Tief eingeschneit. Louise Penny

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Tief eingeschneit - Louise Penny


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zögerte, dann klappte er die Mappe zu und warf sie in den Papierkorb, er verachtete sich dafür, dass er sich an der Vernichtung dieser wunderbaren Bilder beteiligte, noch mehr aber verachtete er sich dafür, dass er das sogar wollte.

      »Hast du heute Nachmittag nichts vor?«, fragte er.

      Sie rückte das Glas und die Lampe auf dem Nachttischchen zurecht, bewegte beide einen Millimeter, bis sie genau da standen, wo sie sollten.

      »Nichts Wichtiges«, sagte sie und wischte eine riesige Staubflocke vom Tisch. Also wirklich, so was im Ritz. Sie musste mit dem Manager reden. Sie sah zu Saul, der am Fenster stand.

      »Du lässt dich ganz schön gehen.«

      Er hatte einmal eine gute Figur, dachte sie. Aber jetzt war er wabbelig. CC war schon mit fetten Männern im Bett gewesen. Sie war mit richtiggehenden Hänflingen im Bett gewesen. Sie konnte beiden Extremen etwas abgewinnen. Es war das Zwischenstadium, das absolut abstoßend war.

      Sie ekelte sich vor Saul und konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie überhaupt auf die Idee gekommen war, dass diese Geschichte etwas taugte. Dann sah sie auf den glänzenden weißen Umschlag ihres Buchs, und es fiel ihr wieder ein.

      Das Foto. Saul war ein phantastischer Fotograf. Über dem Titel Be Calm war ihr Gesicht zu sehen. Die Haare so blond, dass sie beinahe weiß erschienen, der Mund rot und verführerisch, die Augen von einem hinreißenden, klugen Blau. Und ihr Gesicht so bleich, dass es sich vor dem hellen Hintergrund fast auflöste und der Eindruck erzeugt wurde, dass ihre Augen, ihr Mund und ihre Ohren über dem Umschlag schwebten.

      CC war hingerissen von dem Bild.

      Nach Weihnachten würde sie Saul in die Wüste schicken. Wenn er den letzten Auftrag ausgeführt hatte. Sie bemerkte, dass er gegen den Schreibtischstuhl gestoßen sein musste, als er die Mappe entdeckt hatte. Er stand schief. Sie spürte, wie die Spannung in ihr wuchs. Was fiel ihm eigentlich ein, sie absichtlich so zu ärgern, und das wegen dieser dummen Mappe. CC sprang aus dem Bett, rückte das böse Ding gerade und nutzte die Gelegenheit, das Telefon parallel zur Tischkante auszurichten.

      Dann schlüpfte sie ins Bett zurück und strich das Laken über ihrem Schoß glatt. Vielleicht sollte sie ein Taxi ins Büro nehmen. Aber dann erinnerte sie sich, dass sie noch etwas vorhatte. Etwas Wichtiges.

      Ogilvy’s hatte Schlussverkauf, und in einem Laden mit Kunsthandwerk auf der Rue de la Montagne hatte sie ein Paar Eskimostiefel gesehen, das sie haben wollte.

      In nicht allzu ferner Zeit hätte sie ihre eigene Kleider- und Möbelkollektion, die in Geschäften in ganz Québec verkauft würde. Auf der ganzen Welt. Bald würden all die arroganten Chichi-Designer, die sich über sie lustig gemacht hatten, zu Kreuze kriechen. Bald würden alle Li Bien kennen, ihre eigene Design- und Lebensphilosophie. Feng-Shui war passé. Die Leute sehnten sich nach etwas Neuem, bei ihr bekamen sie es. Li Bien wäre in aller Munde und in jedem Haus.

      »Hast du schon ein Haus für die Feiertage gemietet?«, fragte sie.

      »Nein, ich fahre morgen hin. Warum hast du eigentlich in dieser Einöde ein Haus gekauft?«

      »Ich hatte meine Gründe.« Sie spürte Wut in sich aufsteigen, weil er ihre Entscheidungen infrage stellte.

      Es hatte fünf Jahre gedauert, bis sie ein Haus in Three Pines kaufen konnte. Wenn nötig, konnte CC de Poitiers geduldig sein, allerdings musste es auch einen guten Grund geben.

      Sie hatte das lausige Dorf des Öfteren besucht, Kontakte zu Immobilienmaklern aus der Umgebung geknüpft und sogar mit Verkäufern in den Läden der nahe gelegenen Ortschaften St. Rémy und Williamsburg gesprochen. Es hatte Jahre gedauert. Offensichtlich kamen Häuser in Three Pines nicht allzu oft auf den Markt.

      Vor nicht ganz einem Jahr hatte sie einen Anruf von einer Immobilienmaklerin namens Yolande Fontaine erhalten. Es gebe ein Haus. Ein echtes Schmuckstück, viktorianischer Stil, das auf dem Hügel stand, der sich über dem Dorf erhob. Das Haus des Mühlenbesitzers. Das Haus dessen, der das Sagen hatte.

      »Wie viel?«, hatte CC gefragt, überzeugt, dass es ihre Mittel überstieg. Sie müsste ihre Firma beleihen, alles belasten, was sie besaß, und ihren Mann dazu bringen, seine Versicherungspolice und seine Altersvorsorge zu versilbern.

      Die Antwort der Immobilienmaklerin hatte sie überrascht. Der Preis lag weit unter Marktwert.

      »Da ist nur eine Kleinigkeit«, hatte Yolande mit ihrer unangenehmen Stimme erklärt.

      »Nur heraus damit.«

      »Es gab da einen Mord. Und einen Mordversuch.«

      »Ist das alles?«

      »Na ja, theoretisch fand auch noch eine Entführung statt. Jedenfalls ist das Haus deshalb so günstig. Ein echtes Schnäppchen. Wunderbare Rohre, fast alles Kupfer. Das Dach wurde erst vor zwanzig Jahren neu gedeckt. Das …«

      »Ich nehme es.«

      »Möchten Sie es sich nicht erst ansehen?« Yolande hätte sich ohrfeigen können, kaum hatte sie die Frage gestellt. Wenn diese dumme Kuh das alte Hadley-Haus unbesehen kaufen wollte, ohne Besichtigung, ohne Exorzismus, dann sollte sie doch.

      »Bereiten Sie schon mal den Vertrag vor. Ich komme heute Nachmittag mit einem Scheck vorbei.«

      Und das hatte sie getan. Sie hatte ihren Mann eine Woche später davon in Kenntnis gesetzt, weil sie seine Unterschrift brauchte, um sich seine Altersvorsorge vorzeitig auszahlen zu lassen. Er hatte protestiert, aber so zaghaft, dass ein Unbeteiligter es nicht einmal als Protest erkannt hätte.

      Das alte Hadley-Haus, der monströse Kasten auf dem Hügel, gehörte ihr. Ihr Glück war vollkommen. Es war perfekt. Three Pines war perfekt. Zumindest wäre es das, wenn sie erst einmal damit fertig war.

      Saul schnaubte und wandte sich ab. Er wusste, was die Stunde geschlagen hatte. CC würden ihn fallen lassen, sobald sein nächster Auftrag in diesem gottverlassenen Nest abgeschlossen war. Er sollte für ihren ersten Katalog Fotos von ihr machen, wie sie an Weihnachten unter den Ureinwohnern herumtollte. Wenn möglich sollte er Aufnahmen von den Dörflern machen, wie sie CC voller Staunen und Bewunderung ansahen. Dafür müsste er sicher einige Scheinchen hinblättern.

      Alles, was CC tat, hatte einen Zweck, und der ließ sich seiner Meinung nach auf zwei Dinge reduzieren: Entweder nutzte es ihrem Konto oder ihrem Ego.

      Warum hatte sie ein Haus in einem Dorf gekauft, von dem noch nie jemand gehört hatte? Es ging nicht um Prestige. Deshalb musste es das andere sein.

      Geld.

      CC wusste etwas von dem Dorf, das niemand sonst wusste, und das hatte mit Geld zu tun.

      Auf einmal erschien ihm Three Pines doch ganz interessant.

      »Crie! Beweg dich, um Gottes willen.«

      Das konnte man durchaus wörtlich verstehen. Der zierliche, verhätschelte Nachwuchs eines Treuhandvermögens und eines Schönheitswettbewerbs rang darum, hinter der Schneeverwehung, die Crie darstellte, gesehen zu werden. Sie hatte es auf die Bühne geschafft und tanzte und wirbelte mit den anderen, engelsgleichen Schneeflocken herum, bis sie plötzlich abrupt innehielt. Es störte offenbar niemanden, dass es in Jerusalem eigentlich keinen Schnee gab. Die Lehrerin nahm völlig zu Recht an, dass jemand, der an die Jungfrauengeburt glaubte, auch glauben konnte, dass in dieser wundersamen Nacht Schnee gefallen war. Was dagegen störte, war, dass eine der Flocken, eine Art Mikroklima für sich, mitten auf der Bühne zu Eis erstarrt war. Direkt vor dem Jesuskind.

      »Beweg endlich deinen dicken Hintern!«

      Wie all die anderen Beleidigungen glitt auch diese an Crie ab. Sie bildeten das Hintergrundrauschen ihres Lebens. Crie nahm sie kaum noch wahr. Jetzt stand sie stocksteif auf der Bühne und starrte ins Publikum, als hätte sie der Blitz getroffen.

      »Brie hat Lampenfieber«, flüsterte Madame Bruneau, die den Theaterkurs leitete, der Musiklehrerin, Madame Latour, zu, als erwartete sie, dass diese etwas dagegen unternahm. Selbst die Lehrer nannten Crie hinter ihrem


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