Götterglaube. Kristina Licht
Читать онлайн книгу.Verdammte ist in einem abgeschiedenen Landhaus, etwa zwei Kilometer von hier. Seine Blutsverbundene ist bei ihm und mit ihnen noch ein ahnungsloser Mensch«, berichtete Darian.
»Warum ist die Blutsverbundene noch am Leben?«
»Ich habe sie vor zwei Wochen schon töten wollen, doch sie hat knapp überlebt. Danach ist sie mit dem Verfluchten geflohen. Ich habe ihre Spur erst vor Kurzem wieder aufgenommen. Inzwischen denke ich, es ist zu spät, um sie zu töten.«
Uriel nickte wissend. Er steckte in dem Körper eines bärtigen Mannes im mittleren Alter, trug ein Holzfällerhemd und war breit gebaut. Er strahlte die Ruhe in Person aus, wie es auch seine Seele stets tat. »Sie weiß zu viel.«
»Genau.«
»Das Risiko müssen wir eingehen. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren«, entgegnete Raphael im Körper einer schlanken schwarzhaarigen Frau. »Wir haben keine andere Wahl.« Sie blickte mit ihren großen braunen Augen von einem zum anderen, suchte nach Zustimmung, als begreife sie nicht, dass Kiaras Tod überhaupt zur Debatte stand.
Michael spitzte die Ohren, als er mit seinen geschärften Sinnen Schritte wahrnahm. Das Knacken von Zweigen, das Rascheln von Blättern. Die anderen drei müssten es ebenfalls hören. Ihre himmlische Macht war in den Körpern der Wirte zwar abgestumpft, doch ein Hauch Göttlichkeit haftete ihnen an und erleichterte ihnen die Missionen, für die gesandte Seelen auf die Erde geschickt wurden.
Die vier Erzengel drehten sich synchron um, die Blicke zwischen die Bäume gerichtet. Ein Reh? Ein Wanderer? Ewan?
Darians Hand wanderte zu der Halterung an seiner Hüfte, wo die himmlische Klinge steckte. Eine kürzere Version des Engelsschwertes – die einzige Waffe mit der Macht, Seelen zu eliminieren. Eine Seele auszulöschen, sie zu tilgen, war etwas gänzlich anderes, als einen Menschen zu töten. Es hatte eine Endgültigkeit, die mit nichts anderem auf der Welt zu vergleichen war.
Zwischen den Baumstämmen erschien eine menschliche Gestalt, die Michael mittlerweile nur allzu vertraut war – die jedoch nicht Ewan war. Wie töricht war dieser Verdammte eigentlich, sich gerade jetzt zu zeigen? Er lieferte sich selbst aus! Dachte er, die anderen Gesandten würden ihm auch nur annähernd so lange zuhören, wie er selbst es getan hatte?
Der Jüngling kam näher. Er trug eine dunkle Jeans und den gewohnten schwarzen Pullover mit der Kapuze, die seine Augen im Schatten ließ. Während er näher kam, hob er beide Hände. »Ich komme in Frieden.«
»Wer ist das, Michael?«, zischte Gabriel.
Was sollte er antworten? Darian war noch zu baff von der Tatsache, dass der Knabe in seinen eigenen Tod lief, als dass er sich eine kluge Antwort überlegen konnte. Doch das brauchte er auch nicht, denn der Verdammte kam ihm zuvor: »Ich will euch helfen. Mit euch gemeinsam arbeiten, um die Apokalypse zu verhindern.«
Resigniert schloss Darian die Augen. Der Knabe war dümmer, als er gedacht hatte. Und hatte ein viel zu loses Mundwerk.
»Was redest du da?«, fuhr Gabriel ihn an und überbrückte die Distanz zwischen ihnen. »Bist du ein Verdammter?«
Die Atmosphäre auf der Lichtung schlug augenblicklich um. Der Wind pfiff lauter, die Sonnenstrahlen versteckten sich hinter der grauen Wolkendecke. Alles war still, wartete darauf, dass der Eindringling sprach. Selbst die Vögel verstummten.
»Nein«, antwortete der Knabe ruhig. »Ich bin bloß ein Mensch. Eine Motte, die zu viel weiß. Aber ich kann euch behilflich sein, weil ich die Zukunft kenne. Ihr werdet die Apokalypse ohne mich nicht verhindern können. Ihr werdet sie herbeiführen.«
Bloß ein Mensch? Darian zuckte vor Überraschung zurück. Er musste lügen! Oder hatte er ihn an der Nase herumgeführt? Seine Gedanken überschlugen sich, er grub in seinen Erinnerungen, ob dieser Mann je zugegeben hatte, ein Verfluchter zu sein.
»Eine Motte? Als ob! Ihr habt keine Ahnung, was die Apokalypse überhaupt bedeutet!«, rief Gabriel. Sein junger, athletischer Körper passte zu seinem launischen Temperament. Er steckte die Hand in die hintere Hosentasche und zog ein Klappmesser heraus. Als die Klinge vor dem Gesicht des Fremden aufblitzte, zuckte niemand mit der Wimper.
»Gab …«, mahnte Michael.
»Ihr würdet keinen Menschen töten«, sprach der Typ unter der Kapuze. »Selbst wenn er eine nervige Motte ist und für die falsche Seite arbeitet. Eine Motte zu töten, bedeutet nämlich, einen weiteren Verfluchten zu riskieren.«
Damit hatte er Recht. Gesandte des Himmels durften keine Menschen töten, nicht in das Leben der Menschen eingreifen, auch wenn sie auf der Seite der Verfluchten standen. Nur wenn kein anderer Weg daran vorbeiführte, wie zum Beispiel bei dieser Kiara, durfte ihr Blut fließen, um die Seele eines Verdammten zu vernichten.
»Pech für dich, Kleiner. Ich glaube dir nämlich nicht«, erwiderte Gabriel unbeeindruckt – bevor er das Messer tief in den Magen des Fremden stieß.
Ein überraschtes Aufkeuchen verließ seinen Mund, er krümmte sich, doch da hatte Gabriel bereits ein weiteres Mal zugestochen. Blut spritzte über den Waldboden.
Michaels Körper sog scharf die Luft ein. Sein Herz schlug schneller.
Wenn dieser Bursche ein Mensch war … Gabriel hätte das nicht tun dürfen.
Die Gesandten beobachteten, wie der Fremde röchelte und die Hände vor dem Bauch zusammenschlug. Das Blut quoll erbarmungslos aus dem Loch in dem dunklen Pullover und färbte seine Finger rot.
Gabriel warf das Taschenmesser auf den Boden, dann riss er dem Verletzten die Kapuze vom Kopf.
Blonde Haare verbargen sich darunter. Und als der Junge den Kopf hob, schauten ihn blaue Augen an. Der Mund zu einem stillen »Oh« geöffnet.
Kiaras menschlicher Freund!
»Scheiße!«, fluchte Michael. Er wollte Gabriel das Genick dafür brechen. Dieser blonde Bursche war ein ahnungsloser Mensch! Das hatte er zumindest bisher angenommen, doch so ahnungslos konnte er nicht gewesen sein, wenn er hier auftauchte und über den Untergang der Welt sprach.
Noch bevor er Gabriels Kopf zurechtrücken konnte, knickten Falks Beine ein und er fiel zu Boden.
»Er ist also doch … nur eine Motte gewesen?«, fragte Uriel.
»Ich hätte ihm auch nicht geglaubt. So, wie er gesprochen hat. Was hat er überhaupt hier verloren?«, schaltete sich Raphael ein.
Doch Gabriel schüttelte den Kopf und die schwarzen Haare seines menschlichen Wirts peitschten durch die Luft. Er trat nach dem am Boden liegenden Körper und brach dann in schallendes Gelächter aus.
»Gabriel!«, schrie Michael aufgebracht. »Du bist des Wahnsinns! Geh zurück, Bruder! Erkläre den Göttern, was du getan hast!«
Doch sein Gelächter wurde nur lauter und lauter, hallte von den Baumwipfeln wider und hinterließ ein makabres Echo.
Gabriel bückte sich und zog den Körper des Menschen hoch. Wie eine schlaffe Marionette hielt er Falk in die Luft.
»Er ist ein guter Schauspieler. Und ein Lügner. Aber weißt du was, verdammte Seele?« Er hielt ihn am Kragen fest, sodass sich Falks Ohr neben Gabriels Lippen befand. Die Augen des Jungen waren geschlossen, als Gabriel ihm etwas ins Ohr flüsterte. Michael verstand jedes Wort: »Es war tapfer von dir, hierherzukommen, mein Freund. Die anderen haben deiner Lüge beinahe geglaubt. Aber ich stehe hier neben dir … und wärst du ein bloßer Sterblicher, so hätte dein Herz schon aufgehört zu schlagen. Doch es schlägt. Und deine Wunde verheilt.«
Mit diesen Worten hob er den mit Blut besudelten Pullover hoch, sodass die Gesandten den nackten Oberkörper des Jungen betrachten konnten. Sein Bauch war zwar blutverschmiert, doch die Wunde hatte sich bereits geschlossen.
Falks Lider flatterten, er blickte finster von einem zum anderen. »Verdammt.«
»Genau das bist du«, säuselte Gabriel mit einem schiefen Grinsen. »Michael, gib mir deine Klinge.«
Das