Tatort Unterfranken. Tessa Korber
Читать онлайн книгу.bis zu den Ohren hochgezogen hat, damit sie weniger hört.
Ihr Herz schlägt schnell, viel zu schnell. Wenn er nur endlich seine ewige Ruhe finden würde, der Herr Winter. Wenn er sich endlich an einem dieser unsäglichen Schnäpse zu Tode saufen würde.
Sofort bereut sie, was sie gedacht hat, und im gleichen Moment wird sie für ihren Wunsch bestraft. Der Stock trifft die Fensterscheibe schräg hinter ihrem Bett, mehrmals hintereinander, immer an derselben Stelle. Die Scheibe wimmert unter den harten Schlägen, vibriert wie bei heftigem Donner über der Stadt, und Anna erwartet, dass jeden Augenblick das Glas birst und in tausend Stücke zersplittert. Sie setzt sich in ihrem Bett auf, das unter ihrem Gewicht ächzt. Anna ächzt mit, so leise wie möglich. Hoffentlich hat das der Herr Winter jetzt nicht gehört, sonst weiß er, dass sie nur einen Meter von ihm entfernt ist. Die Wände sind dünn und nicht isoliert, da hilft auch die Lage Styroporplatten wenig, die sie zwischen dem Bett und der Wand eingeklemmt hat, um die Kälte zu mildern.
»Freuln Schmiedl …«
Anna hält sich die Hand vor den Mund, sie darf keinen Mucks machen. Und so faltet sie die Hände unter der dicken, schweren Bettdecke, dreht den Kopf nach links in die Ecke, wo ein Kruzifix an der Wand angebracht ist mit einem Heiland daran, der immer auf sie achtgibt, und schickt ein lautloses Stoßgebet zum Himmel.
Heiliger Bruno von Würzburg, lass den Herrn Winter draußen unter dem Fenster sanft einschlafen bis morgen früh. Dann werde ich mich um ihn kümmern und ihn in sein Bett verfrachten, die schrecklichen Narben aus dem Krieg mit der Tinktur aus der Apotheke behandeln und Tee für ihn kochen. Amen.
Sie könnte auch nach draußen gehen und ihm zu Diensten sein, damit er Ruhe gibt, aber das will sie nicht. Es ist mitten in der Nacht, es ist kalt, sie hat die Eingangstür zu ihrer Wohnung in diesem kleinen Haus mit drei zusätzlichen Riegeln gesichert und gleich in der Ecke neben der Tür einen dicken Eichenknüppel bereitgestellt. Sie weiß schon, warum.
Zumindest glaubt sie, alle drei Riegel zugeschoben zu haben, sicher ist sie sich nicht. Das Bett knarrt, obwohl sie sich kaum bewegt hat, und schon ist der Stock wieder da, und in das Klopfen des Stockes hinein wälzt sie sich aus dem Bett, so hört es der Herr Winter vielleicht nicht, weil er mit seinem Stock beschäftigt ist und sich mit der anderen Hand an der Hausmauer abstützt, sonst kann er in seinem Zustand nicht stehen. Sie sieht ihn in Gedanken vor sich, wie er mit den alten, schwarzen Lederstiefeln aus seiner Zeit bei der Armee auf den Pflastersteinen steht, den Uniformmantel offen, weil er die Knöpfe längst verloren hat, bis auf einen, ganz unten, aber der nützt nichts mehr, der hängt auch nur noch an einem langen Faden.
Anna muss aufs Klo, es drückt schon die ganze Zeit über. Die Blase ist voll, obwohl sie zum Abendbrot kaum etwas getrunken hat, das ist so bei ihr, seit über zwanzig Jahren schon. Als das nächste Klopfen einsetzt, lässt sie die Beine vom Rand des Bettes herunterhängen und hofft, dass direkt unter ihr die Pantoffeln stehen. Dann braucht sie nur hineinzuschlüpfen, sie muss sich hinunterfallen lassen ins platt getretene Lammfell, hineinsteigen kann sie nicht, dazu sind ihre Beine zu kurz.
Sie ist ja nur eins sechsundvierzig groß. Das steht so in ihrem Ausweis. Früher war sie mal zwei Zentimeter größer, aber mit den Jahren ist sie geschrumpft. Ein altes, gottesfürchtiges Weib ist sie, sonst nichts.
Als ihre Füße den Boden berühren, knarren die alten Dielen.
Sie hat die Glockenschläge gehört, die von der Stadtkirche am Marktplatz kürzlich durch die Nacht gedrungen sind. Ein tiefer Schlag. Gleich darauf ein hellerer. Also ist es Viertel nach eins. Alles schläft. Alles ist ruhig. Nur der Herr Winter draußen vor ihrem Fenster in der Färbergasse schläft nicht.
»Freuln Schmiedl!«
Anna hält sich am Stuhl fest und tastet sich im Dämmerlicht mit ihren kurzen, alten, krummen Beinen voran; ihre Hände fühlen rechts die Ecke der alten Nähmaschine, die gebeizte Oberfläche der Kommode, dann die Wand; links davon breitet sich ein schwerer Vorhang aus, der das Schlafgemach von der Stube trennt. Eine Tür gibt es nicht.
Die Füße kommen nur langsam voran, erspüren diese kleine Unebenheit unter dem Flickenteppich, wo ein paar lockere Bodenbretter sind, unter denen sie immer einen Rest ihrer Rente aufbewahrt, zur Sicherheit. Unter dem Teppich und den lockeren Brettern würde niemand suchen, das wäre zu viel Aufwand. Nicht einmal der Herr Winter käme auf diese Idee, doch ist sie sich dessen plötzlich nicht mehr sicher. Die lockeren Bodenbretter fallen auf, sie müsste sie anders verlegen, das Geld von der Rente zusätzlich abdecken oder unter die anderen Dielen schieben. Sie muss das erledigen, bald.
Noch drei Meter hat sie vor sich. Fast lautlos gleitet der schwere Vorhang zur Seite, und schon spürt Anna die Restwärme vom Ofen. Sie schließt den Vorhang hinter sich. Durch das Fenster in der Stube dringt ein matter Schein herein. Es ist das Licht des Hinterhofs. Fünf Meter breit und fünf Meter lang ist er. Ein Quadrat, genau ausgemessen. Wer immer diesen Hinterhof gebaut hat, er hat sich etwas gedacht dabei. Nur an die Ratten hat er nicht gedacht, Anna muss selbst schauen, wie sie mit denen zurechtkommt. Deswegen geht sie nachts auch nicht über den Hinterhof aufs Klo, das dort in einer Nebenkammer untergebracht ist, sondern tastet sich zum Stuhl vor, der neben dem Tisch in der Stube steht. Leise legt sie die abgewetzte, gepolsterte Abdeckung zur Seite, sucht mit den Fingern nach der kleinen Ausbuchtung im Metalldeckel, der den Topf abdeckt, greift hinein, hebt den Deckel hoch, legt ihn zur Seite, alles geht gut. Sie rafft das Nachthemd nach oben und hockt sich auf den Topf und während sie ihr Geschäft verrichtet, klopft er schon wieder ans Fenster.
»Freuln Schmiedl!«
Es ist ein Befehl. Die Stimme klingt wie aus dem Hof einer Kaserne, die lallende Zunge hört man trotzdem durch. Der Oberleutnant Winter hat gesprochen, und sie hat zu gehorchen. Egal, wo sie ist. Egal, was sie gerade tut. Und obwohl der Befehl nur gedämpft bis zu ihr vordringt, weiß sie, was sie zu tun hat.
Beten oder flüchten.
Der Herr Winter ist auch nur ein Mensch, ein armer, verlassener, verwundeter Mensch, der es einmal gut mit ihr gemeint hat, als er ihr diese Wohnung verschaffte. Er nannte es tatsächlich »Wohnung«. Dabei ist es nur eine Behausung. Die Decken sind niedrig und krumm, die Wände schief, und wenn sie einen Nagel einschlagen will, um ein Bild ihrer Tochter oder der Enkelkinder aufzuhängen, quillt das Stroh unter dem dünnen, abblätternden Putz hervor. Es ist eine Unterkunft für Leute wie sie, die nur die niedrigste Rente bekommen, mit Aufstockungsbetrag und Kinderzulage und anderen Zuschlägen; sie ist froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.
Der Herr Winter hat sie herausgeholt aus dem noch viel schlechteren Loch in der Fuchsgasse, wo sie sich die ausgetretenen Stiegen zwei Stockwerke hochschleppen musste, nur ein einziges Zimmer hatte und sich das Klo im Treppenhaus mit anderen Leuten teilen musste. Da sind ihr die vier Stufen vor dem Eingang und die zwei Zimmer und der vorhandene Ofen und der Gang und der Hinterhof und das Extraklo im Anbau wie Luxus erschienen. Von der Stadt Haßfurt bekommt sie sogar einen Mietzuschuss für Härtefälle, vier Mark und dreißig Pfennig. Das ist nicht viel, aber besser als nichts, und wenn sie das in Mehl und Zucker und Kaffee umrechnet, ist das ganz schön viel Geld.
Der Herr Winter hat sie aus einem Dutzend Bewerber ausgesucht, ausgerechnet sie, die damals schon weit über siebzig war. Er hat die Leute angeschaut, alle einzeln, wie sie auf der Straße vor dem Haus standen, seinen Blick auf ihr verweilen lassen, ganz intensiv, sie von Kopf bis Fuß gemustert, und dann mit dem Holzstecken auf sie gedeutet. Anna konnte ihr Glück kaum fassen. Sie musste dem Herrn Winter für sein Entgegenkommen den Rücken eincremen, fast täglich, als würde er wissen, dass sie einmal in einer Apotheke gearbeitet hatte und sich ein wenig auskannte mit Wunden und anderen Dingen. Vom Krieg hat Herr Winter eine Wunde mit nach Hause gebracht, so was hat auch sie noch nie gesehen, rötlich eingefärbt in der Mitte, wie ein Trichter, in den etwas hineingeschüttet werden konnte. Aber in den Trichter auf diesem Rücken konnte nichts hineingeschüttet werden. Da kam ständig etwas heraus. Immer wieder. Es war eine Erinnerung an Russland. An Leningrad. An die Schützengräben. Er hat ihr Geschichten erzählt und eine Schnapsflasche in der Hand gehalten, um den Schmerz besser ertragen zu können, während sie eine Tinktur aus der Apotheke um diesen Trichter herum verteilte; dabei wollte sie seine Geschichten von den langen,