Der Weg der verlorenen Träume. Rebecca Michéle

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Der Weg der verlorenen Träume - Rebecca Michéle


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und presste zwischen den Zähnen hervor: »Dann geh doch und treib dich mit diesen Leuten herum, die immer noch auf ihren hohen Rössern sitzen und meinen, die Welt für sich gepachtet zu haben, nur weil sie einen Stammbaum haben und vermögend sind.«

      »Vater ...« Hedwig berührte seinen Ärmel, sie wollte sich nicht in Unstimmigkeit von ihm trennen, er schüttelte sie jedoch wie ein lästiges Insekt ab und verließ den Raum, ohne ihr noch einen Blick zu schenken. Hedwig atmete tief ein und aus, um ihren schnellen Herzschlag zu beruhigen. Die Worte und das Verhalten ihres Vaters hatten sie verletzt, auch war sie enttäuscht, dass er so wenig Vertrauen in sie hatte. In seiner Jugend war es unmöglich, dass ein Mädchen ohne weitere Begleitung einen jungen Mann zu einem Ball begleitete. Wie hatte Hedwig aber vorhin gesagt: Die Zeiten hatten sich gewandelt, Konventionen sich verschoben, und sie, Hedwig, war weit davon entfernt, sich Hals über Kopf in eine Beziehung zu stürzen, die ohnehin keine Zukunft hatte. Ihre Worte, sie wolle niemals heiraten, entsprachen der Wahrheit. Hedwig sah ihre Zukunft als Schneiderin, ohne die Pflichten einer Ehefrau und Mutter.

      Es war nun wenige Minuten vor fünf. Hedwig schlüpfte in ihren staubgrauen Mantel und hoffte, Albert würde pünktlich sein. Bisher hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht, wie sie nach Duwensee gelangen sollten, Albert hatte nur geschrieben, er würde sie abholen. Als jetzt ein dunkelgrünes Automobil vor dem Haus hielt und Albert aus dem Wagen stieg, eilte sie ihm entgegen und rief: »Ich wusste nicht, dass du einen Wagen hast!«

      »Den habe ich mir ausgeliehen.« Albert grinste und öffnete die Beifahrertür. »Zu einem solchen Ball können wir doch nicht im Pferdegespann vorfahren.«

      »Ausgeliehen? Ist das nicht teuer?«,

      »Ach, Hedi, musst du immer nur ans Geld denken?«, antwortete Albert mit einem leicht ungeduldigen Unterton. »Wenn es dich aber beruhigt: Den Wagen hat mir ein Freund für heute Abend kostenlos überlassen. Deine Frisur sieht übrigens sehr hübsch aus, du solltest dein Haar öfter in dieser Art tragen.«

      Sein letzter Satz schmeichelte Hedwig, und sie ließ sich von Albert beim Einsteigen helfen. Nach der Auseinandersetzung mit ihrem Vater wollte sie nicht noch mit Albert diskutieren. Es konnte ihr gleichgültig sein, wofür Albert sein Geld ausgab, er war ihr gegenüber keine Rechenschaft schuldig.

      Sicher und konzentriert lenkte Albert den Wagen über die schmalen Landstraßen. In den letzten zwei Wochen hatte es zwar mehrmals geschneit, die Straßen waren aber noch frei und gut befahrbar. Bald jedoch würde die Zeit kommen, in der Väterchen Frost das Land fest im Griff hatte und die Menschen ihre Dörfer kaum noch verlassen konnten. Bevor diese Zeit begann und das gesellige Leben bis zum nächsten Frühling fast vollständig zum Erliegen kam, gab die Gräfin von Duwensee jedes Jahr einen Ball, erklärte ihr Albert während der Fahrt in südwestliche Richtung. In jeder Kurve klammerte Hedwig sich Halt suchend an den Sitz. Zum ersten Mal fuhr sie in einem Automobil, und noch wusste sie nicht, ob es ihr gefiel oder Angst einjagte. Albert bemerkte es und lächelte beruhigend.

      »Keine Sorge, Hedi, ich beherrsche das Autofahren, und es macht großen Spaß. Ist es nicht ein tolles Gefühl, so schnell durch die Landschaft zu brausen?«

      »Nun ja, ich weiß nicht ...«

      Albert legte seine rechte Hand auf Hedwigs Oberschenkel. Durch den Mantel und das Kleid hindurch meinte sie, die Wärme seiner Haut zu spüren – ein Gefühl, das sie verwirrte.

      »Leg bitte beide Hände dorthin, wo sie hingehören.«.

      Er grinste und meinte: »Das würde ich gern, aber ich muss ja lenken.«

      »Ach du!«, stieß Hedwig hervor, froh, dass er in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie sie errötete. Mit sanfter Gewalt schob sie seine Hand von ihrem Bein und stellte die Frage, die sie seit Tagen beschäftigte: »Ist deine Familie mit denen von Duwensee bekannt, oder wie kommt es zu dieser Einladung? Noch dazu, dass auch ich eingeladen wurde, mich kennt doch keiner von denen.«

      Albert, drehte für einen Moment den Kopf zu ihr und zwinkerte Hedwig zu. »Alexander von Kosin und ich lernten uns an der Musikhochschule in Königsberg kennen. Auch er strebte eine Karriere als Pianist an, musste diesen Plan aber aufgeben, als vor drei Jahren sein Vater starb. Alex als einziger Sohn ist nun der Graf von Duwensee und kümmert sich um die Güter. Er macht aber, so oft es ihm möglich ist, weiterhin Musik. Über die letzten Jahre hinweg hielten wir losen Kontakt, und ich dachte, es wäre eine nette Idee, bei dem jährlichen Herbstball teilzunehmen. Ein Anruf bei Alex genügte, und er freut sich, dich kennenzulernen.«

      Die Frage, was Albert seinem Freund über sie gesagt und wie er ihre Beziehung dargestellt hat, lag Hedwig auf der Zunge, da kam aber auch schon das hell erleuchtete, dreigeschossige Schloss mit dem Säulenportal aus weißem Marmor in Sicht. Automobile jeder Größe und Ausstattung fuhren vor, Diener öffneten die Türen und halfen den Damen beim Aussteigen. Als sich Albert in die Schlange einreihte und Hedwig die erlesene Eleganz der Kleider sah, krampfte sich ihr Magen zusammen.

      »›Ich glaube, ich kann das nicht.«

      »Was kannst du nicht?«

      »Dort hineingehen. Ich passe nicht zu diesen Leuten, mein Kleid ist viel zu schlicht, und ...«

      »Du siehst wundervoll aus!«, erwiderte Albert entschieden, »Weder Alex noch die Gräfin von Duwensee sind Snobs. Bei ihnen zählt der Charakter, nicht der Stoff, in den man sich kleidet. Also sei kein Frosch, Hedi! Du bist doch sonst selbstbewusst und weißt, wer du bist und was du kannst.«

      Alberts Worte beruhigten Hedwig zwar ein wenig, ihre Beine fühlten sich dennoch wie Pudding an, während sie an seinem Arm in die geflieste Halle trat. Ein Diener bat um ihre Mäntel, und als sie im Kleid dastand, bemerkte Hedwig, wie der Bedienstete für einen Moment die Stirn runzelte, sich dann aber den nächsten Gästen zuwandte. Dutzende von Männern und Frauen jeglichen Alters, die sich alle untereinander zu kennen schienen, standen bereits plaudernd zusammen oder gingen über die breite, geschwungene Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sich der Ballsaal befand. Ältere Damen trugen bodenlange Roben, jüngere die modernen, ärmellosen Abendkleider, deren Röcke knapp unter dem Knie endeten. Viele hatten sich mit mehrreihigen Perlenketten, einige auch mit Federn besetzte Haarreifen geschmückt. In Magazinen hatte Hedwig Fotografien dieser Mode gesehen, die in den großen Städten von immer mehr Frauen getragen wurde, in Sensburg aber noch nie jemand derart gekleidet bemerkt. Hedwig begrüßte es zwar, dass die Korsetts vollständig aus der Mode verschwunden waren und die Röcke kürzer getragen wurden. Einige der Aufmachungen, die heute Abend hier vertreten waren, erschienen Hedwig aber doch zu freizügig, fast schon frivol, zumal die Frauen ihre Gesichter zusätzlich mit Rouge und Lippenstift geschminkt hatten. Ihre Selbstsicherheit bekam Risse, sie fühlte sich wie eine Landpomeranze.

      »Nur Mut, Hedi«, raunte Albert an ihrem Ohr dann lauter: »Da drüben ist Alex! Wir müssen ihn begrüßen.«

      Sein Arm lag fest um ihre Hüfte und Hedwig musste Albert quer durch die Halle folgen, obwohl sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht hätte und fortgelaufen wäre.

      Alexander Kosin, Graf von Duwensee, war ein großer, schlanker Mann mit weißblondem Haar und hellblauen Augen. Albert begrüßte er mit einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter, vor Hedwig deutete er eine Verbeugung an und sagte:

      »Sie sehen mich erfreut, Sie kennenzulernen, Fräulein Mahnstein.«

      »Ich danke Ihnen für die Einladung«, erwiderte Hedwig und senkte leicht den Kopf, »muss aber gestehen, dass ich sehr überrascht war, da unsere Familien in keinem Kontakt zueinander stehen.«

      »Wenn mein Freund Albert mir seine entzückende Begleitung vorstellen möchte, konnte ich natürlich nicht widerstehen. Und er hat nicht zu viel versprochen.«

      Hedwig schnappte nach Luft, denn Alexander Kosin hatte ihr in einer Art zugezwinkert, die eindeutig zweideutig war. Albert hatte es entweder nicht bemerkt, oder es störte ihn nicht.

      »Meine liebe Hedi ist eine hervorragende Schneidermeisterin. Deine Mutter wäre von ihren Kreationen begeistert, Alex. Das Kleid, das Hedi trägt, hat sie selbst geschneidert.«

      »Lass doch, Albert«, murmelte


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