Anne in Ingleside. Lucy Maud Montgomery

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Anne in Ingleside - Lucy Maud Montgomery


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wurde, und da war er nicht mehr da. Zuerst habe ich mir keine großen Gedanken gemacht, erst als ich ihn nirgendwo entdecken konnte. Ich hab sämtliche Zimmer durchsucht…und er hat noch gesagt, daß er weglaufen will…“

      „Unsinn!“ unterbrach Anne sie. „Das würde er nicht tun, Susan. Bestimmt machst du dir unnötig Sorgen. Er muß doch irgendwo in der Nähe sein. Vielleicht ist er eingeschlafen, er muß irgendwo in der Nähe sein.“

      „Aber ich habe alles durchsucht“, beharrte Susan.„Sogar den Garten und die Ställe und Schuppen. Sehen Sie sich bloß mein Kleid an. Mir fiel ein, daß er mal gesagt hat, er würde furchtbar gern auf dem Heuboden schlafen. Also habe ich auch da nachgesehen, und dabei bin ich durch die Luke in den Futtertrog gefallen – ausgerechnet mitten in ein Nest mit Eiern. Zum Glück hab ich mir nicht das Bein gebrochen, wenn man überhaupt noch von Glück reden kann, wo doch Jem verschwunden ist.“ Sie wischte sich über die Augen.

      Anne ließ sich noch immer nicht aus der Ruhe bringen.

      „Meinst du, er könnte womöglich doch mit den anderen Jungen zum Hafen gegangen sein, Susan? Er ist zwar bisher nie ungehorsam gewesen, aber wer weiß…“ Sie überlegte.

      „Nein, das sicher nicht, Jem ist nicht ungehorsam gewesen. Ich bin nämlich noch zu den Drews rübergelaufen, nachdem ich überall nach ihm gesucht hatte, und Bertie Shakespeare war gerade heimgekommen. Er sagte, Jem wäre nicht bei ihnen gewesen. Mir wurde ganz anders zumute. Wo Sie ihn mir doch anvertraut hatten … na, und dann hab ich überall rumtelefoniert, aber vergeblich. Dann bin ich noch mal ins Dorf runtergegangen, die Männer suchen jetzt nach ihm …“ Susans Stimme schwankte.

      „Ach, Susan, war das wirklich nötig?“ fragte Anne zögernd und ließ sich auf einen Stuhl nieder.

      „Aber liebe Frau Doktor, ich hab doch überall nachgesehen“, verteidigte sich Susan, „an allen Stellen, die in Frage kommen. Sie glauben ja nicht, was ich heute abend ausgestanden habe! Und dann hat er noch gesagt, er springt in den Teich!“

      Anne fuhr unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Natürlich würde Jem nicht in den Teich springen, das ganz bestimmt nicht, aber es gab dort ein altes Boot, mit dem Carter Flagg immer zum Fischen hinausfuhr. Vielleicht war Jem in seiner trotzigen Stimmung da hineingestiegen, um damit umherzurudern. Er hatte oft davon gesprochen. Womöglich war er bei dem Versuch, das Boot loszubinden, ins Wasser gefallen. Plötzlich bekam Anne es mit der Angst zu tun. Sie sprang auf und rannte zur Tür.

      ‚Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo Gilbert jetzt hingefahren ist‘, schoß es ihr noch durch den Kopf.

      „Was ist denn nun schon wieder los?“ rief Tante Mary Maria, die plötzlich auf der Treppe stand, den Kopf umrahmt von einem Lockenwicklerkranz und eingehüllt in einen mit Drachen bestickten Morgenmantel. „Hat man denn in diesem Haus niemals seine Ruhe?“ Anne würdigte sie keiner Antwort und lief die Treppe in den ersten Stock hoch. „Jem ist verschwunden“, sagte Susan statt dessen, immer noch starr vor Schreck. „Seine Mutter hatte ihn mir anvertraut.. “Sie begann noch einmal die Geschichte zu erzählen.

      Anne hatte sich mittlerweile selbst auf die Suche gemacht. Irgendwo mußte Jem doch stecken! Aber in seinem Zimmer war er nicht, das Bett war unberührt, im Zimmer der Zwillinge war er nicht… in ihrem nicht… er war… er war einfach nirgendwo im Haus. Nachdem Anne auch noch den Dachboden und den Keller durchforstet hatte, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Jetzt war sie doch der Verzweiflung nahe.

      „Ich will dich ja nicht in Unruhe versetzen, Annie“, raunte Tante Mary Maria in unheilvollem Ton, „aber hast du schon in der Regentonne nachgesehen? Der kleine Jack MacGregor ist letztes Jahr in einer Regentonne ertrunken.“

      „Ich, ich hab schon nachgesehen“, gestand Susan kleinmütig. „Ich … ich hab mit einem Stock… drin rumgestochert…“ Sie stockte, als sie Annes Gesicht sah, der bei Tante Mary Marias Frage fast das Herz stillgestanden hatte. Sofort versuchte Susan, sich zusammenzunehmen, weil ihr plötzlich einfiel, daß die Frau Doktor schließlich schwanger war und geschont werden mußte.

      „Wir wollen versuchen, uns zusammenzureißen“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Denn wie Sie schon sagten, liebe Frau Doktor, irgendwo muß er ja sein. Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.“ Sie erkrampfte nervös ihre Hände im Schoß.

      „Habt ihr im Kohlenkasten nachgesehen? Und in der Standuhr?“ fragte Tante Mary Maria, die das alles ja längst geahnt hatte – in so einem Haushalt!

      Im Kohlenkasten hatte Susan tatsächlich nachgesehen, aber an die Uhr hatte keiner gedacht. Für einen kleinen Jungen war sie als Versteck wirklich groß genug. Anne rannte auch sofort hin, ohne sich zu überlegen, daß Jem darin niemals vier Stunden kauernd durchgestanden hätte. Natürlich war er nicht in der Uhr.

      „Ich wußte ja, daß heute noch was passieren würde, als ich zu Bett ging“, sagte Tante Mary Maria und preßte ihre Finger gegen die Schläfen. „Es wird wohl das beste sein, du bereitest dich auf das Schlimmste vor, Annie. Vielleicht ist er in den Sumpf gegangen. Zu dumm, daß wir nicht ein paar Bluthunde haben.“

      Anne lachte über diese unsinnige Bemerkung, obwohl es sie große Überwindung kostete.

      „Ich fürchte, die gibt’s auf der ganzen Insel nicht, Tantchen. Aber wenn wir Gilberts alten Setter Rex noch hätten, der damals vergiftet worden ist, dann würden wir Jem schnell finden. Ich bin sicher, wir machen uns ganz unnötig Sorgen“, beruhigte sie sich selbst.

      „Tommy Spencer aus Carmody ist vor vierzig Jahren auf mysteriöse Art und Weise verschwunden und nie wieder aufgetaucht… oder doch? Na ja, wenn doch, dann hat man zumindest bloß noch sein Skelett gefunden“, berichtete Tante Mary taktvoll, wie sie war. „Das ist wirklich nicht zum Lachen, Annie. Ich verstehe gar nicht, wie du so ruhig bleiben kannst.“ Tante Mary Maria war eine großartige Stütze für Annes Nerven!

      In dem Moment klingelte das Telefon. Anne und Susan sahen sich an.

      „Ich kann nicht… ich kann nicht drangehen, Susan“, flüsterte Anne, die kreidebleich geworden war.

      „Ich kann auch nicht“, erwiderte Susan mit monotoner Stimme. Sie ärgerte sich zwar, daß sie vor Mary Maria Blythe eine solche Schwäche an den Tag legte, aber sie konnte es einfach nicht ändern. Die zwei Stunden angstvoller Sucherei hatten ihr schon zu stark zugesetzt.

      Tante Mary Maria sah hoheitsvoll auf diese zwei Nervenbündel, stolzierte zum Telefon und nahm den Hörer ab. Das Schattenbild, das sie dabei mit ihren Lockenwicklern an die Wand warf, erinnerte Susan stark an den leibhaftigen Teufel.

      „Carter Flagg ist dran; er sagt, sie hätten alles abgesucht, aber noch nichts gefunden“, gab Tante Mary Maria dann befriedigt bekannt. „Aber er sagt, das Boot schwimmt komischerweise mitten auf dem Teich, obwohl keiner drin zu sein scheint. Jetzt wollen sie den Teich absuchen.“

      Susan konnte Anne gerade noch festhalten.

      „Nein… nein… ich falle schon nicht in Ohnmacht, Susan“, sagte Anne, leichenblaß im Gesicht. „Bitte bring mich zu einem Stuhl… danke… wir müssen unbedingt Gilbert ausfindig machen…“

      „Falls James wirklich ertrunken ist, Annie, dann solltest du dir vor Augen führen, daß ihm dadurch eine Menge Ärger auf dieser schlechten Welt erspart bleibt“ sagte Tante Mary Maria zum Trost. Anne glaubte sich verhört zu haben!

      „Ich gehe die Laterne holen und suche noch mal den Garten ab“, sagte sie, sobald sie wieder aufstehen konnte. „Susan, ich weiß, du hast schon dort nachgesehen, aber laß mich einfach. Ich kann nicht stillsitzen und abwarten.“

      „Aber Sie sollten sich einen warmen Pullover überziehen“, sagte Susan. „Die Luft ist sehr feucht. Ich hole Ihnen den roten, er hängt auf einem Stuhl im Kinderzimmer. Warten Sie, ich bring ihn runter.“

      Sie eilte nach oben. Kurz darauf ertönte ein durchdringender Schrei. Anne und Tante Mary Maria sprangen auf und rannten die Treppe hinauf. Es war Susan, die gleichzeitig lachte und weinte und offenbar einem hysterischen Anfall nahe war.

      „Mrs. Blythe, ich hab ihn! Jem ist hier oben, er schläft


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