als es Bettzeit war, wurde Walter in einem kleinen Nebenzimmer untergebracht, wo er allein schlafen sollte. Mrs. Parker stellte ihm rücksichtsvollerweise eine Kerze hin und gab ihm eine warme Steppdecke. Die Nacht war ungewöhnlich kalt, obwohl es mitten im Juli war. Es sah fast so aus, als würde es Frost geben.
Aber Walter konnte nicht schlafen, trotz Alices Plüschkänguruh, das er an sich kuschelte. Ach, wenn er doch bloß jetzt zu Hause sein könnte! Dann würde Mama wie immer zu ihm ans Bett kommen und ihm mit ihrer lieblichen Stimme Gedichte vorlesen.
„Ich bin ein großer Junge, ich weine nicht… ich www…“ Und schon kullerten die Tränen. Was nützte da ein Plüschkänguruh? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, seit er von zu Hause fort war.
Es dauerte nicht lange, da kamen die anderen Kinder aus dem Park zurück und versammelten sich äpfelessenderweise um sein Bett.
„Du hast wohl geweint, Babylein“, meinte Andy spöttisch.„Du bist ein