LTI. Victor Klemperer

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LTI - Victor Klemperer


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Kaffeetafel für die Damen.« – Annemarie, ärztlich unverblümt wie immer, erzählt den Ausspruch eines Kollegen mit der Hakenkreuzbinde: »Was soll man tun? Das ist wie die Cameliabinde der Damen.« – Und Kuske, der Gemüsehändler, berichtet das neueste Abendgebet: »Lieber Gott, mach mich stumm, daß ich nicht nach Hohnstein kumm.« … Mach’ ich mir etwas vor, wenn ich aus alledem Hoffnung schöpfe? Der absolute Wahnsinn kann sich doch nicht halten, wenn einmal die Betrunkenheit des Volkes aufhört, wenn der Katzenjammer anfängt.

      25. August. Was nutzen die Symptome der Müdigkeit? Alles hat Angst. Mein »Deutsches Frankreichbild« war mit Quelle & Meyer verabredet und sollte zuerst in der »Neuphilologischen Monatsschrift« erscheinen, die der Rektor oder Professor Hübner redigiert, ein durchaus maßvoller und braver Schulmann. Vor ein paar Wochen schrieb er mir in bedrücktem Ton, ob ich nicht von der Veröffentlichung der Studie wenigstens bis auf weiteres absehen wollte; es gebe im Verlag »Betriebszellen« (merkwürdiges Wort, koppelt Mechanisches und Organisches – diese neue Sprache!), und man möchte doch gern die gute Fachzeitschrift erhalten, und den politischen Leitern liege das eigentliche Fachinteresse ferner … Darauf wandte ich mich an den Verlag Diesterweg, für den meine ganz sachliche und stark materialhaltige Arbeit gefundenes Fressen sein mußte. Rascheste Ablehnung; als Grund wurde angegeben, die Studie sei »rein rückwärts gerichtet« und lasse »die völkischen Gesichtspunkte vermissen«. Die Publikationsmöglichkeiten sind abgeschnitten – wann wird man mir das Maul verbinden? Im Sommersemester hat mich der »Frontsoldat« geschützt – wie lange noch wird der Schutz vorhalten?

      28. August. Ich darf und darf den Mut nicht sinken lassen, das Volk macht das nicht lange mit. Man sagt, Hitler habe sich besonders auf das Kleinbürgertum gestützt, und das war ja auch ganz offensichtlich der Fall.

      [45]Wir nahmen an einer »Fahrt ins Blaue« teil. Zwei volle Autobusse, etwa achtzig Leute, das denkbarst kleinbürgerliche Publikum, ganz unter sich, ganz homogen, kein bißchen Arbeiterschaft oder gehobenes, freier denkendes Bürgertum. In Lübau Kaffeerast mit Kabarettvorträgen der Wagenbegleiter oder -ordner; das ist bei diesen Ausflügen das Übliche. Der Conférencier beginnt mit einem pathetischen Gedicht auf den Führer und Retter Deutschlands, auf die neue Volksgemeinschaft usw. usw., den ganzen Nazirosenkranz herunter. Die Leute sind still und apathisch, am Schluß merkt man am Klatschen eines Einzelnen, an diesem ganz isolierten Klatschen, daß aller Beifall fehlt. Danach erzählt der Mann eine Geschichte, die er bei seinem Friseur erlebt habe. Eine jüdische Dame will ihr Haar ondulieren lassen. »Bedauere vielmals, gnädige Frau, aber das darf ich nicht.« – »Sie dürfen nicht?« – »Unmöglich! Der Führer hat beim Judenboykott feierlich versichert, und das gilt noch heute allen Greuelmärchen zum Trotz, es dürfe keinem Juden in Deutschland ein Haar gekrümmt werden.« Minutenlanges Lachen und Klatschen. – Darf ich daraus keinen Schluß ziehen? Ist nicht der Witz und seine Aufnahme für jede soziologische und politische Untersuchung wichtig?

      19. September. Im Kino Szenen vom Nürnberger Parteitag. Hitler weiht durch Berührung mit der Blutfahne von 1923 neue SA-Standarten. Bei jeder Berührung der Fahnentücher fällt ein Kanonenschuß. Wenn das nicht eine Mischung aus Theater- und Kirchenregie ist! Und ganz abgesehen von der Bühnenszene – schon allein der Name »Blutfahne«. »Würdige Brüder, schauet hier: Das blutige Märtyrtum erleiden wir!« Die gesamte nationalsozialistische Angelegenheit wird durch das eine Wort aus der politischen in die religiöse Sphäre gehoben. Und die Szene und das Wort wirken fraglos, die Leute sitzen andächtig hingegeben da – niemand niest oder hustet, nirgends knistert ein Brotpapier, nirgends hört man das Schmatzen beim Bonbonlutschen. Der Parteitag eine kultische Handlung, der Nationalsozialismus eine Religion – und ich will mir weismachen, er wurzele nur flach und locker?

      [46]10. Oktober. Kollege Robert Wilbrandt kam zu uns. Ob wir einen staatsgefährlichen Gast aufnehmen wollten? Er ist plötzlich entlassen worden. Die Würgeformel heißt »politisch unzuverlässig«. Man hat die Affäre des Pazifisten Gumbel ausgegraben, für den er in Marburg eingetreten ist. Und dann: er hat ein kleines Buch über Marx geschrieben. Er will nach Süddeutschland, will sich in einem abgelegenen Nest in seine Arbeit vergraben … Wenn ich das auch könnte! Tyrannei und Unsicherheit wachsen mit jedem Tage. Entlassungen im verjudeten Kreis der Fachkollegen. Olschki in Heidelberg, Friedmann in Leipzig, Spitzer in Marburg, Lerch, der ganz arische Lerch, in Münster, weil er »mit einer Jüdin im Konkubinat« lebe. Der blonde und blauäugige Hatzfeld, der fromme Katholik, fragte mich ängstlich an, ob ich noch im Amt sei. In meiner Antwort wollte ich wissen, wieso er für seine, doch gänzlich unsemitische Person Befürchtungen hege. Er schickte mir den Sonderdruck einer Studie; unter seinem Namen stand mit Tinte: »Herzliche Grüße – 25 %.«

      Die philologischen Fachzeitschriften und die Zeitschrift des Hochschulverbandes bewegen sich derart im Jargon des Dritten Reichs, daß jede Seite buchstäblich Brechreiz verursacht. »Hitlers eiserner Besen« – »die Wissenschaft auf nationalsozialistischer Basis« – »der jüdische Geist« – »die Novemberlinge« (das sind die Revolutionäre von 1918).

      23. Oktober. Mir ist vom Gehalt eine »Freiwillige Winterhilfe« abgezogen worden; niemand hat mich deswegen vorher gefragt. Es soll sich um eine neue Steuer handeln, von der man sich ebensowenig ausschließen darf wie von irgendeiner anderen Steuer; die Freiwilligkeit bestehe nur darin, daß man über den festgesetzten Betrag hinaus zahlen dürfe, und auch hinter dieses Dürfen stelle sich für viele schon ein kaum verhüllter Zwang. Aber ganz abgesehen von dem verlogenen Beiwort, ist nicht das Hauptwort selber schon eine Verschleierung des Zwanges, schon eine Bitte, ein Appell an das Gefühl? Hilfe statt Steuer: das gehört zur Volksgemeinschaft. Der Jargon des Dritten Reichs sentimentalisiert; das ist immer verdächtig.

      [47]29. Oktober. Plötzlicher Ukas, sehr einschneidend in den Lehrplan der Hochschule: der Dienstagnachmittag ist freizuhalten von Vorlesungen, die Studenten in ihrer Gesamtheit werden in diesen Stunden zu Wehrsportübungen herangezogen. Fast gleichzeitig begegnete ich dem Wort auf einer Zigarettenschachtel: Marke Wehrsport. Eine halbe Maske, eine halbe Demaskierung. Allgemeine Wehrpflicht ist durch den Versailler Vertrag verboten; Sport ist erlaubt – wir tun offiziell nichts Unerlaubtes, aber ein bißchen tun wir es doch, und machen eine kleine Drohung daraus, wir deuten immerhin die Faust an, die sich – vorläufig noch – in der Tasche ballt. Wann werde ich in der Sprache dieses Régimes einmal ein wirklich ehrliches Wort entdecken?

      – – Gestern abend war Gusti W. bei uns, nach vier Monaten zurück aus Turö, wo sie mit ihrer Schwester Maria Strindberg zusammen bei Karin Michaelis gelebt hat. Dort hat sich offenbar eine kleine Gruppe kommunistischer Emigranten zusammengefunden. Gusti erzählte scheußliche Einzelheiten. Natürlich »Greuelmärchen«, die man sich nur ganz geheim zuflüstern darf. Besonders von dem Elend, das der jetzt sechzigjährige Erich Mühsam in einem besonders bösen Konzentrationslager erduldet. Man könnte das Sprichwort variieren und sagen: das Schlechtere ist der Freund des Schlechten; ich fange wahrhaftig an, die Regierung Mussolini für eine beinahe menschliche und europäische zu halten.

      Ich frage mich, ob man die Worte Emigranten und Konzentrationslager in ein Lexikon der Hitlersprache aufzunehmen hätte. Emigranten: das ist eine internationale Bezeichnung für die vor der Großen Französischen Revolution Geflohenen. Brandes


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