LTI. Victor Klemperer

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LTI - Victor Klemperer


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Emigrantengruppe – in ihrem Lager ist Deutschland! –, und »Emigrantenmentalität« ist ein beliebtes mot savant. So wird also diesem Wort in Zukunft nicht unbedingt der Aasgeruch des Dritten Reichs anhaften. Dagegen Konzentrationslager. Ich habe das Wort nur als Junge gehört, und damals hatte es einen durchaus [48]exotischkolonialen und ganz undeutschen Klang für mich: während des Burenkrieges war viel die Rede von den Compounds oder Konzentrationslagern, in denen die gefangenen Buren von den Engländern überwacht wurden. Das Wort verschwand dann gänzlich aus dem deutschen Sprachgebrauch. Und jetzt bezeichnet es, plötzlich neu auftauchend, eine deutsche Institution, eine Friedenseinrichtung, die sich auf europäischem Boden gegen Deutsche richtet, eine dauernde Einrichtung und keine vorübergehende Kriegsmaßnahme gegen Feinde. Ich glaube, wo künftig das Wort Konzentrationslager fallen wird, da wird man an Hitlerdeutschland denken und nur an Hitlerdeutschland …

      Ist es Kaltherzigkeit von mir und enge Schulmeisterei, daß ich mich immer wieder und immer mehr an die Philologie dieses Elends halte? Ich prüfe wirklich mein Gewissen. Nein; es ist Selbstbewahrung.

      9. November. Heute in meinem Corneilleseminar ganze zwei Teilnehmer: Lore Isakowitz mit der gelben Judenkarte; Studiosus Hirschowicz, Nichtarier, Vater Türke, mit der blauen Karte der Staatenlosen – die echten deutschen Studenten haben braune Karten. (Wieder die Umgrenzungsfrage: gehört das zur Sprache des Dritten Reichs?) … Warum ich so beängstigend wenig Hörer habe? Französisch ist kein beliebtes Wahlfach der Lehrerstudenten mehr; es gilt als unpatriotisch, und nun gar französische Literatur vom Juden vorgetragen! Man braucht schon beinahe ein bißchen Mut dazu, bei mir zu hören. Aber es kommt hinzu, daß jetzt alle Fächer schwach besucht werden: die Studenten sind vom »Wehrsport« und einem Dutzend ähnlicher Veranstaltungen übermäßig in Anspruch genommen. Und endlich: gerade in diesen Tagen müssen sie buchstäblich alle fast ununterbrochen bei der Wahlpropaganda mithelfen, sich an Umzügen beteiligen, an Versammlungen usw. usw.

      Dies ist nun die größte Barnumiade, die ich bisher von Goebbels erlebt habe, und ich kann mir kaum denken, daß es eine Steigerung darüber hinaus gibt. Das Plebiszit für die Führerpolitik und die »Einheitsliste« für den Reichstag. Für meinen Teil finde ich ja die [49]ganze Sache so plump und so ungeschickt wie möglich. Plebiszit – wer das Wort kennt (und wer es nicht kennt, wird es sich erklären lassen), Plebiszit ist doch unweigerlich mit Napoleon III. verknüpft, und Hitler sollte sich lieber nicht mit ihm in Verbindung bringen. Und »Einheitsliste« zeigt gar zu deutlich, daß der Reichstag als Parlament ein Ende hat. Und die Propaganda als Ganzes ist wirklich eine so vollkommene Barnumiade – man trägt Schildchen mit einem »Ja« am Mantelaufschlag, man darf den Verkäufern dieser Plaketten nicht nein sagen, ohne sich anrüchig zu machen –, eine solche Vergewaltigung des Publikums, daß sie eigentlich das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung hervorbringen müßte …

      Eigentlich – aber ich habe mich bisher noch immer getäuscht. Ich urteile wie ein Intellektueller, und Herr Goebbels rechnet mit einer betrunken gemachten Masse. Und außerdem noch mit der Angst der Gebildeten. Zumal ja niemand an die Wahrung des Wahlgeheimnisses glaubt.

      Einen gewaltigen Sieg hat er jetzt schon über die Juden errungen. Es gab am Sonntag eine abscheuliche Szene mit dem Ehepaar K., das wir zum Kaffee hatten laden müssen. Müssen, denn der Snobismus der Frau, die kritiklos jede neueste oder zuletzt gehörte Meinung nachschwätzt, geht uns schon lange auf die Nerven; aber der Mann, obwohl er gern die Rolle des weisen Nathan spielt, schien mir immer leidlich vernünftig. Am Sonntag also erklärte er, er habe sich »schweren Herzens«, genau wie der Zentralverein jüdischer Staatsbürger, entschlossen, beim Plebiszit mit Ja zu stimmen, und seine Frau setzte hinzu, das Weimarer System habe sich nun einmal als unmöglich erwiesen, und man müsse sich »auf den Boden der Tatsachen« stellen. Ich verlor alle Fassung, schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Tassen klirrten, und schrie dem Mann wiederholt die Frage zu, ob er die Politik dieser Regierung für verbrecherisch halte oder nicht. Er antwortete voller Würde, ich sei zu dieser Frage nicht berechtigt, und fragte seinerseits höhnisch, warum ich denn im Amt bliebe. Ich sagte, ich sei nicht von der Regierung Hitler eingesetzt und diente nicht ihr und hoffte sie zu überleben. Frau K. betonte noch, man müsse doch anerkennen, daß der Führer – sie [50]sagte wirklich »der Führer« – eine geniale Persönlichkeit sei, deren ungemeine Wirkung man nicht leugnen und der man sich nicht entziehen könne … Heute möchte ich den K.s beinahe etwas von meiner Heftigkeit abbitten. Ich habe inzwischen von allerhand jüdischen Leuten unseres Kreises ganz ähnliche Meinungen gehört. Von Leuten, die fraglos zur intellektuellen Schicht gerechnet werden müssen, und die fraglos im allgemeinen zu den ruhig und selbständig denkenden Menschen zählen … Irgendeine Umnebelung ist vorhanden, die geradezu auf alle einwirkt.

      10. November, abends. Den Höhepunkt der Werbung habe ich heute mittag an Dembers Radio miterlebt. (Unser jüdischer Physiker, schon entlassen, aber auch schon in Verhandlung um eine türkische Professur.) Diesmal war die Anordnung durch Goebbels, der dann den Ansager der eigenen Regie machte, wirklich ein Meisterstück. Alles auf Arbeit und Frieden für friedliche Arbeit gestellt. Erst das allgemeine Sirenengeheul in ganz Deutschland und die Minute des Stillschweigens in ganz Deutschland – das haben sie natürlich von Amerika gelernt und von den Friedensfeiern am Ende des Weltkriegs. Hierauf aber, vielleicht nicht sehr viel origineller (cf. Italien), doch in absoluter Vollendung durchgeführt, die Rahmung um Hitlers Rede. Maschinenhalle in Siemensstadt. Minutenlang der volle Betriebslärm, das Hämmern, Rasseln, Dröhnen, Pfeifen, Knirschen. Dann die Sirene und das Singen und allmähliche Verstummen der abgestoppten Räder. Dann aus der Stille heraus, ruhig mit Goebbels’ tiefer Stimme der Botenbericht. Und nun erst Hitler, dreiviertel Stunden ER. Zum erstenmal hörte ich eine ganze Rede von ihm, und mein Eindruck war im wesentlichen der gleiche wie vorher. Meist eine übermäßig erregte, überschrieene, oft heisere Stimme. Nur daß diesmal viele Passagen im weinerlichen Ton eines predigenden Sektierers gehalten waren. ER predigt Frieden, ER wirbt für Frieden, ER will das Ja Deutschlands nicht aus persönlichem Ehrgeiz, sondern nur um den Frieden schützen zu können, gegen den Anschlag einer wurzellos internationalen Clique von Geschäftemachern, die um ihres Profites willen skrupellos Millionenvölker aneinander hetzen …

      [51]Das alles, und die gut einstudierten Zwischenrufe (»Die Juden!«) dazu, war mir natürlich längst bekannt. Aber in all seiner Abgedroschenheit, in all seiner dem Taubsten vernehmbar zum Himmel schreienden Verlogenheit bekam es doch eine besondere und neue Wirkungskraft durch einen Zug der vorbereitenden Propaganda, den ich unter ihren gelungenen Einzelheiten für den hervorragendsten und den eigentlich entscheidenden halte. Es hieß in der Voranzeige und Voransage: »Feierstunde von 13.00 bis 14.00 Uhr. In der dreizehnten Stunde kommt Adolf Hitler zu den Arbeitern.« Das ist, jedem verständlich, die Sprache des Evangeliums. Der Herr, der Erlöser kommt zu den Armen und Verlorenen. Raffiniert bis in die Zeitangabe hinein. Dreizehn Uhr – nein, »dreizehnte Stunde« – das klingt nach Zuspät, aber ER wird ein Wunder vollbringen, für ihn gibt es kein Zuspät. Die Blutfahne auf dem Parteitag, das war schon dieselbe Sparte. Aber diesmal ist die Enge der kirchlichen Zeremonie durchbrochen, ist das zeitferne Kostüm abgestreift, ist die Christuslegende in unmittelbare Gegenwart transponiert: Adolf Hitler, der Heiland, kommt zu den Arbeitern nach Siemensstadt.

      14. November. Warum mache ich K. S. und den anderen Vorwürfe? Als gestern der Triumph der Regierung verkündet wurde: 93 % der Stimmen für Hitler, 40 Millionen Ja, 2 Millionen Nein; 39 Millionen für den Reichstag (die famose Einheitsliste), 3 Millionen »ungültig«, da war ich genau so überwältigt wie die anderen auch. Ich konnte mir immer wieder sagen, erstens sei das Resultat erzwungen, und zweitens bei dem Fehlen jeder Kontrolle sicherlich auch frisiert, genau so wie doch ein Gemisch aus Fälschung und Erpressung hinter der Nachricht aus London stecken muß, man bewundere dort besonders, daß sogar in den Konzentrationslagern überwiegend mit Ja gestimmt wurde –, und doch war und


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