Retromania. Simon Reynolds
Читать онлайн книгу.Musiker leben können.«
Smith zieht es stattdessen vor, Reunions vorzubereiten, bei denen ein Ende einkalkuliert ist. Für »eine bestimmte Zeit und ziemlich konkrete Ziele: die Band wieder aus der Versenkung zu holen und ein bisschen Geld zu machen«. Der Nostalgie-Aspekt soll so unwichtig wie möglich bleiben, denn es geht darum, »sie einem größtenteils jüngeren Publikum zu präsentieren«. Für die Bands gibt es auch psychologische Vorteile: »Sie bekommen vorgeführt, was sie erreicht haben im Leben und dass es ein Erfolg war, den sie für sich beanspruchen können und den sie sich verdient haben.« Smith erzählt, dass er zum Wire-Gitarristen Bruce Gilbert sagte: »Hör zu, auf deinem Grabstein wird sowieso Wire stehen, also kannst du auch diese Tour spielen.«
Die Reunion von Throbbing Gristle war das Nebenprodukt der Ausstellung im Dezember 2002 in der Cabinet Gallery in London, bei der das 24 Hours of TG-Boxset mit Livekassetten der Band aus den späten 70ern und frühen 80ern präsentiert wurde. »Das war das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass alle vier in einem Raum waren«, erinnert sich Smith. Beim Abendessen mit der Band inklusive Daniel Miller von Mute, der den Backkatalog von TG pflegt, ergriff Smith die Gelegenheit beim Schopf und fragte die Band: »Nun, spielt ihr jetzt wieder zusammen?« Genesis P-Orridge war am Anfang zögerlich, und wandte ein, »ich bin nicht mehr diese Person«. Smith konterte, echte TG-Fans verstünden, dass sie keine Zeitreise ins Jahr 1979 vorgesetzt bekämen, eine Reproduktion des klassischen TG-Sounds. Sie würden die Tatsache respektieren, dass TG Künstler seien, die sich permanent weiterentwickelten. »Ich sagte zu ihnen: ›Wenn es nach mir ginge, könnt ihr vier euch auch auf die Bühne stellen und mit Fingerbecken spielen, das wäre immer noch TG‹.« Er konnte sie überreden und die Band tat sich 2004 wieder zusammen, ursprünglich um in einem britischen Ferienort am Meer ihr eigenes Wochenend-Festival im Stile von All Tomorrow’s Parties zu spielen. Das zahlte sich nicht wie erhofft aus, aber (wie Wire und Suicide) nahmen sie wieder neue Alben auf und spielten eine Reihe von Konzerten, darunter eines in der riesigen Turbinenhalle der Tate Modern, und schließlich gingen sie 2009 auf Tour durch die USA. Obwohl alle vier Mitglieder auch an anderen Bands beteiligt sind, bestanden Throbbing Gristle bis zum Tod von Peter »Sleazy« Christopherson 2010 weiter und haben noch ein ganzes Cover-Album von Nicos Desertshore in petto.
Da TG ursprünglich aus der Performance-Kunst kamen, legten sie immer Wert darauf, ihre Projekte zu dokumentieren, was zu einer endlosen Zahl von Livekassetten, -Platten und Videos führte. Es ist also nur logisch, dass die Tate Modern mit der Gruppe und mit Genesis P-Orridge im Gespräch ist, um ihr Archiv zu erwerben. »Es gibt eine ganze Generation neuer Kuratoren in der Kunstwelt«, erklärt Smith. »Sie sind Mitte Zwanzig oder nur wenig älter und sie beginnen Punk und das Zeug aus Mitte der 80er anzuschauen und zu sagen: ›Hey, das ist wichtig.‹«
Im Allgemeinen versuche ich, Reunions aus dem Weg zu gehen, vor allem dann, wenn ich die Band zu ihrer Hochzeit bereits gesehen habe. Die Comeback-Tour von My Bloody Valentine, bei der sie ein Set spielten, das nur aus Stücken ihrer Isn’t Anything/Loveless-Blütezeit bestand, schien mir geradezu prädestiniert zu sein, eine Enttäuschung zu werden. Diese Musik war mit persönlichen Erinnerungen an die hormonelle Elektrifizierung des Verliebtseins verknüpft, mit Träumereien, die einen immer noch erröten lassen. Ich wollte nicht mit meiner Frau gemeinsam in einem Raum mit vielen anderen Paare mittleren Alters stehen, bei denen die gleichen Erinnerungen wieder aufflammten.
Eine Ausnahme in meiner »No Reunions«-Haltung bilden nur eine paar Bands, die ich in meiner Jugend liebte, aber nie live gesehen habe. Wie z. B. Gang of Four. Im Irving Plaza in New York waren sie im Mai 2005 so gut, dass ich den Fehler gemacht und sie mir ein paar Monate später noch einmal angesehen habe. Dieser zweite Gig war im Hard Rock Cafe direkt am Times Square. Dieses Mal hat die Atmosphäre überhaupt nicht gepasst: Die rockigsten Antirocker des Post-Punk spielten inmitten gerahmter Bilder von Janis und Jimi, signierter Gitarren und diverser anderer Rock-Erinnerungsstücke. Die Band schien sich dessen bewusst zu sein und versuchte, die offensiv ehrerbietige und gleichzeitig höllisch kitschige Umgebung zu überspielen, indem sie noch ernster war als sonst. Es gab weder Eröffnungsscherze noch ein »Hallo, New York«: Der Gitarrist Andy Gill zog einen Schmollmund und machte ein finsteres Gesicht, so dass er dem Schauspieler Alan Rickman glich; der Sänger Jon King wirkte gleichermaßen arrogant und gestresst wie ein Lehrer vor einer durchgedrehten Klasse und der Schlagzeuger Hugo Burnham starrte nur finster und voller Verachtung vor sich hin. Trotz dieses Missverhältnisses spielten Gang of Four im Herbst auf der Tour, bei der sie ihr Comeback-Album Return the Gift vorstellten, weitere Konzerte in House-of-Blues-Läden (der Konkurrenz-Kette des Hard Rock Cafes).
Das Album selbst steht konzeptuell für eine der faszinierendsten Wiederauferstehungen einer Band, sie ist eine Art Tribut-Album an sich selbst, quasi Auto-Karaoke. Viele Gruppen haben ganze Alben gemacht, bei denen sie einen Song eines Künstlers oder gar ein ganzes Album gecovert haben. Gang of Four machten ein brandneues Album mit neu aufgenommenen Versionen von Songs ihrer ersten drei Alben. Benannt nach einem Titel von Entertainment!, den sie gar nicht neu aufgenommen hatten, suggerierte der Titel Return the Gift, dass das ganze Projekt ein Kommentar zu der »ewigen Wiederkehr« in der Retrokultur war. Das Album eröffnete einen ungetrübten und unhintergehbaren Blick auf die Redundanz und die Wiederverwertbarkeit des Rock-Nostalgie-Marktes. Wenn sich Fans neue Alben von wiedervereinigten legendären Bands ihrer Jugend kaufen, dann interessiert es sie im Grunde genommen nicht wirklich, was die Band jetzt zu sagen hat, oder wo die unterschiedlichen musikalischen Wege der Mitglieder sie später hingeführt haben. Sie wollen, dass die Band »neue« Songs im klassischen Stil schreibt. Return schien zu sagen: »Ihr wolltet eine Wiederauferstehung von Gang of Four? Hier habt ihr sie, genau das, was ihr euch insgeheim wünscht, noch einmal die alten Songs.«
Aber es gab auch den pragmatischen Aspekt, der zu der Entmystifizierung des Kapitalismus in den Lyrics passte: Das »Covern« ihrer eigenen Songs war die geschickte Art von Gang of Four, ihr Vermächtnis zu bewahren und zugleich davon zu profitieren. Eine einfache Neuauflage ihrer alten Aufnahmen – als typische Compilation oder Boxset – hätte nur EMI bereichert, ihre ursprüngliche Plattenfirma. »Wir haben an den Plattenverkäufen von EMI nie etwas verdient und haben immer noch Vorschüsse offen«, erzählte mir Jon King. »Wir wollten nicht, dass die davon profitieren, weil sie nichts getan haben, um uns zu unterstützen.« Durch die Wiederaufnahme ihrer Songs – was Künstlern für gewöhnlich vertragsmäßig nach 20 Jahren erlaubt ist – haben sie sich in puncto Lizenzgebühren eine bessere Verhandlungsposition verschafft (in diesem Fall eine einmalige Lizenzierung anstatt eines vollständigen Verkaufs des Materials). »Das bedeutet, der gesamte Gewinn geht an uns.«
Für einen Ultra-Fan war es ein komisches Gefühl, sich Return the Gift anzuhören. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, wie es sich für die Mitglieder der Band angefühlt hat, Songs neu aufzunehmen, mit denen sie eigentlich vor Jahren abgeschlossen hatten. In der neuen Version von »Love Like Anthrax« – einem Song, bei dem im Original ein weinerlicher Text über Herzschmerz, den King singt, einem mürrisch intonierten Text von Andy Gill gegenübersteht, der die Institution des Liebesliedes im Pop kritisiert – hat Gill ein paar neue Zeilen hinzugefügt, die sich in Brecht’scher Weise auf die Reunion von Gang of Four beziehen. Er spricht in dem Song über Return the Gift als »exercise in archeology«, einem Versuch herauszufinden, was sich in der aufregenden Zeit des Post-Punk in ihren Köpfen abspielte. Als ich Jon King und den Bassisten Dave Allen nach dem Projekt fragte, nannten beide die Original-Aufnahmen eine Art »Qumran-Schrift«, auf die sie sich beziehen könnten, wenn ihre Erinnerung versagt.
Eine andere seltsame, beinahe gruselige Sache beim Anhören von Return the Gift war, dass die neuen Versionen auf eine gewisse Weise überzeugender waren als die Originale (sie waren besser aufgenommen, mit einem fetten modernen Schlagzeugsound und profitierten grundsätzlich von Gills Erfahrung als Plattenproduzent nach der Auflösung der Band). Die Songs hatten aber nicht diese besondere Klangaura wie die Original-Aufnahmen. Besonders deutlich war das bei den Songs von der Entertainment!, die viele Rezensenten bei ihrer Veröffentlichung 1979 wegen ihrem trockenen, klinischen Sound, der einfach nicht so aufregend war, wie die Gruppe live sein konnte, kritisiert hatten. Aber an genau diesem dünnen Entertainment!-Sound hingen ich und andere Fans. Das Resultat war, dass die neuen Versionen der Songs weder 1979 noch 2005,