Unziemliches Verhalten. Rebecca Solnit
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Unziemliches Verhalten
Wie ich Feministin wurde
Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum
Hoffmann und Campe
Spiegelhaus
1
Vor vielen Jahren stand ich einmal vor einem hohen Spiegel, betrachtete mich und sah, wie mein Spiegelbild dunkler und weicher wurde und sich dann zurückzuziehen schien, als verschwände ich aus der Welt, wo ich doch vielmehr die Welt aus meiner Wahrnehmung aussperrte. Ich hielt mich an dem Türrahmen auf der anderen Seite des Flurs fest, dann gaben meine Beine unter mir nach. Mein Spiegelbild entschwand in die Dunkelheit, als wäre ich nur ein Geist und entzöge mich sogar meinem eigenen Blick.
Damals wurde ich ab und zu ohnmächtig und hatte häufig Schwindelanfälle, aber diese Episode prägte sich mir eben deshalb besonders ein, weil es schien, als verschwände nicht die Welt aus meinem Bewusstsein, sondern ich aus der Welt. Ich war sowohl die Person, die verschwand, als auch die entkörperlichte Person, die sie aus der Ferne betrachtete, und zugleich war ich keine von beiden. Ich versuchte damals, sowohl unbemerkt zu bleiben als auch wahrgenommen zu werden, wollte sowohl Sicherheit als auch Sichtbarkeit, und diese Bestrebungen kamen einander oft in die Quere. Ich beobachtete mich, versuchte, dem Spiegel zu entnehmen, was ich sein könnte und ob ich gut genug war und ob all das, was man mir über mich gesagt hatte, stimmte.
Eine junge Frau zu sein bedeutet, zahllosen Spielarten der drohenden Vernichtung entgegenzutreten oder vor dieser beziehungsweise dem Wissen darum zu fliehen oder das alles auf einmal. »Der Tod einer schönen Frau ist fraglos das poetischste Motiv, das es gibt«, schrieb Edgar Allen Poe, der sich das kaum aus der Perspektive der Frauen vorgestellt haben kann, die lieber am Leben bleiben wollten. Ich versuchte, nicht zum Gegenstand von irgendjemandes Dichtung zu werden und nicht ums Leben zu kommen; ich versuchte, meine eigene Poetik zu finden, ohne mich dabei auf Landkarten, Reiseführer oder sonstige Orientierungshilfen stützen zu können. Vielleicht gab es die irgendwo da draußen sogar, aber ich hatte sie noch nicht entdeckt.
Die mühsame Suche nach einer Dichtung, in der das eigene Überleben statt der Unterwerfung gefeiert wird, vielleicht auch nach einer eigenen Stimme, um ebendies zu fordern, zumindest aber nach einer Möglichkeit, innerhalb eines Wertesystems zu überleben, in dem man sich an der Auslöschung und dem Versagen von Frauen weidet, ist eine Arbeit, die viele junge Frauen, vielleicht fast alle, leisten müssen. Ich selbst tat das in jenen frühen Jahren nicht besonders gut oder klar erkennbar, dafür aber wild entschlossen.
Mir war oft nicht bewusst, wogegen oder warum ich mich wehrte, und so war mein Widerstand vage, sporadisch, planlos. Jene Jahre, in denen ich darum kämpfte, nicht unterzugehen, wenn auch allzu oft wie jemand, die in einem Sumpf versinkt und dann heftig mit den Armen rudert, um sich zu retten, kommen mir heute in den Sinn, wenn ich sehe, wie um mich herum junge Frauen die gleichen Kämpfe austragen. Es ging nicht nur ums physische Überleben, wobei das oft schwierig genug war, sondern auch darum, als Person mit gewissen Rechten zu überleben, einschließlich des Rechts auf Teilhabe, Würde und eine eigene Stimme. Nicht nur zu überleben also, sondern zu leben.
Die Regisseurin, Autorin und Schauspielerin Brit Marlin sagte kürzlich: »Dass du auf diesem Stuhl in diesem Zimmer sitzen bleibst und dich von einem mächtigen Mann belästigen oder missbrauchen lässt, liegt nicht zuletzt daran, dass uns Frauen kaum je ein anderes Ende gezeigt wurde. In den Romanen, die wir gelesen, den Filmen, die wir gesehen, den Geschichten, die uns von Kindesbeinen an erzählt wurden, nehmen Frauen sehr oft ein schreckliches Ende.«
Der Spiegel, in dem ich mich selbst verschwinden sah, hing in der Wohnung, in der ich ein Vierteljahrhundert lang gewohnt habe, von den letzten Monaten meines zwanzigsten Lebensjahrs an. Die ersten paar Jahre dort waren die Zeit meiner heftigsten Kämpfe, von denen ich manche gewann, andere Narben hinterlassen haben, die mich bis heute begleiten, und viele mich in einer Weise geprägt haben, dass ich nicht sagen könnte, ich wünschte, es wäre alles anders gelaufen, denn dann wäre ich eine ganz andere geworden, und diese andere gibt es nicht. Mich hingegen gibt es. Doch ich kann mir wünschen, dass den jungen Frauen, die nach mir kommen, einige der alten Hindernisse erspart bleiben, und nicht zuletzt dazu will ich mit meinen Texten beitragen, indem ich die Hindernisse zumindest benenne.
2
Eine andere Spiegelgeschichte: Als ich ungefähr elf war, gab es einen Schuhladen, in dem mir meine Mutter die Engineerstiefel kaufte, die ich damals unbedingt haben wollte, denn ich versuchte, nicht dieses verabscheute Wesen, ein Mädchen, zu sein, sondern etwas, das mir wie etwas ganz Eigenes erschien, robust, einsatzbereit; in Erinnerung geblieben ist mir der Laden jedoch aus einem anderen Grund. Wenn man vor die Spiegel trat, die auf beiden Seiten des Mittelgangs angebracht waren, sah man ein Spiegelbild des Spiegelbilds des Spiegelbilds des Spiegelbilds von sich selbst oder den Schemeln oder was auch immer, jedes weitere Abbild blasser, verschwommener und ferner als das vorige, eine Reihung, die sich endlos fortzusetzen schien, als läge in diesen Spiegeln ein Ozean, in dessen meergrüne Tiefen der Blick immer weiter vordrang. Damals hielt ich nicht nach meinem Selbst Ausschau, sondern nach dem, was jenseits davon lag.
Jenseits jeden Anfangs liegt ein weiterer Anfang und noch einer und noch einer, aber meine erste Fahrt mit dem Bus der Linie fünf Fulton könnte ein Startpunkt sein, jene Buslinie, die die Stadt in zwei Teile teilt, von Downtown an der San Francisco Bay über die Fulton Street bis zum Pazifik ganz im Westen. Das Hauptgeschehen dieser Geschichte spielt sich in der Mitte dieser Strecke ab, in der Mitte der Stadt, aber bleiben wir einen Moment lang in diesem Bus sitzen, der sich den Hügel hinaufquält, an der Jesuitenkirche vorbei, deren Türme im Morgenlicht leuchten, den südlich der Straße gelegenen großen Park entlang, wo die Avenues immer weniger dicht bebaut sind, auf Erde, die eigentlich nur Sand ist, bis hin zu dem langen Sandstreifen am Pazifik, dem Ozean, der ein Drittel unseres Planeten bedeckt.
Manchmal sieht das Meer aus wie ein Spiegel aus Silber, aus Silber mit Hammerschlag, nicht glatt genug für wirkliche Spiegelungen – es ist die Bay, die den gespiegelten Himmel auf der Wasseroberfläche trägt. An den schönsten Tagen gibt es für die Farben der San Francisco Bay und des Himmels darüber keine passenden Worte. Manchmal spiegelt sich im Wasser ein Himmel, der sowohl grau als auch golden ist, und das Wasser ist blau, ist grün, ist silbern, ist ein Abbild von diesem Grau und Gold, fängt die Wärme und Kälte der Farben in seinen kleinen Wellen ein, ist sie alle und zugleich keine davon, ist etwas Subtileres als die Sprache, die wir dafür haben. Manchmal taucht ein Vogel in diesen Spiegel aus Wasser ein, verschwindet in seinem eigenen Abbild, und die spiegelnde Oberfläche macht es unmöglich zu erkennen, was darunterliegt.
Manchmal wenn ein Tag geboren wird oder erlischt, ist der opalene Himmel von einer Farbe, für die wir keine Worte haben, einem Gold, das ins Blau verblasst ohne das vermittelnde Grün, das auf halbem Weg zwischen diesen Farben liegt, den feurig-warmen Farben, die nicht Apricot oder Purpur oder Gold sind, das Licht wandelt sich von einer Sekunde zur nächsten, sodass der Himmel, von der Sonne bis zur gegenüberliegenden Seite hin betrachtet, wo andere Farben in Bewegung sind, mehr Schattierungen von Blau aufweist, als man zählen kann. Wenn man nur einen Augenblick lang wegschaut, verpasst man einen Farbton, für den es niemals einen Namen geben wird und der sich wiederum zu einem anderen und einem wieder anderen wandelt. Die Bezeichnungen für Farben sind manchmal Käfige, die etwas umschließen, was dort nicht hingehört, und das gilt oft auch für die Sprache im Allgemeinen, für Wörter wie Frau, Mann, Kind, Erwachsener, sicher, stark, frei, wahr, schwarz, weiß, reich, arm. Wir brauchen die Wörter, doch wir sollten sie am besten in dem Bewusstsein verwenden, dass sie Behältnisse sind, die bei jeder Gelegenheit überfließen oder auseinanderbrechen können. Es liegt immer etwas jenseits von ihnen.
3
Manchmal wird ein Geschenk gemacht, und weder Schenker*in noch Beschenkte*r erkennen seine wahre Tragweite, es entpuppt sich letztlich als etwas anderes als das, was es