Tief eingeschneit. Louise Penny
Читать онлайн книгу.Bündel Schmerzen.
Die banalen Werke einer Amateurin. All ihre Zweifel, ihre Ängste waren begründet. Die Stimme, die ihr nachts ins Ohr flüsterte, während Peter schlief, hatte nicht gelogen.
Ihre Arbeiten waren Mist.
Einkäufer strömten um sie herum, keiner kam ihr zu Hilfe. So wie sie dem Obdachlosen draußen nicht geholfen hatte, wurde Clara auf einmal klar. Langsam sammelte sie ihre Pakete ein, erhob sich und schleppte sich durch die Drehtür.
Es war dunkel und kalt, der Wind und der Schneefall hatten zugenommen und trafen sie völlig unvorbereitet. Clara blieb stehen, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten.
Da, unter dem Schaufenster, auf dem Boden zusammengekauert, saß der Bettler.
Sie trat näher, sah, dass das Erbrochene nicht mehr dampfte, sondern schon gefroren war. Als Clara näher kam, sah sie, dass es eine alte Frau war. Sie konnte ein paar dünne Strähnen stahlgrauer Haare sehen, magere Arme hielten die verdreckte Decke über den Knien fest. Clara beugte sich nach unten und nahm einen kurzen Moment den Gestank wahr. Es reichte, dass sie würgen musste. Instinktiv wich sie zurück, dann beugte sie sich wieder vor. Sie stellte die schweren Tüten auf den Boden, dann legte sie das Essen neben die Frau.
»Ich habe Ihnen etwas zu essen gebracht«, sagte sie zuerst auf Englisch, dann auf Französisch. Sie schob die Tüte mit dem Sandwich näher heran und hielt den Kaffee in die Höhe, in der Hoffnung, die Pennerin würde ihn sehen.
Sie rührte sich nicht. Clara fing an, sich Sorgen zu machen. Lebte sie überhaupt noch? Clara streckte ihre Hand aus und hob das verschmierte Kinn in die Höhe.
»Geht es Ihnen gut?«
Ein Handschuh schoss hervor, schwarz, schmutzstarr, und schloss sich um Claras Handgelenk. Der Kopf hob sich. Müde, wässrige Augen sahen Clara an und hielten ihren Blick fest.
»Ich habe deine Bilder immer sehr gemocht, Clara.«
5
»Das ist wirklich erstaunlich.« Myrna wollte nicht so klingen, als bezweifelte sie, was ihre Freundin sagte, daher war »erstaunlich« noch milde ausgedrückt. Es war unglaublich. Trotz des heißen Tees und des Feuers im Kamin bekam sie eine Gänsehaut auf den Unterarmen.
Sie waren schweigend von Montréal nach Hause gefahren und hatten sich das Weihnachtskonzert von CBC im Radio angehört. Am nächsten Morgen stand Clara aufgeregt und strahlend in aller Herrgottsfrüh in ihrer Buchhandlung.
»Stimmt«, sagte Clara, nippte an ihrem Tee, nahm noch einen sternförmigen Butterkeks und fragte sich, wann sie guten Gewissens anfangen konnte, sich aus den Schüsselchen mit Lakritze und kandiertem Ingwer, die Myrna im ganzen Laden verteilt hatte, zu bedienen.
»Sie hat wirklich gesagt: ›Ich habe deine Bilder immer sehr gemocht, Clara.‹?«
Clara nickte.
»Und das war gleich nachdem CC gesagt hat, deine Sachen wären – na ja, egal.«
»Nicht nur CC, sondern auch Fortin. Die banalen Werke einer Amateurin, hat er gesagt. Sei’s drum. Gott findet sie gut.«
»Und mit Gott meinst du die verdreckte Pennerin?«
»Genau.«
Myrna beugte ihren massigen Körper im Schaukelstuhl vor. Um sie herum waren wie üblich Bücher aufgestapelt, die darauf warteten, durchgeblättert und mit einem Preis versehen zu werden. Clara hatte den Eindruck, dass ihnen Beine wuchsen, auf denen sie Myrna durchs Dorf folgten. Wo Myrna ging und stand, waren Bücher, wie ziemlich unhandliche Visitenkarten.
Myrna dachte zurück. Sie hatte die Obdachlose bemerkt, sie bemerkte eigentlich die meisten Obdachlosen. Sie fragte sich, was geschehen würde, wenn sie jemals einen wiedererkannte. Jahrelang hatte sie Patienten in der psychiatrischen Klinik in Montréal betreut, bis sie eines Tages, nicht ganz so unerwartet, wie sie sich gerne vormachte, eine Mitteilung erhielt. Die meisten der Klienten – über Nacht waren die Patienten zu Klienten geworden – sollten entlassen werden. Sie hatte natürlich dagegen protestiert, aber schließlich hatte sie nachgegeben. So kam es, dass sie über ihren alten, zerkratzten Schreibtisch hinweg einem »Klienten« nach dem anderen in die Augen blickte und ihm ein Blatt Papier reichte, auf dem stand, dass er, versehen mit einem Rezept und einem Gebet, so weit sei, allein zu leben, was eine glatte Lüge war.
Die meisten von ihnen verloren bald das Rezept, das Gebet erreichte sie wahrscheinlich nie.
Außer vielleicht Claras Pennerin.
War es möglich, Myrna betrachtete ihre Freundin über den Rand ihres Bechers hinweg, dass Clara Gott auf der Straße begegnet war? Myrna glaubte an Gott und betete, dass Gott nicht einer der Männer oder Frauen war, die sie verraten hatte, als sie ihren Entlassungsschein unterschrieb. Das Gewicht, das Myrna mit sich herumschleppte, lastete nicht nur auf ihren Hüften.
Clara sah an den überquellenden Bücherborden vorbei zum Fenster hinaus. Myrna wusste genau, was Clara sah. Sie hatte schon unzählige Male in ebendiesem Stuhl gesessen, aus dem Fenster gestarrt und geträumt. Ihre Träume waren ganz einfacher Natur. Wie Leigh Hunts Abou Ben Adhem hatte sie immer nur von Frieden geträumt. Und hier hatte sie ihn gefunden, in diesem abgelegenen, vergessenen Dorf in den Eastern Townships. Nachdem sie jahrzehntelang Menschen behandelt hatte, denen es nie besser ging, nachdem sie jahrelang aus dem Fenster verlorenen Seelen hinterhergesehen hatte, wie sie in eine Straße einbogen, die ihr neues Heim werden sollte, hatte sich Myrna nach einer anderen Aussicht gesehnt.
Sie wusste, was Clara sah. Sie sah den Dorfanger, der jetzt unter einer dicken Schneedecke lag, eine krumme Eislaufbahn, zwei Schneemänner und am gegenüberliegenden Ende drei riesige Kiefern, die nachts unter lustigen roten, grünen und blauen Lichterketten erstrahlten. Auf der Spitze der höchsten leuchtete kilometerweit sichtbar ein heller weißer Stern.
Clara sah Frieden.
Myrna erhob sich, trat zu dem Holzofen in der Mitte ihres Ladens und nahm die alte Kaffeekanne, um sich noch einen Becher einzugießen. Sie überlegte, ob sie das kleine Töpfchen hervorholen sollte, um Milch für eine heiße Schokolade darin zu erwärmen, entschied dann aber, dass es dafür noch zu früh sei.
Sie hatte zu beiden Seiten des Ofens jeweils einen Schaukelstuhl aufgestellt und ihnen gegenüber ein Sofa, das Peter auf dem Sperrmüll in Williamsburg gefunden hatte. In der Ecke stand ein Weihnachtsbaum, den sie und Billy William aus dem Wald geholt hatten, und erfüllte den Laden mit seinem süßen Duft. Er war geschmückt, und darunter lagen bunt eingewickelte Geschenke. Daneben stand ein Tablett mit Plätzchen für alle, die im Laden vorbeischauten, Schüsselchen mit Süßigkeiten waren über den ganzen Raum verteilt.
»Woher kennt sie deine Bilder?«, fragte Myrna.
»Was glaubst du?« Clara wollte wirklich wissen, was Myrna dachte. Sie wussten beide, was Clara glaubte.
Myrna überlegte einen Moment lang mit einem Buch in der Hand. Sie konnte mit einem Buch in der Hand immer besser denken. Aber dieses Mal fiel ihr dennoch nichts ein.
»Ich weiß nicht.«
»Sicher?«, fragte Clara mit einem Grinsen.
»Du weißt es auch nicht«, sagte Myrna. »Du willst glauben, dass es Gott war. Ich muss dir leider sagen, manche Leute kamen schon für weniger in die Klapse.«
»Aber nicht lange.« Clara sah Myrna in die Augen. »Was würdest du denn an meiner Stelle glauben? Dass CC recht hat und meine Bilder Mist sind oder dass eine Obdachlose Gott ist und die Bilder brillant sind?«
»Oder du hörst endlich auf, andere über dich urteilen zu lassen, und entscheidest das selbst.«
»Das habe ich versucht.« Clara lachte. »Um zwei Uhr nachmittags sind die Sachen brillant, um zwei Uhr nachts der reinste Mist.« Sie beugte sich vor, bis ihre Hände beinahe die Myrnas berührten. Dann sah sie ihrer Freundin in die Augen und sagte mit leiser Stimme: »Ich glaube, ich bin Gott begegnet.«
Myrna lächelte, aber es