Tief eingeschneit. Louise Penny

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Tief eingeschneit - Louise Penny


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ging dennoch weiter, ihre Füße waren inzwischen eiskalt. Sie hatte das Haus ohne richtige Winterstiefel verlassen, und als ihr Vater eine vorsichtige Andeutung gemacht hatte, ob sie nicht etwas Wärmeres anziehen wollte, hatte sie ihn einfach nicht beachtet.

      So wie ihn ihre Mutter einfach nicht beachtete. Wie ihn die Welt nicht beachtete.

      Vor Monde de la musique blieb sie unvermittelt stehen. Da hing ein Poster von Britney Spears, auf dem sie über einen heißen, exotischen Strand tanzte, fröhliche Backgroundsängerinnen wirbelten glücklich lachend um sie herum.

      Crie stand lange vor dem Schaufenster, sie spürte weder Füße noch Hände. Sie spürte überhaupt nichts mehr.

      »Wie bitte?«, sagte Clara.

      »Scheiß auf den Papst«, wiederholte Kaye klar und deutlich. Mother Bea tat so, als habe sie es nicht gehört, und Emilie trat ein wenig näher an ihre Freundin heran, so als wolle sie sich bereithalten, falls Kaye zusammenbrechen sollte.

      »Ich bin zweiundneunzig, und ich weiß alles«, sagte Kaye. »Bis auf eines.«

      Erneut sagte keiner etwas. Aber an die Stelle des peinlichen Schweigens war Neugier getreten. Kaye, die normalerweise wortkarg und kurz angebunden war, hatte ihre Stimme erhoben. Die Freunde scharten sich um sie.

      »Mein Vater gehörte im Ersten Weltkrieg dem Expeditionskorps an.« Was für eine Geschichte sie auch immer erwartet hatten, sicher nicht etwas dieser Art. Sie sprach leise, das Gesicht entspannt, ihr Blick wanderte umher, bis er auf den Büchern in einem der Regale zu ruhen kam. Kaye reiste durch die Zeit, etwas, das Mother Bea ihrer eigenen Aussage nach während des yogischen Fliegens machte, aber zu dieser Meisterschaft hatte sie es nie gebracht.

      »Sie hatten eine Einheit gebildet, die sich nur aus Katholiken zusammensetzte, die meisten irischer Abstammung wie Daddy und natürlich Québecer. Er hat nie über den Krieg gesprochen. Keiner hat das getan. Und ich habe nie gefragt. Stellt euch das mal vor. Vielleicht wollte er ja, dass ich ihn frage?« Kaye sah zu Em, die schwieg. »Nur eines hat er uns vom Krieg erzählt.« Jetzt hielt sie inne. Sie sah sich um, ihr Blick fiel auf ihre flauschige Strickmütze. Sie nahm sie und setzte sie auf, dann sah sie erwartungsvoll zu Em. Alle hielten die Luft an.

      »Um Himmels willen, Weib, nun rück schon raus damit«, knurrte Ruth.

      »Ach ja.« Kaye schien sich erst jetzt ihrer selbst bewusst zu werden. »Daddy. An der Somme. Geführt von General Rawlinson. Ein unglaublicher Dummkopf. So viel habe ich nachgelesen. Mein Vater steckte bis zum Hals im Matsch und in der Scheiße, Pferde- und Menschenscheiße. Das Essen war von Maden befallen. Seine Haut verfaulte ihm am lebendigen Leib. Haare und Zähne fielen ihm aus. Sie hatten schon lange aufgehört, für den König und das Vaterland zu kämpfen, sie kämpften nur noch füreinander. Er liebte seine Freunde.«

      Kaye blickte zu Em, dann zu Mother.

      »Die Jungs nahmen Aufstellung und pflanzten auf den Befehl hin ihre Bajonette auf.«

      Alle beugten sich noch weiter vor.

      »Der letzte Trupp war eine Minute vorher losgestürmt, sie waren allesamt niedergemäht worden. Sie konnten die Schreie hören und die sich windenden zerfetzten Körper sehen, die in den Schützengraben gestürzt waren. Jetzt waren sie an der Reihe, mein Vater und seine Freunde. Sie warteten auf den Befehl. Er wusste, dass er sterben würde. Er wusste, dass er nur noch ein paar Minuten zu leben hätte. Er wusste, dass er nur noch ein paar Worte sagen konnte. Und wisst ihr, was die Jungs riefen, als sie losstürmten?«

      Die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen, und wartete gespannt.

      »Sie bekreuzigten sich und riefen: ›Scheiß auf den Papst.‹«

      Die Freunde zuckten alle gleichzeitig zusammen, als hätten die Worte, das Bild sie getroffen. Kaye wandte sich zu Clara und sah sie aus ihren wässrigen blauen Augen prüfend an. »Warum?«

      Clara fragte sich, wie Kaye auf die Idee kam, dass sie das wusste. Sie wusste es nicht. Sie war klug genug, nichts zu sagen. Kaye ließ ihren Kopf sinken, als wäre er plötzlich zu schwer, ihr schmaler Nacken bildete eine tiefe Furche in ihrem Schädel.

      »Wir sollten gehen, meine Liebe. Du musst müde sein.« Em legte ihre schmale Hand auf Kayes Arm, und Mother Bea nahm den anderen, die drei alten Frauen gingen langsam aus der Buchhandlung. Heim nach Three Pines.

      »Das gilt auch für uns. Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?«, fragte Myrna Ruth.

      »Nein, ich bleibe bis zum bitteren Ende hier. Ihr Ratten müsst kein schlechtes Gewissen haben. Lasst mich einfach zurück.«

      »Die heilige Ruth unter den Heiden«, sagte Gabri.

      »Unsere Königin unter den Dichterfürsten«, sagte Olivier. »Wir bleiben bei dir.«

      »Da war mal ’ne Frau namens Ruth«, sagte Gabri.

      »Die verlor niemals den Mut«, sagte Olivier.

      »Komm, lass uns gehen.« Myrna zog Clara weg, auch wenn Clara gerne gewusst hätte, welchen Reim auf Mut sie gefunden hätten. Skorbut? Mahut? Nein, ein richtiges Wort wäre besser. Dichten war schwerer, als es aussah.

      »Ich muss nur noch eine Kleinigkeit erledigen«, sagte Clara. »Es dauert bloß eine Minute.«

      »Dann hole ich das Auto, wir treffen uns draußen.« Myrna eilte davon. Clara ging in die kleine Brasserie von Ogilvy’s und kaufte ein Sandwich und ein paar Weihnachtsplätzchen. Dann nahm sie noch einen großen Kaffee mit und machte sich auf den Weg zur Rolltreppe.

      Sie hatte Schuldgefühle wegen des Obdachlosen, über den sie hinweggestiegen war, als sie in das Kaufhaus gegangen war. Sie hegte insgeheim den Verdacht, wenn Gott jemals auf die Erde kommen sollte, dann in Gestalt eines Bettlers. Und wenn er das nun gewesen war? Oder sie? Egal. Wenn es Gott war, hatte Clara das tiefe, fast spirituelle Gefühl, dass sie es verdorben hatte. Als sich Clara zu den vielen Leuten auf der Rolltreppe gesellte, entdeckte sie ein bekanntes Gesicht, das ihr entgegenkam. CC de Poitiers. CC hatte sie auch gesehen, davon war sie überzeugt.

      CC de Poitiers umklammerte den Handlauf der Rolltreppe und starrte die Frau an, die gerade im Untergeschoss die Rolltreppe betrat. Clara Morrow. Diese blasierte, ewig lächelnde, selbstgerechte Dorfschnepfe. Die stets von ihren Freunden umringt war, immer in Begleitung dieses gutaussehenden Ehemanns, mit dem sie angab, als wäre es mehr als eine Grille der Natur, dass sie sich einen der Montréaler Morrows geschnappt hatte. CC spürte, wie Wut in ihr aufstieg, als Clara sich mit großen, glücklich strahlenden Augen näherte.

      CCs Griff verstärkte sich, sie konnte sich gerade noch davon abhalten, sich über die glatte Metallwand hinweg auf Clara zu stürzen. Sie ballte ihre ganze Wut zusammen und machte ein Geschoss daraus; wäre ihre Brust eine Kanone gewesen, dann hätte sie wie Ahab ihr Herz als Kanonenkugel auf Clara abgefeuert.

      Stattdessen tat sie das Nächstbeste.

      Sie drehte sich zu dem Mann neben ihr und sagte: »Schade, dass du Claras Arbeiten für die banalen Werke einer Amateurin hältst, Denis. Du glaubst also, dass sie nur ihre Zeit verschwendet?«

      Als Clara an ihr vorbeifuhr, hatte CC die Befriedigung, ihr selbstgefälliges, arrogantes, hässliches kleines Gesicht in sich zusammenfallen zu sehen. Volltreffer. CC bedachte den verdutzten Fremden neben ihr mit einem Lächeln, es war ihr völlig egal, ob er sie für nicht mehr ganz dicht hielt.

      Wie im Traum verließ Clara die Rolltreppe. Der Boden schien sehr weit unten zu sein, die Wände wichen zurück. Atme. Atme, befahl sie sich, von der Angst befallen, dass sie tatsächlich sterben könnte. Von Worten getötet. Von CC getötet. Ganz beiläufig, grausam. Sie hatte in dem Mann neben CC Fortin nicht erkannt, aber sie kannte ihn ja auch nur von Fotos.

      Die banalen Werke einer Amateurin.

      Dann setzten der Schmerz und die Tränen ein, und sie stand mitten im Ogilvy’s, seit ihrer Kindheit ein Ort der Sehnsucht für sie, und weinte. Schluchzend ließ sie ihre kostbaren Geschenke auf den Marmorboden sinken, sie legte das Sandwich, die Plätzchen


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