Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


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bist du schon gesund geworden?« fragte es.

      »Es ist mir wohl, Heidi, es ist mir wohl geworden darüber. Lies es noch fertig, willst du?«

      Das Kind las sein Lied zu Ende, und als die letzten Worte kamen:

      »Wird mein Auge dunkler, trüber,

       Dann erleuchte meinen Geist,

       Daß ich fröhlich zieh' hinüber,

       Wie man nach der Heimat reist«,

      da wiederholte sie die Großmutter und dann noch einmal und noch einmal, und auf ihrem Gesicht lag jetzt eine große freudige Erwartung. Dem Heidi wurde so wohl dabei. Der ganze sonnige Tag seiner Heimkehr stieg vor ihm auf, und voller Freude rief es aus: »Großmutter, ich weiß schon, wie es ist, wenn man nach der Heimat reist.« Sie antwortete nichts, aber sie hatte die Worte wohl vernommen, und der Ausdruck, der dem Heidi so wohl getan hatte, blieb auf ihrem Gesicht.

      Nach einer Weile sagte das Kind wieder: »Jetzt wird's dunkel, Großmutter, ich muß heim; aber ich bin so froh, daß es dir jetzt wieder wohl ist.«

      Die Großmutter nahm die Hand des Kindes in die ihrige und hielt sie fest; dann sagte sie:

      »Ja, ich bin auch wieder so froh; wenn ich auch noch liegen bleiben muß, so ist es mir doch wohl. Siehst du, das weiß niemand, der es nicht erfahren hat, wie das ist, wenn man viele, viele Tage so ganz allein daliegt und hört kein Wort von einem andern Menschen und kann nichts sehen, nicht einen einzigen Sonnenstrahl. Dann kommen so schwere Gedanken über einen, daß man manchmal meint, es könne nie mehr Tag werden und man könne nicht mehr weiter. Aber wenn man dann einmal wieder die Worte hört, die du mir vorgelesen hast, so ist es, wie wenn einem ein Licht davon aufgehen würde im Herzen, an dem man sich wieder freuen kann.«

      Jetzt ließ die Großmutter die Hand des Kindes los, und nachdem es ihr gute Nacht gesagt, lief es in die Stube zurück und zog den Peter eilig hinaus, denn es war unterdessen Nacht geworden. Aber draußen stand der Mond am Himmel und schien hell auf den weißen Schnee, daß es war, als wolle der Tag schon wieder angehen. Der Peter zog seinen Schlitten zurecht, setzte sich vorn darauf, das Heidi hinter ihn, und fort schossen sie die Alm hinunter, nicht anders, als wären sie zwei Vögel, die durch die Lüfte sausen.

      Als später das Heidi auf seinem schönen, hohen Heubette hinter dem Ofen lag, da kam ihm die Großmutter wieder in den Sinn, wie sie so schlecht lag mit dem Kopfe, und dann mußte es an alles denken, was sie gesagt hatte, und an das Licht, das ihr die Worte im Herzen anzünden. Und es dachte: Wenn die Großmutter nur alle Tage die Worte hören könnte, dann würde es ihr jeden Tag einmal wohl. Aber es wußte, nun konnte eine ganze Woche, oder vielleicht auch zwei, vergehen, ehe es wieder zu ihr hinauf durfte. Das kam dem Heidi so traurig vor, daß es immer stärker nachsinnen mußte, was es nur machen könnte, daß die Großmutter die Worte jeden Tag zu hören bekäme. Auf einmal fiel ihm die Hilfe ein, und es war so froh darüber, daß es meinte, es könne gar nicht erwarten, daß der Morgen wiederkomme und es seinen Plan ausführen könne. Auf einmal setzte das Heidi sich wieder ganz gerade auf in seinem Bett, denn vor lauter Nachdenken hatte es ja sein Nachtgebet noch nicht zum lieben Gott hinaufgeschickt, und das wollte es doch nie mehr vergessen.

      Als es nun so recht von Herzen für sich und den Großvater und die Großmutter gebetet hatte, fiel es auf einmal in sein weiches Heu zurück und schlief ganz fest und friedlich bis zum hellen Morgen.

      Der Winter dauert fort

       Inhaltsverzeichnis

      Am andern Tage kam der Peter gerade zur rechten Zeit in die Schule heruntergefahren. Sein Mittagessen hatte er in seinem Sack mitgebracht, denn da ging es so zu: Wenn um Mittag die Kinder im Dörfli nach Hause gingen, dann setzten sich die einzelnen Schüler, die weit weg wohnten, auf die Klassentische, stemmten die Füße fest auf die Bänke und breiteten auf den Knien die mitgebrachten Speisen aus, um so ihr Mittagsmahl zu halten. Bis um ein Uhr konnten sie sich daran vergnügen, dann fing die Schule wieder an. Hatte der Peter einmal einen solchen Schultag mitgemacht, dann ging er am Schluß zum Öhi hinüber und machte seinen Besuch beim Heidi.

      Als er heute nach Schulschluß in die große Stube beim Öhi eintrat, schoß das Heidi gleich auf ihn zu, denn gerade auf ihn hatte es gewartet. »Peter, ich weiß etwas«, rief es ihm entgegen.

      »Sag's«, gab er zurück.

      »Jetzt mußt du lesen lernen«, lautete die Nachricht.

      »Hab's schon getan«, war die Antwort.

      »Ja, ja, Peter, so mein ich nicht«, eiferte jetzt das Heidi. »Ich meine so, daß du es nachher kannst.

      »Kann nicht«, bemerkte der Peter.

      »Das glaubt dir jetzt kein Mensch mehr und ich auch nicht«, sagte das Heidi sehr entschieden. »Die Großmama in Frankfurt hat schon gewußt, daß es nicht wahr ist, und sie hat mir gesagt, ich soll es nicht glauben.«

      Der Peter staunte über diese Nachricht.

      »Ich will dich schon lesen lehren, ich weiß ganz gut, wie«, fuhr das

       Heidi fort. »Du mußt es jetzt einmal erlernen, und dann mußt du alle

       Tage der Großmutter ein Lied lesen oder zwei.«

      »Das ist nichts«, brummte der Peter.

      Dieser hartnäckige Widerstand gegen etwas, das gut und recht war und dem Heidi so sehr am Herzen lag, brachte es in Aufregung. Mit blitzenden Augen stellte es sich jetzt vor den Buben hin und sagte bedrohlich:

      »Dann will ich dir schon sagen, was kommt, wenn du nie etwas lernen willst: Deine Mutter hat schon zweimal gesagt, du müssest auch nach Frankfurt, daß du allerhand lernest, und ich weiß schon, wo dort die Buben in die Schule gehen. Beim Ausfahren hat mir die Klara das furchtbar große Haus gezeigt. Aber dort gehen sie nicht nur, wenn sie Buben sind, sondern immerfort, wenn sie schon ganz große Herren sind, das habe ich selber gesehen. Und dann mußt du nicht meinen, daß nur ein einziger Lehrer da ist wie bei uns, und ein so guter. Da gehen immer ganze Reihen, viele miteinander in das Haus hinein, und alle sehen ganz schwarz aus, wie wenn sie in die Kirche gingen, und haben so hohe schwarze Hüte auf den Köpfen« - und das Heidi gab das Maß von den Hüten an vom Boden auf.

      Dem Peter fuhr ein Schauder den Rücken hinauf.

      »Und dann mußt du dort hinein unter alle die Herren«, fuhr das Heidi mit Eifer fort, »und wenn es dann an dich kommt, so kannst du gar nicht lesen und machst noch Fehler beim Buchstabieren. Dann kannst du nur sehen, wie dich die Herren ausspotten, das ist dann noch viel ärger als die Tinette, und du solltest nur wissen, wie es ist, wenn diese spottet.«

      »So will ich«, sagte der Peter halb kläglich, halb ärgerlich.

      Im Augenblick war das Heidi besänftigt. »So, das ist recht, dann wollen wir gleich anfangen«, sagte es erfreut, und geschäftig zog es den Peter an den Tisch hin und holte das nötige Werkzeug herbei.

      In dem großen Paket der Klara hatte sich auch ein Büchlein befunden, das dem Heidi wohlgefiel, und schon gestern nacht war es ihm in den Sinn gekommen, das könne es gut zu dem Unterricht für den Peter gebrauchen, denn das war ein Abc-Büchlein mit Sprüchen.

      Jetzt saßen die beiden am Tisch, die Köpfe über das kleine Buch gebeugt, und die Lehrstunde konnte beginnen.

      Der Peter mußte den ersten Spruch buchstabieren und dann wieder und dann noch einmal, denn das Heidi wollte die Sache sauber und geläufig haben.

      Endlich sagte es: »Du kannst's immer noch nicht, aber ich will dir ihn jetzt einmal hintereinander lesen; wenn du weißt, wie's heißen muß, kannst du's dann besser zusammenbuchstabieren.« Und das Heidi las:

      »Geht heut das A B C noch nicht,

       Kommst morgen du vors Schulgericht.«

      »Ich geh nicht«, sagte der Peter störrisch.


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