Götterglaube. Kristina Licht
Читать онлайн книгу.wieder, während der Tag dem Abend wich und es zunehmend kälter wurde. Meine Finger und Lippen waren schon taub, der Hunger höhlte mich langsam von innen heraus aus und mein Hals war so trocken wie die Sahara. Es schien, als würde ich immer tiefer in den Wald hineinlaufen, und vermutlich war es wahrscheinlicher, dass ich bald einem Bären oder einem Hexenhäuschen gegenüberstand, als einer Landstraße.
Meine Beine waren schwer wie Betonklötze. Resigniert blieb ich stehen, warf meine Reisetasche ins Laub und sank auf ihr nieder. In dem verzweifelten Versuch, mich zu wärmen, schlang ich die Arme so fest ich konnte um meinen Oberkörper, doch es half natürlich nichts.
Wie viele Stunden streifte ich nun schon blind durch den Wald? Ich musste zugeben, dass ich mich hoffnungslos verlaufen hatte.
Nicht aufgeben, Kiara. Du bist eine Kämpferin. Keine Heulsuse, ermahnte ich mich. Vermutlich würde ich bald anfangen, Selbstgespräche zu führen, und tatsächlich hielt mich nur die Angst davon ab, von den Gesandten oder den Verdammten gehört und gefunden zu werden.
Moment mal, wie dumm war ich eigentlich? Hastig sprang ich von meiner Tasche auf und wühlte darin nach meinem Smartphone. Wir lebten im 21. Jahrhundert, verdammt! Doch meine Euphorie sank schnell gegen Null, als ich sah, dass ich hier kein Netz hatte. Mich mithilfe von google maps hier raus zu manövrieren, fiel also genauso flach wie endlich meinen Stolz herunterzuschlucken und um Hilfe zu rufen. Auch wenn ich nicht wusste, wen ich angerufen hätte – aber nun musste ich mir darüber ohnehin nicht den Kopf zerbrechen. Ich stopfte das Handy in meine Jeanstasche, zog den Reißverschluss der Tasche wieder zu und warf sie mir über die Schulter. Ich musste weitergehen, wenn ich nicht die Nacht hier verbringen wollte. Blieb nur noch zu hoffen, dass ich nicht die ganze Zeit im Kreis lief.
Mittlerweile war es so dunkel, dass ich den nächsten Baum kaum noch erkannte, bevor ich fast dagegen lief. Mein Nicht-Aufgeben-Mantra war einem Ich-bin-so-dumm-Mantra gewichen. Doch es war schon lange zu spät, um umzukehren. Vermutlich würde ich hier in diesem Wald draufgehen. Ja, hier würde Kiara Golding sterben. Nichts da mit Engeln, die nach mir suchten. Warum hatten sie mich eigentlich nicht längst gefunden? Ich war tatsächlich sauer auf die Engel, als ich hinter mir plötzlich ein Rascheln und leises Knacken hörte.
Wie angewurzelt blieb ich stehen. Es könnte natürlich ein Kaninchen sein, oder ein Reh. Es könnte aber auch jemand anderes sein. Was, wenn es nicht Ewan oder Falk war? Wenn es nicht einmal die Gesandten waren? Was, wenn es ein Psychopath mit einer Kettensäge war, der Jugendliche in Wäldern und Ferienhütten aufsuchte und massakrierte?
Ich hielt den Atem an und lauschte in die Dunkelheit. Mein verzweifelter Herzschlag war meinen eigenen Fantasien ausgeliefert und ich verfluchte mich dafür, in meinem Leben so viele Horrorfilme gesehen zu haben. Nun holten sie mich alle ein. Ich will nicht sterben, war mein letzter Gedanke, als sich plötzlich von hinten eine Hand über meinen Mund legte.
Ich zuckte zusammen und schrie auf. Der Laut wurde von der kalten, auf meine Lippen gepressten Haut gedämpft. Ich ließ die Tasche fallen und zerrte stattdessen an dem Angreifer, in dem verzweifelten Versuch, mich aus seinem Griff zu befreien. Das jahrelange Kampftraining sollte sich eigentlich in so einer Situation bezahlt machen, doch mein Körper war steif und halb erfroren. Der lange Fußmarsch und der Durst hatten mich so geschwächt, dass ich meinen Angreifer nicht einmal über die Schulter werfen konnte.
»Pscht, hör auf«, flüsterte eine männliche Stimme an meinem Ohr. Sein Atem streifte heiß meine eiskalte Wange. Meine Glieder erschlafften und ich fühlte mich wie festgefroren in Raum und Zeit, während ich überlegte, woher ich diese Stimme kannte …
»Kann ich dich jetzt loslassen, ohne dass du schreist?«, fragte der Mann.
Ich nickte, während mein Herz noch immer raste, als würde es mir aus der Brust springen wollen. Wer zum Teufel hatte mich gefunden?
Als er mich losließ, fuhr ich augenblicklich herum und sah ihm ins Gesicht, das durch die Dunkelheit der Nacht nur wie ein bleicher Schatten vor mir schwebte.
»Milan?«
»Der Leibhaftige.«
Perplex blinzelte ich ihn an. Was tat er hier? Sollte ich erleichtert sein, dass er mich gefunden hatte, oder eher besorgt?
»So wortkarg habe ich dich gar nicht in Erinnerung«, bemerkte er, als ich immer noch kein Wort herausgebracht hatte. »Aber ich fühle mich geschmeichelt, dass du meinen Namen noch kennst.«
»Was willst du hier?«, fuhr ich ihn an und strich mir hektisch die Haare hinters Ohr.
»Was ich hier in dem Wald will? Oder generell?«
Okay, mein Fehler. Ich hatte vergessen, dass es sich bei diesem Mann um ein idiotisches Exemplar handelte, zu dessen Fähigkeiten eine vernünftige Konversation offensichtlich nicht gehörte. Ich schnaubte, griff nach meiner Tasche und ging weiter meines Weges.
»Hey, wo willst du hin?«, zischte er leise und folgte mir.
»Ich muss weiter, ich habe nicht ewig Zeit.«
»Warte.«
Ich ignorierte ihn.
»Hey!« Diesmal griff er dabei nach meinem Arm und riss mich unsanft herum.
Wütend funkelte ich ihn an. »Fass mich nicht an!«
»Du brauchst Hilfe«, sagte er, ohne meinen Arm loszulassen.
»Ach, nur weil ich abends allein durch den Wald laufe? Vielleicht liebe ich die Natur?« Ich legte den Kopf schief und verzog die Lippen zu einem gespielten Lächeln.
»Zeig mir mal deine Hand.«
»Was?«
Ohne dass ich mich wehren konnte, hob er meine Hand auf Augenhöhe und zog ein Handy aus seiner Jackentasche, mit dessen Taschenlampe er meine Finger beleuchtete. Ich kniff die Augen gegen das grelle Licht zusammen.
»Ich hab’ da so eine Theorie«, erklärte Milan. »Eine Frau hat ihr Leben nur dann im Griff, wenn ihre Nägel gepflegt und lackiert sind.«
Ich öffnete den Mund, ohne zu wissen, was ich darauf erwidern sollte. Was für eine schwachsinnige Theorie! Ich entriss ihm meine Hand. Meine Nägel sahen furchtbar aus. Dunkelrote Nagellackreste und Schmutz unter den Fingernägeln symbolisierten für Milan wohl das reinste Chaos in meinem Leben. Ich hatte es tatsächlich alles andere als unter Kontrolle, aber das würde ich ja bald ändern. Und dafür benötigte ich keinen Mann.
»Ich brauche keinen Ritter in schimmernder Rüstung.«
»Okay, ich hab’ Zeit«, erwiderte Milan zu meiner Überraschung. Er löschte das Licht seines Smartphones und die Dunkelheit verschluckte sein Gesicht.
»Okay.«
Und jetzt, Kiara? Ich wandte mich um und setzte erneut meinen Weg fort. Blind stolperte ich mehrere Meter vorwärts und verfluchte Milan dafür, durch den kurzzeitigen Lichteinfluss meine Augen von der Dunkelheit abgewöhnt zu haben. Wieder hörte ich seine Schritte hinter mir, doch diesmal rief er mir zumindest nicht mehr nach. Was hatte er vor? Hatte er es aufgegeben, mir seine Hilfe anzubieten? War ich zu stur und undankbar gewesen?
Ich stampfte durch das Geäst und mit jeder schweigsamen Minute kehrten die Kälte, die Erschöpfung und der Hunger zurück. Die Wut in meinem Magen wuchs, auch wenn sie sich größtenteils gegen mich selbst richtete. Für eine kurze Zeit hatte dieser blonde Verdammte mich abgelenkt, ja, mir sogar die irrsinnige Hoffnung gegeben, er würde mich hier aus dem Wald herausholen. Stattdessen hatte er sich nur für meine fehlende Maniküre interessiert.
Aufgebracht wirbelte ich zu ihm herum. Milan, der meinen plötzlichen Sinneswandel nicht hatte kommen sehen, lief in mich hinein. Meine Nase stieß gegen den Stoff seines Pullovers, der sich über seine Brust spannte. Der Geruch von Waschmittel stieg mir in die Nase. Einen Wimpernschlag später war Milan einen Schritt zurückgetreten und sah nun neugierig mit gehobenen Augenbrauen auf mich herab.
»Ich brauche keinen Stalker«, fuhr ich ihn an und hob drohend eine Hand zwischen uns. »Geh und pass lieber auf deinen Kumpel auf. Seid ihr überhaupt Kumpel?