Sex Revolts. Simon Reynolds
Читать онлайн книгу.eine interessante Zwischenebene voller ambivalenter Zugehörigkeitsgefühle – hin- und hergerissen zwischen Fan-Dasein und Feminismus, zwischen Ästhetik und Ethik. Ellen Willis hat diese Ambivalenz in ihrem Essay »Beginning to See the Light« eingefangen, in dem sie mit dem augenscheinlichen Widerspruch ringt, dass die Anti-Abtreibungs-Tirade »Bodies« von den Sex Pistols sie, eine Feministin, viel mehr begeistert als die heilsame Positivität der meisten »Frauen-Musik«: »Musik, die ganz dreist und aggressiv ausformulierte, was der Sänger wollte, liebte und hasste – so wie guter Rock ’n’ Roll es tat –, forderte mich dazu heraus, dasselbe zu tun, und so ermutigte mich die Form – selbst wenn der Inhalt antiweiblich, antisexuell, in einem bestimmten Sinne antimenschlich war –, meinen eigenen Befreiungskampf aufzunehmen. Auf ähnliche Weise fühlte ich mich bei zahmer Musik gezähmt, was auch immer ihre vordergründige Aussage war.«
Von diesem Paradox war unser Denken von Anfang an geprägt, noch bevor wir Willis’ Buch öffneten, um es in aller Deutlichkeit nachlesen zu können. Wir haben das Dilemma von Ästhetik vs. Ethik, von Leidenschaft vs. Verantwortungsbewusstsein auch sicher nicht gelöst. Wir haben uns nur auf eine lose Waffenruhe geeinigt. Manchmal fragten wir uns, ob wir jemals wieder unvoreingenommen Stones oder Stooges würden hören können. Auch wenn unser Vergnügen unberührt geblieben ist, merken wir, dass unsere Hingabe auf dem Prüfstand steht, unser Hörerlebnis unter dem Schatten dessen liegt, was wir zu Tage gefördert haben. Sagt also nicht, wir hätten euch nicht gewarnt.
ANGRY YOUNG MEN: VORLÄUFER UND PROTOTYPEN DER ROCKREBELLION
»Man ist immer noch an die Mutter gebunden. Jegliche Rebellion war Illusion, der krampfhafte Versuch, diese Bindung zu verschleiern […]. Für immer draußen! Auf der Türschwelle des Mutterleibes.«
Henry Miller (über Arthur Rimbaud)
Rebellen gibt es in den verschiedensten Formen und Größen. Manche werden von den Fesseln ihres sozialen Umfeldes zur Revolte getrieben. Es gibt ausdauernde Rebellen ohne eigentlichen Grund (wie Marlon Brandos Biker in Der Wilde, der, als er gefragt wird, wogegen er denn rebelliere, entgegnet: »Was hast du denn zu bieten?«). Und es gibt Rebellen, die nach Gründen suchen, um ihr aufständisches Verhalten zu rechtfertigen. Was ist es, das diese Jungs verbindet? Genau: ihre Maskulinität.
Sie ist schließlich das, was man mit »dem Rebellen« als Erstes verbindet. Unsere These lautet, dass – was auch immer der vordergründige Prä- oder Kontext ist – ein großer Teil des psychologischen Antriebs jeder Rebellion in dem Drang liegt, sich von seiner Mutter zu distanzieren. In der männlichen Rebellion wird jener Ur-Bruch nachgestellt, der das männliche Ego begründet: die Trennung des Kindes vom mütterlichen Reich, die Vertreibung aus dem Paradies. Der Rebell wiederholt den Prozess der Selbstwerdung in endlosen Trennungsriten, flieht kontinuierlich vor der Häuslichkeit. Dass diese Flucht mit Reue verbunden ist, ist unausweichlich und führt oft – wie in der Musik der Rolling Stones und von Jimi Hendrix – zu einer Suche nach einer neuen Heimat; die Rastlosigkeit lässt nach und kommt schließlich in einer mystischen oder idealisierten Idylle zur Ruhe. Wie Nietzsche es ausdrückte: »Damit ein Heiligtum aufgerichtet werden kann, muss ein Heiligtum zerbrochen werden.«
So kann der Rebell eine abstrakte Feminität bewundern (eine Heimat fern der Heimat) und gleichzeitig echte Frauen fürchten und verabscheuen. Er kann sich nach dem Mutterleib und einer idealisierten Partnerin als Mutterersatz sehnen und gleichzeitig Frauen aus Fleisch und Blut in seiner Nähe meiden oder schlecht behandeln. In der Vorstellung des Rebellen sind Frauen gleichzeitig Opfer und Täterinnen im Namen der Konformität, die eine Bedrohung für seine Männlichkeit darstellt. Frauen repräsentieren alles, was der Rebell nicht hat (Passivität, Zurückhaltung), und alles, was ihn zu binden droht (Häuslichkeit, soziale Normen). Für alle klassischen Beispiele der Rockrebellion ist diese Ambivalenz zentral, von den Stones über The Doors, Led Zeppelin, Iggy Pop und The Stooges zu den Sex Pistols, Guns N’ Roses und Nirvana.
An dieser Stelle ist Jean-Paul Sartres Unterscheidung zwischen dem Rebellen und dem Revolutionär von Nutzen. Laut Sartre steckt der Rebell heimlich mit der Ordnung, gegen die er rebelliert, unter einer Decke. Sein Ziel ist es nicht, ein neues, besseres System zu schaffen; er will einfach nur die Regeln brechen. Im Gegensatz dazu ist der Revolutionär konstruktiv. Sein Ziel ist es, ein ungerechtes System durch ein neues, besseres zu ersetzen; er ist diszipliniert und bereit, Opfer zu bringen. Aufgrund seiner Verantwortungslosigkeit hat der Rebell Zugang zu ausschweifender Ekstase und kann im Jetzt leben. Dem Revolutionär ist es Befriedigung genug, seine Identität mit dem kollektiven Projekt eines gesellschaftlichen Fortschritts zu verschmelzen, dessen Erfüllung in der Zukunft liegt. Wir gehen davon aus, dass Rock keine revolutionäre Kunstform ist, dass sein Ungehorsam und die Trotzanfälle seines Egos Hand in Hand mit den Konditionen von Kapitalismus und Patriarchat gehen.
Die zentrale Kränkung des Rebellen liegt darin, dass ein patriarchales System seinem wilden Wesen Einhalt gebietet und ihm stattdessen ein Leben voller Mittelmäßigkeit vorsetzt. Er verkommt zu einem Zahnrad in der Maschine, während er vom Leben eines Helden träumt. Währenddessen wird den Frauen nur die Alternative gelassen zwischen dem Status quo des Patriarchats und dem Filiarchat der Rebellen, der Rock-’n’-Roll-Bruderschaft der verlorenen Söhne. Zu oft bleibt Frauen hier als Raum der Selbstentfaltung nur die Rolle der Muse, der Gangsterbraut oder des Groupies übrig: Sie stehen am Rand und beobachten die Heldentaten der Männer voller Bewunderung.
»Wir sind hier die Opfer einer Matriarchie, mein Freund.«
Harding, Insasse der Psychiatrie in Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest (1962)
Die Rock-’n’-Roll-Rebellion kam in etwa zur gleichen Zeit auf wie der Nachkriegs-»Momism«, eine seinerzeit angesagte Kulturkritik, die Mütter als den Ursprung des Großteils der verschiedenen Übel Amerikas ausmachte. Der Begriff »Momism« stammt aus Philip Wylies Generation of Vipers von 1942, einer ungehalten frauenfeindlichen Tirade gegen den Verfall amerikanischer Kultur durch »die zerstörerische Mutter«. Wylie argumentierte, Amerika sei von Materialismus und oberflächlicher Populärkultur verschlungen worden – und beides bringt er mit Frauen in Verbindung. Seifenopern, Mode, Fernsehen, Radio, sentimentale Popsongs, Hollywood, Kaufhäuser – all das seien »verkommene« Auswüchse der Massenkultur mit dem Zweck, weibliche Sensibilitäten anzusprechen und die zügellose Freiheit amerikanischer Kultur zu unterjochen. »Das Radio ist die schwerste Waffe der Mutter, denn es zwingt jedem, der zuhört, die Marke des Matriarchats auf«, wütete Wylie, als stünde der Weltuntergang unmittelbar bevor (ein paar Jahre später hätte er den Schuldigen sicher im Fernsehen gefunden). Wylie machte Stimmung gegen die Tyrannei der Massenmedien, die sich in matriarchaler Sentimentalität, Verlogenheit, Schmalz und verborgener Grausamkeit äußere und einen Vorboten des Todes der Nation darstelle.
In ihrer Analyse von Wylies Werk merkt Jacqueline Rose an, dass die Gefahren von Weiblichkeit und Massenkultur in einer intimen Beziehung zueinander stünden. Unter Kritikern der 1940er und 1950er war diese Verbindung von Popkultur und Frauen weit verbreitet. So behauptete Dwight MacDonald 1953 in seinem Essay »A Theory of Mass Culture«, dass Durchhaltevermögen die wichtigste Tugend derjenigen sei, die der Verbreitung des Drecks der Massenkultur trotzten. Ironischerweise kam dieser auf Geschlechterfragen basierende Elitismus später in Form der Unterscheidung von Rock und Pop innerhalb der Popkultur selbst wieder auf. Hier wird die korrekte Rezeption (männliches Kennertum, anspruchsvolles Unterscheidungsvermögen) der verkommenen weiblichen Fanverehrung (oberflächlich, hysterisch, gleichzeitig wahllos und loyal) entgegengestellt.
Die negative Konnotation von Popkultur und Weiblichkeit hat eine lange Geschichte. Andreas Huyssen führt sie auf Gustave Flauberts Madame Bovary zurück – ein Buch, in dem einer der Väter der Moderne das wenig schmeichelhafte Porträt einer von romantischer Literatur verdorbenen Frau zeichnete. Dieser Reflex hat weiterhin Bestand. In »She Watch Channel Zero?!« (vom Album It Takes a Nation of Millions to Hold Us Back, 1988) werfen Public Enemy schwarzen Müttern ihre Vorliebe für Soaps und Talkshows wie der von Oprah Winfrey vor, wegen der sie ihre