Tief eingeschneit. Louise Penny
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Tief eingeschneit
Der zweite Fall für Gamache
Roman
Aus dem kanadischen Englisch von Gabriele Werbeck und Andrea Stumpf
Kampa
1
Wenn CC de Poitiers gewusst hätte, dass sie ermordet werden würde, hätte sie ihrem Ehemann Richard möglicherweise ein Weihnachtsgeschenk gekauft. Sie wäre vielleicht sogar noch zum Krippenspiel in Miss Edwards Mädchenschule, der Madenschule, wie CC ihre unförmige Tochter gerne aufzog, gegangen, in dem diese mitwirkte. Hätte CC de Poitiers gewusst, dass ihr Ende nahte, hätte sie vielleicht gearbeitet, statt sich in dem billigsten Zimmer, das das Ritz in Montréal im Angebot hatte, einzumieten. Aber das einzige Ende, von dessen Herannahen sie wusste, blühte einem Mann namens Saul.
»Und, wie findest du es? Gefällt es dir?« Sie balancierte das Buch auf ihrem bleichen Bauch.
Saul betrachtete es nicht zum ersten Mal. Die letzten Tage hatte sie es alle fünf Minuten aus ihrer riesigen Handtasche gezogen. Während irgendwelcher Geschäftstreffen, Essenseinladungen oder Taxifahrten durch die verschneiten Straßen von Montréal beugte sich CC unvermittelt nach unten und tauchte triumphierend mit ihrem Werk in der Hand wieder auf, als sei es das Produkt einer neuerlichen Jungfrauengeburt.
»Mir gefällt das Bild«, sagte er und war sich seiner Unverschämtheit durchaus bewusst. Er hatte das Bild selbst aufgenommen. Er wusste, dass sie mehr hören wollte, förmlich darum bettelte, und er wusste, dass er keine Lust dazu hatte. Er fragte sich, wie viel Zeit er noch mit CC de Poitiers verbringen konnte, ohne so zu werden wie sie. Nicht körperlich, natürlich. Mit ihren achtundvierzig war sie ein paar Jahre jünger als er. Sie war schlank, drahtig, durchtrainiert, ihre Zähne strahlten viel zu weiß, und ihre Haare waren viel zu blond. Wenn man sie anfasste, hatte man das Gefühl, eine Eisschicht zu berühren. Das fühlte sich schön und zerbrechlich an, was er attraktiv fand. Aber es war auch gefährlich. Wenn diese Eisschicht jemals brechen, in Stücke gehen sollte, würde er mit zerbrechen.
Ihr Äußeres war nicht das Problem. Während er sie dabei beobachtete, wie sie ihr Buch mit größerer Zärtlichkeit streichelte, als sie ihm gegenüber jemals gezeigt hatte, fragte er sich, ob das Eiswasser in ihren Eingeweiden auf irgendeinem Wege in ihn eingedrungen war, vielleicht beim Sex, und ihn langsam gefrieren ließ. Er konnte sein Innerstes schon nicht mehr spüren.
Mit seinen zweiundfünfzig Jahren stellte Saul Petrov langsam fest, dass seine Freunde nicht mehr ganz so brillant, nicht mehr ganz so clever, nicht mehr ganz so schlank waren wie früher. Die meisten langweilten ihn mittlerweile sogar. Auch bei ihnen hatte er schon das eine oder andere verräterische Gähnen bemerkt. Sie wurden dick, glatzköpfig und träge, und er befürchtete, dass es bei ihm nicht anders war. Das Schlimme daran war nicht einmal, dass die Frauen ihn kaum mehr ansahen oder dass er überlegte, ob er seine Alpinski gegen Langlaufski tauschen sollte, auch nicht dass sein Hausarzt ihn zu einer ersten Prostata-Untersuchung einbestellt hatte. Das konnte er alles hinnehmen. Was Saul Petrov um zwei Uhr morgens weckte und ihm mit derselben Stimme ins Ohr flüsterte, die ihn als Kind gewarnt hatte, unter seinem Bett würden Löwen hausen, war die Gewissheit, dass die Leute ihn mittlerweile langweilig fanden. Bei solchen Gelegenheiten holte er ganz tief Luft und versuchte, sich mit der Mutmaßung zu beruhigen, das unterdrückte Gähnen seines Tischnachbarn habe mit dem Wein, dem magret de canard oder dem überheizten Restaurant zu tun, zumal sie alle in dicken Winterpullovern steckten.
Aber die nächtliche Stimme suchte ihn weiter heim und warnte ihn vor bevorstehenden Gefahren: vor einer drohenden Katastrophe; davor, dass er beim Erzählen zu weit ausholte, dass die Aufmerksamkeitsspanne zu kurz war, dass zu viele Augenlider zu schwer wurden; vor schnellen und verstohlenen Blicken auf Armbanduhren, der impliziten Überlegung, wann man endlich gehen konnte; vor Augen, die im Raum herumwanderten, verzweifelt Ausschau nach anregenderer Gesellschaft hielten.
So kam es, dass er sich von CC verführen ließ. Verführen und verschlingen, sodass der Löwe unter seinem Bett zum Löwen in seinem Bett wurde. Er vermutete inzwischen, dass diese egozentrische Frau genug davon hatte, nur um sich selbst, um ihren Ehemann und selbst diese Katastrophe von Tochter zu kreisen, und deshalb nun ihn umkreiste, um sich ihn einzuverleiben.
Er hatte durch ihre Gesellschaft schon ihre Grausamkeit angenommen. Er hatte sogar angefangen, sich zu verachten. Allerdings noch lange nicht so sehr, wie er sie verachtete.
»Es ist ein wunderbares Buch«, sagte sie, ohne ihm Beachtung zu schenken. »Stimmt das etwa nicht? Wer wollte das nicht haben?« Sie fuchtelte mit dem Buch vor seinem Gesicht herum. »Die Leute werden sich darauf stürzen. So viele Menschen da draußen sind hilfsbedürftig.« Sie drehte sich um und sah zum Fenster ihres Hotelzimmers hinaus auf das Gebäude gegenüber, als überschaute sie eine ihretwegen versammelte Menschenmenge. »Ich habe es für sie gemacht.« Jetzt wandte sie sich mit großen, ernsten Augen zu ihm um.
Glaubte sie das wirklich?, fragte er sich.
Er hatte das Buch natürlich gelesen. Be Calm – Ruhe finden hatte sie es genannt, nach dem Unternehmen, das sie vor ein paar Jahren gegründet hatte, was zum Lachen war, wenn man sah, was für ein Nervenbündel sie war. Die unruhigen, nervösen Hände, die ständig etwas glatt strichen und gerade rückten. Ihre schnippische Art, die Ungeduld, die schnell in Ärger umschlug.
Trotz ihres gelassenen, unterkühlten Auftretens würde man CC de Poitiers ganz sicher nicht mit dem Begriff Ruhe beschreiben.
Sie war mit ihrem Buch bei allen möglichen Verlagen Klinken putzen gegangen, angefangen bei den renommierten Verlagshäusern in New York bis hin zu Publications Réjan et Maison des cartes, einem Kleinstverlag in dem Dörfchen St. Polycarpe an der Schnellstraße zwischen Montréal und Toronto, in dem sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten.
Alle hatten abgelehnt, da sie sofort gemerkt hatten, dass das Manuskript eine fade Mischung aus albernen Selbsthilferezepten war, in unausgegorene buddhistische und hinduistische Lehren verpackt und abgesondert von einer Frau, die auf dem Umschlagfoto so aussah, als würde sie ihre eigenen Jungen auffressen.
»Kein Schwein will Erleuchtung«, hatte sie zu Saul in ihrem Büro in Montréal gesagt, als ein ganzer Schwung Absagen eingetroffen war, dabei hatte sie die Briefe in Fetzen gerissen und auf den Boden fallen lassen, damit die Putzfrau sie einsammelte. »Mit dieser Welt liegt es im Argen, das sage ich dir. Die Leute sind brutal und unsensibel, das Einzige, wonach ihnen der Sinn steht, ist, sich gegenseitig aufs Kreuz zu legen. Es gibt keine Liebe und kein Mitgefühl. Das«, sie holte mit ihrem Buch weit aus, als sei es ein alter mythischer Hammer, mit dem sie auf den Amboss der Rache schlagen wollte, »wird den Leuten beibringen, ihr Glück zu finden.«
Ihre Stimme war leise, die Worte erzitterten unter dem Gewicht ihrer Gehässigkeit. Sie hatte ihr Buch schließlich im Selbstverlag herausgebracht, damit es rechtzeitig vor Weihnachten auf den Markt kam. Dass es in dem Buch ständig um Licht ging und es exakt zur Wintersonnenwende auf den Markt gekommen war, hielt Saul für reinste Ironie. Am dunkelsten Tag des Jahres.
»Wie heißt der Verlag noch mal, bei dem es herausgekommen ist?« Er konnte sich einfach nicht zurückhalten. Sie schwieg. »Ach ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte er. »Es wollte keiner. Das muss schrecklich gewesen sein.« Er zögerte einen Moment und überlegte, ob er noch mehr Salz in die Wunde streuen sollte. Ach, warum nicht, es war sowieso schon egal. »Ich frage mich, wie du dich da gefühlt hast?« Bildete er sich nur ein, dass sie zusammenzuckte?
Aber sie schwieg weiter, sehr beredt, und ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Was CC nicht mochte, existierte nicht. Dazu zählten auch ihr Ehemann und ihre Tochter. Dazu zählten alle Unannehmlichkeiten, jede Kritik, jedes harte Wort, das nicht von ihr selbst kam, alle Gefühle. CC lebte, soweit Saul wusste, in ihrer eigenen Welt, in der sie vollkommen war, in der sie ihre Gefühle und ihr Versagen verbergen konnte.
Er fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis diese Welt mit einem Riesenknall in die Luft flog. Er hoffte, dass er dabei war, wenn das passierte. Nur nicht zu nah.
Die Leute sind brutal und unsensibel, hatte sie gesagt. Brutal und unsensibel. Es war gar nicht so lange her, dass er die Welt für schön gehalten hatte, damals hatte er sich bereit