Der Weg der verlorenen Träume. Rebecca Michéle
Читать онлайн книгу.»Damen- und Herrenschneidermeisterin Fräulein Hedwig Mahnstein«, las Albert laut von dem Dokument ab und zeichnete mit den Händen ein Rechteck in die Luft. »Ich sehe das Schild deutlich vor mir: eine schwarze Schrift auf glänzendem Metall.«
»Es wird wohl noch dauern, bis ich mir eine eigene Werkstatt einrichten kann«, wandte Hedwig ein.
»Trotzdem – das muss gefeiert werden! Heute Abend führe ich dich ganz groß aus.«
»Ach, Albert, das ist doch viel zu teuer ...«
»Papperlapapp, heute spielt Geld keine Rolle«, wischte Albert ihren Einwand beiseite. »Ich bin sehr stolz auf dich, und alle sollen es sehen!«
Seine Worte hüllten Hedwig wie in einen warmen Umhang ein. Sie gab sich einen Ruck und nahm Alberts Einladung an. Es war wirklich ein Anlass, um einmal über die Stränge zu schlagen.
Im Hause Mahnstein wurde die Nachricht, dass Hedwig trotz ihrer jungen Jahre gleich zwei Meistertitel erlangt hatte, mit gemischten Reaktionen aufgenommen.
»Herzlichen Glückwunsch!« Luise fiel der Schwester um den Hals, als sie nach Hause zurückkehrte. »Ich freue mich für dich! Ich wusste immer: Du bist die Intelligenteste von uns allen.«
»Was willst du jetzt damit anfangen?«, murrte Hermann Mahnstein und musterte seine älteste Tochter skeptisch, Hedwig erkannte dennoch einen Anflug von Bewunderung in seinen Augen. »Die Meisterbriefe kannst du dir einrahmen und von mir aus an die Wand hängen, Hauptsache, du bist jetzt wieder zu Hause und gehst deiner Mutter zur Hand. Es ist viel Arbeit liegengeblieben.«
»Ach, Hermann, lass Hedwig sich doch erst wieder eingewöhnen«, nahm Auguste Mahnstein ihre Tochter überraschend in Schutz. »Du bist dünn geworden, Mädchen, hast in der Fremde wohl nichts zu essen bekommen.«
Dankbar sah Hedwig ihre Mutter an und erwiderte: »Ich habe viel gearbeitet und gelernt, aber fast jede Nacht von deinen köstlichen Sauerklopsen geträumt.«
»Dann sollst du diese heute Abend bekommen«, rief Auguste, und zu ihrem Mann, der die Lippen öffnete, sagte sie entschieden: »Nichts da, auch wenn heute kein Sonntag ist, bekommt das Kind sein Lieblingsessen!«
Es kam selten vor, dass sich Hermann seiner Frau fügte. Vielleicht lag es daran, dass Auguste Mahnstein in den letzten Monaten, in denen sie Hedwigs Hilfe hatte entbehren müssen, deutlich gealtert war. Hedwig konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter bei ihrer letzten Begegnung so gebeugt gegangen war, auch waren die Knöchel ihrer Finger geschwollen, und beim Treppensteigen biss Auguste sich auf die Unterlippe, um nicht vor Schmerzen zu stöhnen.
»Du bist krank, Mutter«, stellte Hedwig fest, als sie miteinander allein waren. »Was sagt der Arzt?«
»Ach, diese Quacksalber, die haben doch keine Ahnung ...«
»Mutti, antworte mir bitte: Hast du dich gründlich untersuchen lassen?«
Auguste seufzte, dann nickte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
»Hedi, ich habe zwölf Kinder geboren, bei Siegfrieds Geburt war ich viel zu alt. Es ist zwar gut gegangen, hat aber Spuren hinterlassen. Ich bin eine alte Frau, in deren Gelenken das Rheuma sitzt, da können kein Doktor und keine Medizin auf der ganzen Welt helfen. Das ist der Lauf der Zeit. Jetzt habe ich aber wieder Hilfe von dir, das macht es einfacher.«
In Hedwig regte sich schlechtes Gewissen, die Mutter ein ganzes Jahr allein gelassen zu haben. Auguste sah wahrlich krank und abgearbeitet aus – wie konnte sie es da wagen, ihren eigenen Weg gehen zu wollen? Auguste hatte sie schließlich geboren und war immer für sie da gewesen. Vielleicht konnte sie ihren Traum trotzdem verwirklichen, ohne ihr Elternhaus zu verlassen.
»Ich werde dir zur Hand gehen, so gut es möglich ist«, sagte Hedwig. »Im Zimmer oben werde ich mir eine Werkstatt einrichten, so bin ich immer im Haus, gleichzeitig kann ich mir einen Kundenstamm aufbauen.«
Auguste seufzte. »Das musst du mit deinem Vater besprechen, ich fürchte, er glaubt, dass du wie zuvor nur kleinere Änderungen machen möchtest. Selbst wenn er seine Zustimmung gibt – wovon willst du Stoffe, Garn oder gar eine Nähmaschine kaufen?«
Auguste hatte einen wunden Punkt angesprochen, über den Hedwig grübelte, seit sie die Prüfungen bestanden hatte und von einer Selbstständigkeit träumte. Natürlich könnte sie versuchen, sich als Meisterin bei den ansässigen Schneidereien zu bewerben, die wirtschaftliche Situation hatte sich in den letzten Monaten indes rapide verschlechtert. Seit Anfang des Jahres verfiel die Reichsmark immer mehr, was besonders den Mittelstand hart traf. Lohn, der am Abend ausgezahlt wurde, war am nächsten Morgen schon nichts mehr wert. Die Inflation schritt mit rasenden Schritten voran, nur, wer Sachwerte wie Schmuck, Gemälde oder sonstige Kunstwerke besaß, die er eintauschen konnte, kam noch über die Runden. Auch Hermann Mahnstein schwamm regelrecht im Geld, denn längst wurden Grundnahrungsmittel wie Brot, Butter und Milch mit Geldscheinen in Billionenhöhe bezahlt. Im Westen des Deutschen Reiches waren Streiks und Demonstrationen an der Tagesordnung. Niemand konnte es sich leisten, eine Meisterin einzustellen, außerdem wollte Hedwig sich niemandem unterordnen. Sie wollte ihre Kreationen verwirklichen und ihr eigener Herr sein.
»Zuerst biete ich tatsächlich nur wieder Änderungen gegen Waren an«, antwortete sie nachdenklich. »Die Zeiten werden auch wieder besser und das Geld stabiler. Von dem Lohn kann ich mir dann nach und nach etwas zurücklegen, und in zwei oder drei Jahren eine eigene Nähmaschine kaufen.«
»Ach, Kind, woher nimmst du nur einen solchen Optimismus?«
»Jedes noch so tiefe Tal hat irgendwann ein Ende, und dann führt der Weg wieder nach oben«, antwortete Hedwig voller Überzeugung.
Auguste seufzte, als läge alle Last dieser Welt auf ihren Schultern. »Wir müssen auf Gott vertrauen, er weiß, welcher Weg für uns der Richtige ist und wird uns führen.«
Wenn Auguste keine andere Antwort wusste, berief sie sich auf Gott. Im vergangenen Jahr war sie noch gläubiger geworden. Um das Thema zu wechseln, fragte Hedwig:
»Wo ist eigentlich mein kleiner Bruder? Siggi hat mich noch gar nicht begrüßt.«
Das erste Lächeln des Tages zog über Augustes Gesicht.
»Er ist bei Tante Martha. In den letzten Monaten war sie mir eine große Hilfe, denn ich bin einfach zu alt, um ein Kleinkind aufzuziehen, aber jetzt ...« Vielsagend sah sie ihre Tochter an, und Hedwig verstand. Durch die Meisterschule hatte sich nichts geändert, und ihre Träume einer Selbstständigkeit würden wohl niemals Realität werden.
FÜNF
Verdutzt drehte Hedwig den elfenbeinfarbenen Umschlag zwischen den Fingern. In einer zierlichen, klaren Schrift war der Brief an sie adressiert. Wer schrieb ihr auf solch feinem Papier? Mit dem Fingernagel ritzte Hedwig den Umschlag auf und zog eine Karte heraus.
Zu dem jährlichen Winterball auf Schloss Duwensee am 13. November laden wir Sie herzlichst ein.
Marianne von Kosin, Gräfin zu Duwensee
Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln, denn Hedwig kannte weder die Gräfin noch sonst jemanden, der mit der Familie in Verbindung stand. Das herrschaftliche Anwesen lag etwa zwölf Kilometer südwestlich von Sensburg, und Hedwig war überhaupt noch nie in dieser Gegend gewesen. Sie drehte die Karte um und schmunzelte, als sie auf der Rückseite die hingekritzelten Worte las:
Ich hole Dich um fünf Uhr ab, zieh was Hübsches an. A.
Sie fragte sich, wie es Albert gelungen war, eine Einladung zum Ball auf Schloss Duwensee zu bekommen, dazu noch, dass man auch sie, Hedwig, einlud. Es war aber gleichgültig, denn sie würde auf keinen Fall hingehen. Nicht nur, dass sie mit dieser Gesellschaft nichts zu tun hatte – sie hatte nicht die passende Garderobe für einen solchen Anlass, und die Zeit, sich etwas Entsprechendes zu nähen, war zu knapp.
Sie ging in ihr Zimmer, nahm Papier und den Füllfederhalter und schrieb an Albert, der sich noch in Allenstein aufhielt, bedankte sich für die Einladung und meinte, es wäre