Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


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sagte der Lehrer:

      »Peter, muß man dich wieder übergehen, wie immer, oder willst du einmal wieder - ich will nicht sagen lesen, ich will sagen: versuchen, an einer Linie herumzustottern?«

      Der Peter fing an und las hintereinander drei Linien, ohne abzusetzen.

      Der Lehrer legte sein Buch weg. Mit stummem Erstaunen blickte er auf den Peter, so, als habe er desgleichen noch nie gesehen. Endlich sprach er: »Peter, an dir ist ein Wunder geschehen! Solange ich mit unbeschreiblicher Geduld an dir gearbeitet habe, warst du nicht imstande, auch nur das Buchstabieren richtig zu erfassen. Nun ich, obwohl ungern, die Arbeit an dir als nutzlos aufgegeben habe, geschieht es, daß du erscheinst und hast nicht nur das Buchstabieren, sondern ein ordentliches, sogar deutliches Lesen erlernt. Woher können zu unserer Zeit denn noch solche Wunder kommen, Peter?«

      »Vom Heidi«, antwortete dieser.

      Höchst verwundert schaute der Lehrer nach dem Heidi hin, das ganz harmlos auf seiner Bank saß, so daß nichts Besonderes an ihm zu sehen war. Er fuhr fort:

      »Ich habe überhaupt eine Veränderung an dir bemerkt, Peter. Während du früher oftmals die ganze Woche, ja mehrere Wochen hintereinander in der Schule gefehlt hast, so bist du in der letzten Zeit nicht einen Tag ausgeblieben. Woher kann eine solche Umwandlung zum Guten in dich gekommen sein?«

      »Vom Öhi«, war die Antwort.

      Mit immer größerem Erstaunen blickte der Lehrer vom Peter auf das

       Heidi und von diesem wieder auf den Peter zurück.

      »Wir wollen es noch einmal versuchen«, sagte er dann behutsam, und noch einmal mußte der Peter an drei Linien seine Kenntnisse erproben. Es war richtig, er hatte lesen gelernt.

      Sobald die Schule zu Ende war, eilte der Lehrer zum Herrn Pfarrer hinüber, um ihm mitzuteilen, was vorgefallen war und in welcher erfreulichen Weise der Öhi und das Heidi in der Gemeinde wirkten.

      Jeden Abend las jetzt der Peter daheim ein Lied vor. So weit gehorchte er dem Heidi, weiter aber nicht, ein zweites unternahm er nie; die Großmutter forderte ihn aber auch nie dazu auf.

      Die Mutter Brigitte mußte sich noch täglich verwundern, daß der Peter dieses Ziel erreicht hatte, und an manchen Abenden, wenn die Vorlesung vorbei war und der Vorleser in seinem Bett lag, mußte sie wieder zur Großmutter sagen:

      »Man kann sich doch nicht genug freuen, daß der Peterli das Lesen so schön erlernt hat. Jetzt kann man gar nicht wissen, was noch aus ihm werden kann.«

      Da antwortete einmal die Großmutter:

      »Ja, es ist so gut für ihn, daß er etwas gelernt hat; aber ich will doch herzlich froh sein, wenn der liebe Gott nun bald den Frühling schickt, daß das Heidi auch wieder heraufkommen kann. Es ist doch, wie wenn es ganz andere Lieder läse. Es fehlt so manchmal etwas in den Versen, wenn sie der Peter liest, und ich muß es dann suchen, und dann komme ich nicht mehr nach mit den Gedanken, und der Eindruck kommt mir nicht ins Herz, wie wenn mir das Heidi die Worte liest.«

      Das kam aber daher, weil der Peter sich beim Lesen ein wenig einrichtete, daß er's nicht zu unbequem hatte. Wenn ein Wort kam, das gar zu lang war oder sonst schlimm aussah, so ließ er es lieber ganz aus, denn er dachte, um drei oder vier Worte in einem Verse werde es der Großmutter wohl gleich sein, es kommen ja dann noch viele. So kam es, daß es fast keine Hauptwörter mehr hatte in den Liedern, die der Peter vorlas.

      Die fernen Freunde regen sich

       Inhaltsverzeichnis

      Der Mai war gekommen. Von allen Höhen strömten die vollen Frühlingsbäche ins Tal herab. Ein warmer, lichter Sonnenschein lag auf der Alp. Sie war wieder grün geworden; der letzte Schnee war weggeschmolzen, und von den lockenden Sonnenstrahlen geweckt, guckten schon die ersten Blümchen mit ihren hellen Augen aus dem frischen Grase heraus. Droben rauschte der fröhliche Frühlingswind durch die Tannen und schüttelte ihnen die alten, dunkeln Nadeln fort, daß die jungen, hellgrünen herauskommen und die Bäume herrlich schmücken konnten. Hoch oben schwang wieder der alte Raubvogel seine Flügel in den blauen Lüften, und rings um die Almhütte lag der goldene Sonnenschein warm am Boden und trocknete die letzten feuchten Stellen auf, daß man wieder hinsetzen konnte, wo man nur wollte.

      Das Heidi war wieder auf der Alp. Es sprang dahin und dorthin und wußte gar nicht, wo es am schönsten war. Jetzt mußte es dem Winde lauschen, wie er tief und geheimnisvoll oben von den Felsen heruntersauste, immer näher und immer mächtiger, und jetzt schoß er in die Tannen und rüttelte und schüttelte sie, und es war, als jauchze er vor Vergnügen, und das Heidi mußte auch aufjauchzen und wurde dabei hin und her geblasen wie ein Blättlein. Dann lief es wieder auf das sonnige Plätzchen vor der Hütte und setzte sich auf den Boden und guckte in das kurze Gras hinein, zu entdecken, wie viele kleine Blumenkelche sich öffnen wollten oder schon offen waren. Da hüpften und krochen und tanzten auch so viele lustige Mücken und Käferchen in der Sonne herum und freuten sich, und das Heidi freute sich mit ihnen und sog den Frühlingsduft, der aus dem frisch erschlossenen Boden emporstieg, in langen Zügen ein und meinte, so schön sei es noch nie auf der Alp gewesen. Den tausend kleinen Tierlein mußte es so wohl sein wie ihm, denn es war gerade, als summten und sängen sie in heller Freude alle durcheinander:

      »Auf der Alp! Auf der Alp! Auf der Alp!«

      Vom Schopf hinter der Hütte hervor ertönte es hie und da wie ein eifriges Klopfen und Sägen, und das Heidi lauschte auch einmal dorthin, denn das waren die alten, heimatlichen Töne, die es so gut kannte, die von Anfang an zum Leben auf der Alp gehört hatten. Jetzt mußte es aufspringen und auch einmal dorthin rennen, denn es mußte doch wissen, was beim Großvater vorging. Vor der Schopftür stand schon fix und fertig ein schöner neuer Stuhl, und am zweiten arbeitete der Großvater mit geschickter Hand.

      »Oh, ich weiß schon, was das gibt«, rief das Heidi in Freuden aus. »Das ist nötig, wenn sie von Frankfurt kommen. Der ist für die Großmama und der, den du jetzt machst, für die Klara, und dann… dann muß noch einer sein«, fuhr das Heidi zögernd fort, »oder glaubst du nicht, Großvater, daß Fräulein Rottenmeier auch mitkommt?«

      »Das kann ich nun nicht sagen«, meinte der Großvater, »aber es ist sicherer, einen Stuhl bereit zu haben, daß wir sie zum Sitzen einladen können, wenn sie kommt.«

      Das Heidi schaute nachdenklich auf die hölzernen Stühlchen ohne

       Lehne hin und machte still seine Betrachtungen darüber, wie Fräulein

       Rottenmeier und ein solches Stühlchen zusammenpassen würden. Nach

       einer Weile sagte es, bedenklich den Kopf schüttelnd:

      »Großvater, ich glaube nicht, daß sie darauf sitzt.«

      »Dann laden wir sie auf das Kanapee mit dem schönen grünen

       Rasenüberzug ein«, entgegnete ruhig der Großvater.

      Als das Heidi noch nachsann, wo das schöne Kanapee mit dem grünen Rasenüberzug sei, erscholl plötzlich von oben her ein Pfeifen und Rufen und Rutenschwingen durch die Luft, daß das Heidi sofort wußte, woran es war. Es schoß hinaus und war augenblicklich von den herabspringenden Geißen umringt. Denen mußte es wohl sein, wie es dem Heidi war, wieder auf der Alp zu sein, denn sie machten so hohe Sprünge und meckerten so lebenslustig wie noch nie, und das Heidi wurde dahin und dorthin gedrängt, denn jede wollte ihm zunächst kommen und ihre Freude bei ihm auslassen. Aber der Peter stieß sie alle weg, eine rechts und die andere links, denn er hatte dem Heidi eine Botschaft zu überbringen. Als er zu ihm vorgedrungen war, hielt er ihm einen Brief entgegen.

      »Da!« sagte er, die weitere Erklärung der Sache dem Heidi selbst überlassend. Es war sehr erstaunt.

      »Hast du denn auf der Weide einen Brief für mich bekommen?« fragte es voller Verwunderung.

      »Nein«, war die Antwort.

      »Ja, wo hast du ihn denn


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