Retromania. Simon Reynolds

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Retromania - Simon  Reynolds


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Preis verfügbar zu halten. Er rät der Musikindustrie ausdrücklich, »den gesamten Backkatalog so schnell wie möglich« wieder zu veröffentlichen – »ohne Skrupel, automatisch und im großen Stil«. Dies ist auch im letzten Jahrzehnt mehr oder weniger passiert und hat bereis in den 90ern begonnen, von den Labels selbst oder von spezialisierten Unternehmen initiiert, die die Backkataloge von älteren und größeren Labels nach den Soloalben von Bassisten berühmter Bands, den Nebenprojekten, Aufnahmen vor dem Durchbruch oder nach dem Ruhm durchsuchten.

      Das Ergebnis war eine stärkere Hinwendung zu älteren Produktionen. In gewisser Weise stand die Vergangenheit kulturell betrachtet immer schon in Konkurrenz zur Gegenwart. Aber das Feld hat sich in den späten 90ern und frühen 2000ern peu à peu zum Vorteil der Vergangenheit verschoben, vor allem dank neuer Entwicklungen wie dem Internetradio und der mit dem Internet verbundenen »unendlichen Jukebox«, die es den Usern erlaubt, auf mehr als zwei Millionen Lieder zuzugreifen.

      Diesen jüngsten Erfindungen liegt der grundsätzliche Wechsel von analog zu digital zugrunde: Von Aufnahmen, die auf analogen Wellenformen basierten (Vinyl, Magnetbänder) hin zu Aufnahmen, die mit dem Kodieren und Dekodieren von Informationen arbeiten (CD, MP3s). Diese Revolution war von der Musikindustrie in den 80ern vorangetrieben worden und hat dabei offensichtlich die eigene Achillesferse getroffen: Es ist viel einfacher, Ton und Video zu kopieren, wenn sie als Daten gespeichert sind. Eine analoge Vinyl-Platte kann nur in Echtzeit überspielt werden, die magnetisch gespeicherte Information auf einer Ton- oder Videokassette kann nur mit gering erhöhter Geschwindigkeit überspielt werden, sonst ist der Qualitätsverlust zu hoch. Die digitale Kodierung ermöglicht ein viel schnelleres Kopieren mit minimalem Qualitätsverlust. Die Kopie einer Kopie einer Kopie ist im Prinzip das Gleiche wie das Original, weil die digitale Information, die nur aus Nullen und Einsen besteht, reproduziert wird.

      Die Folgen dieses Paradigmenwechsels traten sehr bald nach der Einführung einer Software zum Dekodieren von MP3s im Juli 1994 auf, ein Jahr später gab es den ersten MP3-Player (WinPlay3). MP3 war vom Fraunhofer-Institut mit dem Ziel entwickelt worden, ein weltweites Standardmedium für die digitale Ton- und Video-Unterhaltungsindustrie zu liefern, und es verbreitete sich in den späten 90ern immer weiter. Aber richtig los ging es erst mit der Verbesserung der Bandbreite und dem großen Erfolg der Peer-to-Peer-Filesharing-Netzwerke und -Anbieter (Napster, BitTorrent, Soulseek etc.). Der Wesenskern von MP3 ist die Komprimierung. Raum (die klangliche Tiefe einer Aufnahme) wird mit einem viel geringeren Materialaufkommen als bei einer Vinylschallplatte, einer analogen Tonkassette oder selbst der laserbeschriebenen CD reduziert, während die Zeit ähnlich komprimiert wird, da es viel schneller geht, eine Kopie zu erstellen oder ein Musikstück im Internet zu übermitteln, als die tatsächliche Dauer der musikalischen Erfahrung anhalten würde.

      Jonathan Sterne, Experte für Musiktechnik, erklärt, Fraunhofer habe die MP3 entwickelt, indem »ein mathematisches Modell des menschlichen Hörspektrums« ausgearbeitet wurde, um herauszufinden, welche Daten sie entfernen könnten, weil der Durchschnittshörer in der durchschnittlichen Hörsituation sie nicht bemerken würde. Die technischen Abläufe sind komplex und schwer verständlich (beispielsweise werden Teile des Frequenzspektrums in Mono konvertiert, während andere – der Bereich des Hörspektrums, den die meisten Hörer wahrnehmen – Stereo bleiben). Das Ergebnis dieses Prozesses ist die charakteristische Flachheit des Klangbildes und die dünne Struktur, an die wir uns durch das ständige Hören von MP3s gewöhnt haben. (Natürlich fällt die Verkleinerung des klanglichen Reichtums nur denen unter uns auf, die alt genug sind, um auch noch Vinyl oder CD gehört zu haben, während für viele junge Hörer, die MP3 und Musik über Computerboxen und iPods hören, das einfach der Klang von Musikaufnahmen ist.) Der Komfort der MP3s hinsichtlich des einfachen Teilens, der Anschaffung und der Portabilität (was die Industrie »Place-Shifting« nennt, das Bewegen der Musik zwischen verschiedenen Abspielgeräten und Abspielen in verschiedenen Zusammenhängen) hat dazu beigetragen, dass wir den qualitativ schlechteren Sound akzeptiert haben. Abgesehen davon sind die meisten Musikfans keine Audiophilen, die der bloßen Klangwiedergabe und vagen Qualitäten wie »Präsenz« verfallen sind. Audiophile sind für gewöhnlich Analog-Fanatiker, die auf 180-Gramm-Vinyl und Plattenspieler stehen, die extrem teuer sind. Tatsache ist jedoch, dass es selbst im Bereich der digitalen Musik einen riesigen Unterschied zwischen MP3 und der CD gibt. Ab und an bekomme ich die CD-Version eines Albums, das ich großartig finde und bisher nur als Download kenne, und ich bin jedes Mal schockiert, wenn ich mit den verschiedenen Dimensionen und der Räumlichkeit der Musik, der klaren Form des Schlagzeugs, der Lebendigkeit des Sounds konfrontiert bin. Der Unterschied zwischen CD und MP3 ist vergleichbar mit frisch gepresstem Orangensaft und Saft, der aus Konzentrat hergestellt wurde. (Bei diesem Vergleich wäre Vinyl wahrscheinlich frisch gepresster Saft.) Das Konvertieren der MP3s ähnelt diesem Konzentrationsprozess, und wird auch aus dem gleichen Grund gemacht: Es ist viel billiger, das Konzentrat zu transportieren, da es ohne Wasser viel weniger Platz braucht und weniger wiegt. Den Unterschied schmecken wir aber alle.

       SURFEN UND SKIPPEN

      Die Erfinder der MP3 bauten darauf, dass die meisten Menschen nicht so genau hinhören und nicht unter idealen Bedingungen hören. Laut Sterne war die MP3 in der Annahme entwickelt worden, dass die Hörer entweder eigentlich anderen Aktivitäten nachgingen oder sich in einer lauten Umgebung befänden, in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Auto, an einer vielbefahrenen Straße. »Die MP3 ist für den massenhaften Tausch, beiläufiges Zuhören und massenhafte Anhäufung entworfen worden«, erörtert er. Genauso wie Konzentrat nicht für den Geschmack gemacht ist, sind gezippte und wieder entpackte Sounddateien nicht für den besonderen Hörgenuss geeignet. Die MP3, das Ton-Äquivalent zu Fast Food, ist das ideale Format für ein Zeitalter, in dem man immer mit der gegenwärtigen Musik, mit all ihren wechselnden Mikro-Trends und endlosen kostenlosen Podcasts und DJ-Mix-Sets Schritt halten möchte.

      Daher haben viele der konsumentenfreundlichen Entwicklungen der digitalen Ära mit dem Zeitmanagement zu tun; die Freiheit, während einer Fernsehsendung unaufmerksam zu sein oder unterbrochen zu werden (Pause, Zurückspulen), die Fernsehzeit auf einen regnerischen Tag aufzuschieben (bespielbare DVDs, TiVo). Das Auftauchen der CD-Player Mitte der 80er vermittelte einen ersten Eindruck davon, wie Musik durch Digitalisierung beeinflusst werden würde. Anders als Plattenspieler und die meisten Kassettendecks verfügten CD-Player üblicherweise über eine Fernbedienung. Ein Plattenspieler ist ein unhandliches, mechanisches Gerät, mit dem man Klangwellen, die in Vinylrillen geritzt sind, anhören kann, der CD-Player ist eine Maschine, mit der Daten decodiert werden und es lässt sich daher viel leichter pausieren, von einem Track zum nächsten springen etc. Der CD-Player führte uns in Versuchung, das Musikhören zu unterbrechen; um an die Haustür oder auf die Toilette zu gehen, um zu seinen Lieblingsliedern vorzuspringen oder auch bloß zu der Lieblings-Stelle eines Tracks. Die CD-Fernbedienung, im Wesentlichen das gleiche wie eine TV-Fernbedienung, unterwarf die Musik der Macht des Zappens.

      Damit brach eine neue digitale Epoche in der Wahrnehmung von Zeit an – die uns mittlerweile völlig vertraut ist. Und mit jedem Gewinn zugunsten der Bequemlichkeit der Konsumenten geht ein Verlust der Macht der Kunst einher, unsere Aufmerksamkeit zu beherrschen, um schließlich eine ästhetische Kapitulation einzuleiten. Das bedeutet, dass unser Gewinn gleichermaßen unser Verlust ist. Es wird außerdem deutlich, dass die zerrüttete Zeiterfahrung unseres Netzwerk-Alltags nicht gut für die Gesundheit ist; wir werden ruhelos, es zerfrisst unsere Fähigkeit, uns auf den Augenblick zu konzentrieren. Wir unterbrechen uns ständig selbst, kappen den Wahrnehmungsstrom.

      Nicht nur unser Umgang mit Zeit ist davon beeinflusst, sondern auch der mit Raum. Die Einheit des »Hier« ist genauso zerstückelt wie die Einheit des »Jetzt«. Forschungen von Ofcom, der britischen Medienaufsichtsbehörde, haben ergeben, dass sich zwar Familien noch im Wohnzimmer treffen, um fernzusehen, aber nur teilweise anwesend sind, da sie SMS schreiben oder im Netz surfen. Sie sind mit sozialen Netzwerken verbunden, während sie sich an den Busen der Familie schmiegen, ein Syndrom, das »Connected Cocooning« getauft wurde. Genauso wie das Internet die Gegenwart durch Wurmlöcher in die Vergangenheit zerbröckeln lässt, wird der intime Raum der Familie durch telemetrische Informationsströme der Außenwelt kontaminiert.

      In den letzten Nullerjahren gab es eine Flut


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