Tatort Unterfranken. Tessa Korber
Читать онлайн книгу.einen Fuß vor den anderen. Sie erreicht den Teppich, und ihr rechter großer Zeh tappt in etwas Nasses, Klebriges. Bevor sie innehalten kann, steht sie mit beiden nackten Sohlen mitten in einer schmierigen Masse, die den Teppich durchnässt hat. Elise tastet sich vorwärts in Richtung Fenster und hält ihre Hände ausgebreitet vor sich. Ihr linkes Knie stößt an die hölzerne Kante des Betts und dann auf etwas Weicheres, das sich zur Seite schieben lässt. Sie bückt sich – es ist ein kalter, nackter Arm, und daneben baumelt ein Kopf. Elises Hände kleben jetzt auch. Sie reißt den Vorhang auf. Licht fällt ins Zimmer und auf ihre Hände. Sie sind rot. Du darfst nicht schreien, Elise, sagt sie sich. Sie dreht sich um und schreit.
Sophie liegt mit ausgebreiteten Armen rücklings und nackt auf dem Bett. Ihr Kopf hängt in einem unmöglichen Winkel aus dem Bett. Der Hals knickt wegen eines klaffenden Schnittes, der den Kopf halb abgetrennt hat, nach hinten. Sophie ist tot.
Elise ist wie gelähmt. Von der Decke hängt die Kordel für die Bedienstetenglocke unten im Dienerzimmer. Die Glocke ist für die Hausgäste, nicht für die Angestellten. Aber es hilft nichts. Sie zieht daran, dann sinkt sie neben Sophie zu Boden.
Sie denkt daran, wie Sophie sie getröstet hat, als sie am Anfang nachts Heimweh hatte. Wie ihre Schwester zu ihr ins Bett geschlüpft ist und sie im Arm gehalten hat, bis sie einschlief.
Nun liegt Sophie da, das Gesicht verzerrt, die Augen weit aufgerissen. Dann sieht Elise den Hut hinter Sophies Kopf. Das ist doch der Ausseer Hut, den der groß gewachsene Mann mit dem Zwirbelbart getragen hat. In die Innenseite ist ein Etikett genäht. Elise kann lesen, aber nicht diese Schrift. Sie greift danach, das Etikett löst sich, und sie holt es heraus. Darauf steht: Демидов шля пник Санкт-Петербург.
Dann hört sie Schritte im Korridor. Entschlossene, schnelle. Als sie näher kommen, merkt sie, dass jeder zweite Schritt von einem Quietschen begleitet wird – einer der Schuhe wurde nicht gut genug gewachst. Es kann noch niemand von der Reception sein, der Weg von dort ist zu weit. Sie springt auf, zieht den Vorhang schnell zu, geht zum Schrank, steigt hinein und kauert sich hin. Gerade rechtzeitig, weil in diesem Moment die Tür aufgeht, jemand hereinkommt und die Tür hinter sich schließt. Die Person scheint sich im Zimmer auszukennen: Ihre Schritte knarzen auf den Holzdielen ganz vorsichtig um den Teppich herum und kommen auf den Schrank zu. Eine Hand hält sich am Griff fest.
Ich bin eine ganz kleine, schlafende Maus, die keiner sehen kann, denkt Elise.
Die Schranktür geht einen Spalt auf.
Elise sieht einen dunklen Schatten, der am Schrank in Richtung Bett vorbeigeht. Sie hört, wie der Schatten sich tief schnaufend beugt, sich leise ächzend wieder aufrichtet und auf dem gleichen Weg zurückkommt. Die Schranktür wackelt, geht noch weiter auf, wird zugemacht, irgendein Wollstoff reibt sich daran. Die Zimmertür öffnet sich und wird wieder geschlossen.
Elise merkt, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hat, atmet aus und wieder ein. Dann macht sie die Schranktür vorsichtig auf. Sie geht zum Fenster und zieht den Vorhang zurück.
Der Hut ist weg. Das Etikett hält sie noch in der Hand.
Jetzt sind erneut Schritte im Korridor zu hören, schleppende und von einem immer lauter werdenden Schnaufen begleitet. Es klopft an der Tür. Elise macht auf. Herr Karl, der Portier, mit Zylinder und Frack. Er geht sehr in die Breite, und seine kleine Statur versucht er durch einen mächtigen Bart aufzuwiegen, der wie ein schwarzes Hemdbetrügerle auf seiner Brust liegt. »Was soll die Unverschämtheit!«, zischt er außer Atem, als er Elise sieht. Er, der Hausportier, von einer Bediensteten geholt!
Elise tritt einen Schritt zurück und gibt den Blick auf Sophie frei. »Um Himmelsgotteswillen«, sagt Herr Karl, stürmt ins Zimmer, bleibt aber kurz vor der Leiche abrupt stehen. »Na ja«, sagt er und räuspert sich. »Sie ist wohl tot, deine Schwester.«
»Umgebracht wurde sie!«, ruft Elise. »Das sieht man doch! Wir müssen einen Gendarmen holen! Und der Mörder ist wiedergekommen, als ich im Zimmer war. Ich habe mich im Schrank versteckt, und er hat seinen Hut geholt. Das war gerade vor fünf Minuten. Ich hatte fürchterliche Angst. Sie müssen ihm begegnet sein. Sie müssen dem Mörder im Treppenhaus begegnet sein!«
Der Portier mustert sie. »Ich bin niemandem begegnet. Und du hältst dich mit deinen Mutmaßungen zurück. Das ist Sache der Gendarmerie.«
»Aber das ist doch unmöglich! Sie müssen ihm begegnet sein. Es muss jemand Besseres gewesen sein, dem Hut nach zu urteilen.«
Herr Karl wippt auf seinen Fußballen hoch, um Höhe zu gewinnen. »Was erlaubst du dir! Soll das heißen, dass ich lüge? Du unverschämtes Ding!« Er reibt sich die Nase, Elise schweigt. »Geh auf dein Zimmer und wasch dich«, sagt er. »Ich hole einen Gendarm. Warte dort, bis ich wiederkomme.«
In ihrem Zimmer wäscht sich Elise mit Wasser aus der Schüssel. Dann geht sie auf und ab. Sie setzt sich auf ihr Bett und steht wieder auf. Sie öffnet das kleine Fenster und schaut hinaus. Da kommt Herr Karl die Promenade entlang, von rechts. Die Gendarmerie ist aber auf der linken Seite. Elise zieht ihren Kopf zurück. Bedienstete können ihre Fenster öffnen und hinausschauen, dürfen dabei aber nicht gesehen werden. Sie geht wieder auf und ab. Wie soll sie es ihren Eltern sagen? Was wird aus dem Kind? Endlich hört sie Schritte auf der Treppe, und es klopft an ihrer Tür. Draußen steht ein riesiger Gendarm in grüner Uniform und Pickelhaube, hinter ihm der Portier. Der Gendarm muss sich bücken, um ins Zimmer zu kommen, und der Portier macht es ihm unnötigerweise nach.
»Fräulein Sitzmann?«, sagt der Gendarm.
Elise nickt.
»Es ist für die Aufklärung des Falles von höchster Bedeutung, dass niemand erfährt, was passiert ist.«
»Unterschreibe das«, sagt der Portier und gibt ihr ein handgeschriebenes Blatt und eine Feder. Darauf steht: Ich, Fräulein Elise Sitzmann, gelobe feierlich, daß ich niemandem erzählen werde, was ich im Zimmer 316 am 13. Juno 1864 gesehen habe.
Sie unterschreibt. Der Portier nimmt das Papier an sich, faltet es und legt es in seine Brieftasche. Dann nickt er dem Gendarmen zu.
Dieser räuspert sich. »Der Mörder war höchstwahrscheinlich ein Durchreisender.«
»Ganz bestimmt«, sagt der Portier.
»Gestern ist ein Telegramm aus Würzburg gekommen«, erzählt der Gendarm. Er holt ein Notizbuch aus seiner Tasche und verfolgt das Geschriebene mit seinem dicken Finger. »Hierin wurde von einem ähnlichen Mord berichtet. Dort hat ein Scherer…, Scheren…«
»Scherenschleifer«, sagt der Portier.
»– ein Scherenschleifer ein Mädchen besti…, bestia…«
»Bestialisch.«
»– bestialisch hingerichtet und ist weitergezogen.«
»Einer vom Zigeunervolk«, fügt der Portier hinzu.
Der Gendarm klappt das Notizbuch zu. »Wie man jetzt sieht, ist er offenbar nach Kissingen weitergereist, und das Mädchen ist an ihn geraten.«
»Der Hut gehörte keinem Durchreisenden. Einem Zigeuner schon gleich gar nicht«, sagt Elise.
»Was für ein Hut?«, fragt der Gendarm.
»Er lag neben dem Bett«, antwortet sie. »Es war der Hut eines besseren Herrn. Jemand ist ins Zimmer zurückgekommen und hat ihn geholt. Ich habe mich derweil im Schrank versteckt.«
»Davon weiß ich nichts«, sagt der Gendarm.
»Der Hut tut nichts zur Sache«, meint der Portier. »Es ist wohlbekannt, dass das Fräulein Sophie einen großen Kundenkreis hatte, und der Hut kann wer weiß wie lange da gelegen haben. Nein, der Täter ist eindeutig der Scherenschleifer. Das ist ganz deutlich an den Wunden zu sehen.«
»Jawohl«, sagt der Gendarm. »So ist es. Nur Scherenschleifer haben Messer, die solche Wunden hinterlassen.«
»Er ist wohl auf dem Weg nach Schweinfurt«, sagt der Portier. »Sie haben doch ein Telegramm dorthin geschickt, Herr