Retromania. Simon Reynolds

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Retromania - Simon  Reynolds


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auf den Punkt. Man könnte aber auch sagen, dass Beschränkung die Mutter der Vertiefung ist. Anders gesagt: Musik inniger wahrzunehmen, bedeutet, sich mit der Realität der Endlichkeit abzufinden: Man wird nie in der Lage sein, sich mehr als nur einem Bruchteil der Flut der gegenwärtigen Musik aufmerksam anzuhören, ganz zu schweigen von der in der gesamten menschlichen Geschichte produzierten.

      Dies ist eine der großen Fragen unserer Zeit: Kann die Kultur unter den Bedingungen von Unbegrenztheit überleben? Genauso wie ein jederzeit verfügbarer Internetzugang überwältigt, bietet er auch Möglichkeiten. Es gibt Künstler, die durch den unsteten Info-Ozean des Internets steuern und für die sich besonders beim Durchwühlen des immensen Erinnerungs-Flohmarktes YouTube neue Möglichkeiten der Kreativität auftun.

      Nico Muhly, ein aufstrebender junger Komponist, der als Protegé von Philip Glass anfing, benutzt oft Quellen aus dem Netz für seine Werke. Einige seiner Stücke entstanden aus YouTube-Entdeckungen. Er komponierte zum Beispiel ein Violinen-Konzert, das auf Ideen der Astronomie in der Renaissance basiert – ein Interesse, das geweckt wurde durch die zufällige Entdeckung einiger 80er-Jahre-Lehrvideos über das Sonnensystem, die ein Spinner auf YouTube hochgeladen hatte, sogar mit Kommentaren von Carl Sagan, einer heute kitschig erscheinenden Gestalt. Oder er arbeitet an einem Stück, das zur Begleitung bizarr banaler YouTube-Clips gedacht ist, von Videos, die einen Garten zeigen oder eine Person, die den Haushalt macht.

      Als ich Muhly in seiner Wohnung in Manhattan beim Mittagessen besuchte, um ihn zu interviewen (es gab vorzüglichen Blumenkohl mit Käse), erzählte er mir, dass er an einer »Internet-Oper« arbeite, die von der wahren Geschichte eines Jungen handle, »der sieben Online-Identitäten erfindet, um einen älteren Jungen zu verführen und dann erstochen wird«. Auf die Frage nach dem Einfluss von YouTube und dem Netz im Allgemeinen auf seine Musik, antwortete Muhly, er verschwinde in »Internet-Wurmlöchern«. »Das Netz ist, so gesehen, wirklich gruselig! Wenn man über Leute recherchiert, die ihre Zwergponys wie Kunstwerke ausstaffieren, dann findet man fünfhunderttausend derartige Sachen!«

      Das Porträt im New Yorker, das ihn einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte, betonte, dass Muhly ein Web-2.0-Komponist ist: Er schreibt Musik in eine virtuelle Partitur, während er E-Mails beantwortet, über Instant Messaging chattet und gleichzeitig an mehreren Online-Scrabble-Spielen teilnimmt. Muhly ist eindeutig ein gut funktionierendes Geschöpf des Multitasking-Zeitalters und sein Kompositions-Ansatz ist typisch für den assoziativen Strom des Netzes. Er bezeichnet das als »durchdringendes Narrativ«, aber es ist eher ein Anti-Narrativ. Und Muhlys Recherche ist genauso wie sein Kompositionsstil: nicht-linear. Er beschreibt den Vorgang als »in die Dinge aus einer anderen Perspektive eindringen, als würde man mit dem Messer ein Telefonbuch durchstechen. Ein bestimmtes Feld, sagen wir die Astronomie, führt zu etwas anderem, und das wiederum führt zu etwas ganz anderem. Es ist eine endlose Geschichte, ohne Anfang und Ende, die Story ist die, wie man sich einen Weg da durch bahnt

      Während Muhly sich durch die Welt der Carnegie Hall und der English National Opera bewegt, befindet sich Daniel Lopatin in einem völlig anderen Milieu der modernen Musik: Dem experimentellen elektronischen Underground mit Konzerten in Brooklyner Squats und Kleinstlabels, die nur auf Vinyl oder Tapes veröffentlichen. Trotzdem reagieren beide Talente auf ähnliche makro-kulturelle Umwälzungen: die Etablierung des Internets als eine Landschaft des Erhabenen, die einen ähnlichen Platz einnimmt wie die Natur in der Vorstellung der Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts und die Stadt für die Komponisten des 20. Jahrhunderts.

      In seiner engen Junggesellenbude ist Lopatins Arsenal altmodischer Synthies und Rhythmusmaschinen nur eine Armlänge entfernt von seinem Computer mit gigantischem Bildschirm. Er verbringt den Großteil seiner Zeit im Haus, spielt mit den Synthies herum oder surft im Netz. Die Alben, die er unter dem Namen Oneohtrix Point Never veröffentlicht hat – wie Rifts von 2009, das im Wire-Magazin bei den Alben des Jahres auf Platz Zwei landete – sind größtenteils amorphe und doch harmonisch klingende Instrumentals aus Synthie-Melodien und pulsierenden Sequenzer-Mustern. Aber die »Echo Jams«, unter Pseudonymen wie KGB Man und Sunsetcorp veröffentlicht, hatten die größte Wirkung: ein Mix aus Ton- und Videomaterial, das er auf YouTube gesammelt hat. Vor allem »Nobody Here« – bestehend aus einem kurzen Loop eines Gesangs von Chris de Burghs »The Lady in Red« und einer altmodischen 80er-Jahre-Computer-Animation – wurde ein YouTube-Hit, der im Laufe weniger Monate über 30.000 Zugriffe verzeichnete. Das mag im Vergleich zu Lady Gaga wenig erscheinen, aber im Kontext der Underground-Szene, aus der er kommt, war »Nobody Here« ein Hit vergleichbar mit Thriller.

      Einen Teil seines Reizes gewinnt das Stück dadurch, dass die Hörer Chris de Burghs Spät-80er-Charthit erst einmal für ekelhaft sentimental halten, und plötzlich bewegt sind von der tieftraurigen Sehnsucht, die der kleine Ausschnitt transportiert, den Lopatin auswählte. Kombiniert mit einer farbenfrohen Welle fluoreszierenden Lichtes, die vor einer Kulisse aus Wolkenkratzern gegen den Bildschirm vor- und zurückschwappt ist das Ergebnis gespenstische Melancholie. Als Fan von altmodischen »Vektor-Grafiken und CAD/Cam-Videokunst aus den 80ern« wurde Lopatin von diesem speziellen »gefundenen Visual« angezogen, weil die »Gothic-Skyline der Stadt« die »saftigen, sentimentalen Assoziationen mit Regenbogen« unterstrich. Sie betonte auch seine eigenen Gefühle der Entfremdung vom Leben in der Stadt. Daher kommt auch der schmerzhafte Nachhall des Chris-de-Burgh-Loops: »There’s nobody here.«

      Lopatin macht dieses »Echo-Jamming« schon seit Jahren. Es begann als Flucht aus seinem drögen Job, ohne dass er dazu seine Bürozelle tatsächlich verlassen musste. »Ich war ein richtiger nine-to-five-Arbeiter, völlig gelangweilt, und das war die Art von Musik, die ich auch bei der Arbeit machen konnte, indem ich einfach Sachen von YouTube rippte. Damals wollte ich niemanden damit beeindrucken, es war mehr um der Katharsis willen, während ich meine stupide Büroarbeit ableistete.« Ein »Echo Jam« ist nicht einfach nur eine geradlinige Montage eines Audio- und eines Video-Loops. Nachdem Lopatin kleine Ausschnitte, die er für überzeugend hält – ein Splitter Sehnsucht aus einem Kate-Bush- oder Fleetwood-Mac-Song, ein herzzerreißendes Stück von Janet Jackson oder Alexander O’Neal, die verträumten Gesangsmomente einer Eurotrance-Hymne – isoliert hat, umhüllt Lopatin alles mit einem »Echoton«. Weil er kein »Partytier« ist, verlangsamt er die Musik, eine Technik, die er sich vom legendären DJ Screw aus Houston abgeguckt hat, dessen »verschrobene« Mixtapes Gangsta Rap in narkotisierend langsamem Tempo enthielten. Lopatin verlangsamt auch die Video-Loops, die alle von YouTube stammen und die er mit dem Windows Movie Maker konvertiert und schneidet. Zu seinen Lieblingsquellen gehören 80er-Jahre-Fernsehwerbespots aus dem Fernen Osten oder aus dem ehemaligen Ostblock, die neue Video- und Audio-Technologie bewerben. In einem Echo-Jam teilt sich ein glückseliges sowjetisches Paar die doppelten Kopfhörerbuchsen eines Walkmans.

      Lopatin spielt die Kreativität, die in diesen Echo-Jams steckt, gerne herunter: »Es ist wirklich einfach. Ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken, dass ich der Urheber dieser Sachen bin. Ich habe nur Teil an Dingen, die auf YouTube zu finden sind, Kids machen überall ganz ähnliche Sachen.« Das mag stimmen, aber der zusätzliche Wert, den Lopatin generiert, ist der konzeptuelle Rahmen seiner Projekte, die in Bezug zum kulturellen Gedächtnis und den vergrabenen Utopien stehen, die den kapitalistischen Waren anhafteten, besonders den benutzerfreundlichen Technologien im Bereich der Computer- und Audio/Video-Unterhaltung. Auf der Sammlung seiner besten Echo-Jams für die 2009er-DVD Memory Vague, erklärt Lopatin in den Liner Notes, dass »kein kommerzielles Werk außer Reichweite der künstlerischen Vereinnahmung liegt«.

      Seine Beschäftigung trug Früchte, als er für eine Klangkunst-Ausstellung 2010 ein langes Stück erschuf; die dekonstruktivistische Enträtselung einer Werbesendung von 1994, die er auf YouTube gefunden hatte. Eine sechzehnminütige Firmenwerbung für Performa (»Apples Produktfamilie Macintosh mit eingebauter Zukunft«) wurde in eine dreißigminütige Echo-Jam-Symphonie umgewandelt. »The Martinettis Bring Home a Computer«, wie der Titel der Original-Werbesendung sowie der von Lopatins Bearbeitung lautet, fängt jenen Zeitpunkt in den frühen 90ern ein, als die Informationsautobahn die gleichen Versprechen von Emanzipation und erweiterten Horizonten machte wie einstmals die Interstate-Autobahnen.

      Was Lopatins Aufmerksamkeit beim Surfen zuerst auf sich zog, war die aufwendige Produktion und die Schauspielkunst dieser Werbesendung


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