Die Geheimnisse von Paris. Эжен Сю

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Die Geheimnisse von Paris - Эжен Сю


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      Rudolf blickte ernst vor sich hin. Er gedachte des grausamen Schicksals, das auf dem armen Mädchen gelastet hatte; er gedachte ihrer Mutter, die vielleicht in Reichtum und Luxus lebte, vielleicht eine glänzende Rolle in der Welt spielte und geehrt, umschwärmt war ... während ihr armes Kind, ein unglückliches Mädchen, der Schande überliefert werden sollte, die Dachkammer der Eule mit der Zelle einer Besserungsanstalt, diese wieder mit der Kaschemme einer herzlosen Zuchthäuslerin hatte vertauschen müssen! Das betrübte Mädchen sah ihrem Begleiter in das ernste Gesicht und sagte traurig zu ihm: »Seien Sie mir nicht böse, Herr Rudolf! Solche Gedanken sollte ich eigentlich gar nicht haben! Sie nehmen mich mit aufs Land hinaus, um mir ein paar heitere Stunden zu bereiten, und ich klage Ihnen die Ohren voll. Du mein Gott! Ich weiß nicht, wie es zugeht; es kommt mir ganz von selbst in den Sinn. Glücklicher als jetzt habe ich mich ja nie im Leben gefühlt. Wo kommen bloß die Tränen her, die mir die Augen füllen? Nicht wahr, Herr Rudolf, Sie sind mir nicht böse? Sehen Sie, die Traurigkeit vergeht ja wieder, so schnell wie sie gekommen ist ..« Noch einmal blinzelte sie kräftig, um die Tränen aus den Augen zu entfernen, die sich immer wieder darin festsetzen wollten. Rudolf blickte sie mit innigem Mitleid an.

      Der Fiaker hatte eben das Dorf Sarcelles passiert. Rudolf rief dem Kutscher zu, rechts abzubiegen, durch Villiers-le-Bel zu fahren und dann links immer gradeaus zu fahren ... »Nun können wir wieder Luftschlösser bauen, Marienblümchen,« sagte er, »zumal es ja keinen von uns Geld kostet.« – »Nun, da wollen wir doch einmal sehen, ob ich raten würde, was für Luftschlösser Sie sich aussuchen möchten.« – »Nun, angenommen, dieser Pfad hier führte nach einem niedlichen, seitab von der großen Heerstraße gelegenen Dörfchen ... das so recht hübsch hinter Bäumen versteckt und am Ufer eines Büchleins läge, neben einer Meierei, auf der einen Seite läge ein Obst-, auf der andern ein Gemüsegarten ..«

      »Aber, Herr Rudolf, dieses kleine Dörfchen liegt ja doch vor mir, dort drüben! Sehen Sie es denn nicht?« – »Und in dem Dörfchen steht ein schmuckes Landhäuschen, unten mit einer großen Küche für die Leute, oben mit einem saubern, nett eingerichteten Eßstübchen für die Pächterin, mit grünen Jalousien vor den Fenstern, und hübschem Mobiliar ... Und die Pächterin, Kind, wäre Ihre Tante?«

      »Ach, und die hätte mich lieb, so recht von Herzen lieb, Herr Rudolf«, rief das Mädchen in schwärmerischem Entzücken; »ach! wie schön muß es doch sein, von solcher Frau aufrichtig geliebt zu werden!« Sie faltete die Hände und wandte mit einem unbeschreiblichen Ausdruck inniger Freude die Augen zum Himmel empor ..

      »Und oben im ersten Stock«, fuhr Rudolf fort, »läge Ihr eignes Stübchen, Marienblümchen, mit zwei Fenstern, die auf Blumengarten und Wiese hinausgingen, und von wo aus Sie das kleine, muntere Bächlein sehen könnten. Und hübsch tapeziert müßte es sein und schöne Gardinen haben, ein großer Rosenstock und ein Jelängerjelieber sollten drin stehen, so daß Sie bloß die Hand auszustrecken brauchten, wenn Sie einen Blumenstrauß flechten wollten..«

      – »Ach, Herr Rudolf, wie schön Sie das alles auszumalen wissen! Da möchte man gern hundert Jahre alt werden, damit die Freude nie ein Ende hätte!«

      Rudolfs Worte hatten sie der Wirklichkeit entrückt, aber nur auf Augenblicke, denn bald trat ihr die rauhe Wirklichkeit wieder vor die Seele... »Ach, Herr Rudolf«, sagte sie, »Sie haben mir doch eben recht weh getan. Einen Augenblick habe ich gemeint, im Paradiese zu sein, und nun ...« – »O, das Paradies ist kein Traum, armes Kind, sondern eitel Wirklichkeit! Da, sehen Sie!« und er zeigte auf ein schmuckes, kleines Landhäuschen... »Kutscher, halt!«

      Der Fiaker hielt. Marienblümchen blickte unwillkürlich auf. Wie staunte sie! Eine Weile lang kam ihr alles wie Zauberei vor ... »Aber, Herr Rudolf«, sagte sie, »wie soll ich mir das alles deuten? Es ist doch nur ein Traum? Gott! Wie mich das alles unruhig und ängstlich macht!«

      – »Aber, Kind, du brauchst gar keine Angst zu haben, die Pächtersfrau ist meine Amme, und in dem Häuschen bin ich auferzogen worden. Heute morgen in aller Frühe habe ich an sie geschrieben, daß ich ihr einen hübschen Besuch bringen werde, und nun bist du da, und meine gute Amme wird mir recht geben, daß ich ihr so geschrieben habe.«

      Der kleine Pachthof, wohin Rudolf das Mädchen brachte, lag dicht vor dem zwei Stunden von Ecouen entfernten, unbekannten, versteckt in einem Wäldchen liegenden Dorfe Bouqueval. Kaum hielt der Wagen, als eine Frau von etwa fünfzig Jahren, in der gewöhnlichen Tracht der reichen Pächterinnen in der Pariser Umgegend, mit ernstem, fast kummervollem Gesicht auf die Schwelle trat und Rudolf mit ehrerbietiger Eilfertigkeit entgegentrat. Marienblümchen errötete tief und stieg zaudernd aus ...

      »Grüß Gott, meine liebe Frau Georges«, sagte Rudolf zu der Frau, »wie Sie sehen, halte ich pünktlich Wort.« – Zu dem Kutscher sich wendend, sagte er: »Du kannst nun nach Paris zurückfahren. Da hast du dein Geld für die Fahrt!« – Der Kutscher, ein kleiner, untersetzter Mensch, der den Hut tief in die Augen hineingedrückt hatte, während der hohe Pelzkragen seines Mantels fast sein ganzes Gesicht verhüllte, steckte das Geld in die Tasche, ohne mit einem Worte zu antworten, setzte sich wieder auf den Bock, gab seinem Pferde die Peitsche und war mit Pferd und Wagen bald in der Allee verschwunden. Rudolf dachte: »Der Mann hats ja recht eilig, nach einer so langen Fahrt gleich wieder heimzukommen, kaum Zeit, sich umzusehen, und gesprochen hat er überhaupt nichts? Na, es geht ihm gewiß darum, den andern Tagesteil noch recht auszunützen.«

      Da trat das Mädchen ängstlich auf ihn zu ... »Aber, Herr Rudolf«, sagte sie, »Sie schicken ja den Wagen fort? Ich muß doch heute abend wieder bei meiner Dienstherrin sein! Sie müßte mich ja sonst für eine gemeine Diebin halten! Was ich auf dem Leibe trage, gehört doch ihr, und Geld für Wohnung und Kost bin ich ihr außerdem schuldig.« »Seien Sie ganz ohne Sorge, Kind«, erwiderte Rudolf, »und lassen Sie sich sagen, daß Sie der garstigen Frau in dem Wirtshause keinen Sou mehr schuldig sind, denn ich habe – seien Sie mir aber deshalb ja nicht etwa böse – alles für Sie bezahlt, was die Frau als Ihre Schuld von mir gefordert hat. Meine liebe Frau Georges wird Ihnen andere Kleider geben, solche, wie sie sich für Sie schicken, und die Ihnen auch passen werden ... Sie sehen, als Tante entpuppt sie sich ja schon!«

      Noch immer war es dem Mädchen, als ob sie träumte. Bald sah sie die Pächterin, bald Rudolf an und konnte gar nicht glauben, was sie hörte ... »Herr Rudolf,« bat sie, »seien Sie nicht unbarmherzig! Sie täuschen mich doch nicht?« »Aber, Kind«, versetzte Rudolf mit einer Stimme noch immer liebevoll, aber doch auch wieder so ernst und würdevoll, wie sie ihn noch nie gehört hatte ... »wenn es nach Ihrem Herzen ist, so können Sie hinfort hier bei Frau Georges das ruhige Stillleben führen, dessen Schilde rung Sie noch eben in so hohem Maße entzückte. Wenn die gute Frau Georges auch nicht wirklich Ihre Tante ist, so wird sie doch, wenn sie mit Ihnen bekannter ist, innigem Anteil an Ihrem Schicksal nehmen, und in den Augen der Leute hier sollen Sie nicht anders angesehen werden als die Nichte der Frau. Wenn es auch eine kleine Unwahrheit ist, die wir da begehen, so wird sie doch beitragen, Ihnen Ihre Stellung hier nicht eben unangenehmer zu machen.«

      Marienblume preßte die Hände über die Brust. Dankbarkeit, Freude, Staunen, Hochachtung kamen auf ihrem schönen Antlitz zum Ausdruck, wieder traten ihr Tränen in die Augen, und voll innigen Gefühls sagte sie: »Herr Rudolf, Sie müssen vom Himmel gesandt sein, einem armen, unglücklichen Wesen, das Sie gar nicht kennen, das Sie aus Not und Schande befreien, des Guten soviel zu erweisen.« – Rudolf erwiderte mit tief melancholischem Lächeln und einem Ausdruck unsäglicher Güte auf dem Gesicht: »Du armes Kind! Auch ich habe, trotzdem ich noch jung bin, des Unglücks viel erlitten. Das mag Ihnen mein Mitgefühl mit Unglücklichen erklären. Marienblümchen, oder wie ich Sie hinfort genannt wissen möchte, Marie, gehen Sie nun mit Frau Georges ins Haus hinein! Ehe ich zurück nach Paris reise, werde ich noch einmal mit Ihnen sprechen. Ich werde mein schönstes Glück mit mir nehmen, wenn ich höre, daß Sie sich hier wohl und glücklich fühlen.«

      Marie gab keine Antwort, aber sie neigte das Haupt zu ihm herab, preßte einen dankbaren Kuß auf seine Hände und ging mit Frau Georges ins Haus hinein. Frau Georges betrachtete sie mit herzlicher Teilnahme.


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