Meine Engel sind grün. Oliver Kyr
Читать онлайн книгу.ein Ziel, das wir nie infrage stellten. Es war ja common ground.
Schubladen lernten wir zu bauen, im Unterricht. Keine aus Holz und Nägeln im Werkunterricht natürlich. Nein: Schubladen in unseren Köpfen.
Das Leben unterteilte sich in Pflanzen, Tiere und uns Menschen (die natürlich den absoluten Höhepunkt der Schöpfung darstellten). Spezies, Arten, Ordnungen und dahinter: die Ordnung. Alles Leben war geordnet, vom Menschen kategorisiert und damit vorhersagbar und in die Logik genagelt (interessant am Rande, dass der Mensch gerne annagelt, was er nicht versteht…)
Nur wenn der Mensch es in eine Kategorie sperrt, dann darf es sein. Ansonsten ist es ein Irrtum und bedarf nicht einmal der Erwähnung. Auch die Wissenschaft glaubt, ja, aber eben nur an sich selbst. An keine höhere Macht, denn sie kann sie ja nicht beweisen. Also werfen wir Demut, Glaube und Magie über Bord und erklären uns selbst zum Maßstab alles Erfahrbaren.
„Glaub nur was du siehst.“
„Träum nicht herum.“
„Benutz mal deinen Kopf, Mensch.“
Wir glauben, wir kennen ein Wesen, wenn wir ihm einen lateinischen Namen geben. Eine Gattung, eine Art, eine Spezies-Zugehörigkeit. Aber kennst du deine Liebste oder deinen Liebsten, wenn du weißt, dass er oder sie Homo Sapiens ist?
Seit dem letzten Jahr, seit Mexiko und Guatemala und Kolumbien, frage ich Pflanzen nach ihren Namen. Und freue mich, wenn sie ganz besonders schön sind.
Ich liebe es, diese Namen auszusprechen, meine Brüder und Schwestern als lebendige Wesen zu verstehen, die durchs Leben vibrieren - ohne Kategorie, ohne Schublade, ohne menschengemachte Einordnungs-Käfige.
Eine Mitschülerin behauptete einmal in Biologie, Steine wären auch Lebewesen. Belächelt vom Lehrer bekam sie die Hausaufgabe, einen Stein zu gießen. Eine Woche lang. Und ihn jeden Tag mit einem Maßband zu vermessen. Ob er denn wachse? Nun, er wuchs natürlich nicht, und so war die Sache klar: Steine sind nicht lebendig.
So einfach kann man es sich machen, wenn der Maßstab der eigenen „Wahrheit“ eben diese „Wahrheit“ ist. Bleib auf der schwarzen Linie, biege nicht ab. Denn abseits des sanktionierten Pfades lauert das Ungewisse.
Und da will man ja nicht hinein…
Dass Pflanzen lebendige Wesen sind, war ein gelerntes Faktum. Sie wachsen durch Zellteilung und haben einen Stoffwechsel: so sind sie eben in der Schublade der Lebewesen gelandet. Dass sie ein Bewusstsein oder gar Seelen besitzen könnten? Ausgeschlossen. Das hatten die Autoritäten
schließlich nicht entdeckt. Was unbeantwortbare Fragen aufwirft, darf nicht sein. Scheuklappen, weiter im Text.
Biologie-Unterricht war Analyse, Einteilung und deren Auswendiglernen. Leben war nicht Magie sondern vorhersehbarer Ablauf. Der Sinn des Lebens war eine interessante intellektuelle Beschäftigung in vorgeformten Konzepten, vielleicht einen Grundkurs in Philosophie oder Ethik wert.
Und so sprang die Maus mit den roten Pfoten eines Tages, unbemerkt und unbetrauert, vom Tisch, kauerte sich in die Schatten und wartete.
Denn sie wusste, ihre Zeit würde kommen.
Aho, liebe Maus. Aho.
Danke für deine Geduld.
3
EIN FRÜHER ABSCHIED
Du warst nicht minderwertig, als du anders entschieden hast als heute. Du warst erst am Anfang des Weges und die Reise ist der Wert. Du bist nicht die Ankunft, du bist die Reise.
1 Buch der Wyld Rose, 214
In leisen Wellen, auf Zehenspitzen, nimmt Taita Yagé, der Geist der heiligen Pflanze, meine Hand.
Sanft, aber bestimmt.
Und der Tanz beginnt.
Der Baum auf der anderen Straßenseite, seine materiellen Formen, seine Gestalt in dieser, mir wohl bekannten Welt, lösen sich in Augenblicken auf. Ein Monster streckt sich aus Rinde und Astwerk, ein böser Geist. Es schwebt auf mich zu und starrt mich Unheil verkündend an. Angst bannt mein Herz, kaum dass meine Brust sich zum Atmen heben kann.
„Aber wieso“, denke ich verzweifelt. Wieso sehe ich ihn als so furchtbares Wesen? Wieso der Horror, die Panik bei seinem Anblick? Er ist doch mein Bruder. Was habe ich ihm getan?
Dann verstehe ich. Nein, er sagt es mir, telepathisch, wie sie es meist tun.
‚lch spiegele deine Angst, Oliver. Die Angst vor dem Ungewissen, die Angst vor dem Unbekannten, die Angst vor dem Leben.’
Eine Angst aus längst vergang’ner Zeit. Die Angst von Oliver, als er klein war.
Ein Plastikstuhl. Ich schleife ihn durch den Staub und stelle ihn dem Baum gegenüber. Setze mich mit vor Angst klopfendem Herzen (das Herz des kleinen Oliver, das in meinem schlägt), und dann singen wir – der Baum und ich – wir singen den kleinen Oliver in den Schlaf. Das Lied kommt aus der unsichtbaren Welt, ich habe es nie gelernt. Es ist einfach da, weil es das richtige Lied ist. Der Baum und ich, gemeinsam sagen wir dem kleinen Oliver, dass alles gut ist. Dass Mama Arbol – Mutter Baum – und alles Leben sein Freund ist. Dass er endlich vertrauen darf.
Dann schläft der kleine Bub ein, und Mama Arbol und ich schauen uns an.
Wie schön sie auf einmal ist. Wie gütig.
Und schau: da schlägt ein Baumherz, mitten im Astwerk. Und schlägt den Rhythmus allen Lebens und der Freundschaft und des Kosmos.
Danke, Mama Arbol, danke für deine Geduld!
(Lektionen der Pflanzen. El Pepino, Putumayo, Kolumbien. April 2019)
Es ist ihr Name.
Und ihr Geburtsdatum, ein Tag im Februar.
Und daneben ein aktuelles Datum, von vor einem Monat.
Ihr Todestag.
Ungläubig starre ich die Zeitung an, alles Denken weggewischt - und ich: nur Starren und zitternde Hand.
Ich rufe bei ihrer Familie an und erfahre vom langsamen Sterben meiner einstigen Liebsten. Vom Krebs, von der Klinik, vom endgültigen Hinübergehen. Dass sie nach mir gefragt hat.
Vor zwei Jahren waren wir noch ein Paar gewesen. Ich war gerade aus der Schule „entlassen“ und mit Glück dem Militär entronnen - sie voller Hingabe, voller Pläne, mit liebendem Herzen.
Von Familie hatte sie immer wieder gesprochen, meine Liebste. Vom Zusammensein bis in alle Zeit. Von uns, dem „perfekten Paar“.
Und eines Tages ging ich nach Stuttgart, zum Studieren.
Und ich kam nur noch an den Wochenenden zu ihr.
Und dann ließ ich ein Wochenende aus.
Und dann noch eins.
Und dann beantwortete ich ihre Briefe nicht mehr.
Und dann sahen wir uns wieder, und ich konnte ihre Nähe nicht mehr ertragen. Hatte Angst vor der gemeinsamen Zukunft, vor Familie, vor der Liebe, vor der Hingabe.
Und dann stellte sie - die mit dem großen Herzen, die viel mutiger war als ich – dann stellte sie mich zur Rede. Und ich ließ sie los und ging.
An diesem Tag machte ich nicht nur Schluss mit meiner Liebsten. Ich machte Schluss mit dem Leben.
Aber das sollte noch weitere siebenundzwanzig Jahre in den Schatten bleiben. Mir den scharfen Dolch der Trauer ins Herz treiben, wann immer ich der Gestorbenen in Gedanken und im Herzen nah war.
Dem Leben hatte ich Adieu gesagt, ihm Vertrauen und Gefolgschaft verweigert.
Und