Unziemliches Verhalten. Rebecca Solnit

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Unziemliches Verhalten - Rebecca Solnit


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Autos, mit denen die Barrow Gang unterwegs war, Weiße im Lebensbereich einer schwarzen Familie. Und so etwas war auch ich in diesem Mietshaus, in das Mr. Young mich eingeladen hatte, in diesem Viertel, in das viele Schwarze gezogen waren, nachdem man sie – im Namen der Stadterneuerung, des urban renewal, damals spöttisch negro removal, Negerentfernung, genannt – aus dem Fillmore District vertrieben hatte, dieselben Familien, die gekommen waren, um den Südstaaten zu entfliehen, nun ein weiteres Mal verdrängt, an den westlichen Rand eines weitläufigen Gebiets, das sich Western Addition nannte.

      Menschen werden auf so vielfältige Art und Weise gezwungen zu verschwinden, werden entwurzelt, ausgelöscht, der Erzählung und des Orts verwiesen. Diese Vorgänge überlagern einander wie geologische Schichten: Das Volk der Ohlone hatte jahrtausendelang auf der San-Francisco-Halbinsel gewohnt, bevor die Spanier einfielen und die ganze Küste in Besitz nahmen, später wurde sie zur dünnbesiedelten Randzone eines unabhängigen Mexiko. Nachdem die Vereinigten Staaten Kalifornien und den Südwesten erobert hatten, wurden die mexikanischen Einwohner ihrer weitläufigen ranchos beraubt und fortan als unterprivilegierte Klasse oder als Eindringlinge oder beides behandelt, auch wenn ihre Namen an vielen Orten überdauert haben, die Namen von Heiligen und Ranchern.

      Gleich nördlich und westlich unseres Viertels hatte sich im neunzehnten Jahrhundert ein riesiger Friedhofsbezirk befunden, aus dem in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Toten zu Zehntausenden hatten weichen müssen, damit man das Land profitabler nutzen konnte. Die Skelette wurden in Massengräbern zusammengeworfen, die Grabsteine als Baumaterial oder zur Geländeauffüllung verwendet; in einer kleinen Parkanlage südlich von uns gab es Rinnsteine, die mit Bruchstücken von Grabsteinen eingefasst waren, auf denen die Inschriften zum Teil noch lesbar waren. Einen kurzen Spaziergang Richtung Osten entfernt lag Japantown, dessen japanischstämmige Bewohner*innen im Krieg fast alle in Internierungslager zwangsumgesiedelt worden waren; ihre leerstehenden Wohnungen wurden bald von schwarzen Arbeitern und Familien belegt, die wegen der Arbeitsplätze in den Werften und der Kriegsindustrie zugewandert waren. Dies alles gehörte zur Vergangenheit des Viertels, als ich dort hinzog, doch ich erfuhr erst viel später davon.

      Als ich das Gebäude zum ersten Mal betrat und Mr. Young kennenlernte, lag die Amtseinführung von Ronald Reagan fünf Tage zurück. Nachdem das Land ein Maximum an ökonomischer Gleichheit erreicht hatte, war ein Präsident gewählt worden, der diese Entwicklung umkehren, den Fortschritt für die Schwarzen beenden, den Reichtum wieder in den Händen einiger weniger konzentrieren, die Programme, die so vielen den Aufstieg ermöglicht hatten, demontieren und Massenobdachlosigkeit verursachen würde. Nicht lange danach sollte Crack in den Städten Einzug halten, auch in unserem Viertel, unserem Block. Nach meinen eigenen damaligen Erfahrungen mit der Wirkung von Kokain – dem Gefühl von Stärke und der Überzeugung, zu Größerem bestimmt zu sein, die es hervorrufen kann – fragte ich mich, ob es als Gegenmittel gegen die Verzweiflung und das Elend, die durch Reagans Politik ausgelöst wurden, nicht eine ganz besondere Anziehungskraft hatte: die Droge der Wahl, wenn man gegen die Wand stieß, die eigens dazu gebaut worden war, einen draußen zu halten. Es gab noch andere Wände, Gefängnismauern, hinter denen einige Männer aus dem Viertel verschwanden, und Gräber für wieder andere. Die Western Addition war schwarz, aber Immobilienmakler lösten einzelne Bereiche heraus, verpassten ihnen neue Namen und unterminierten die Identität des Wohngebiets; so wurde Schritt für Schritt die schwarze Community aus der immer teurer und elitärer werdenden Stadt vertrieben. (Später sollte ich die Mechanismen von Gentrifizierung begreifen und erkennen, welche Rolle ich dabei wahrscheinlich spielte, indem ich als Hellhäutige dieses Viertel anderen, zahlungskräftigeren Hellhäutigen akzeptabler erscheinen ließ, aber damals hatte ich keine Ahnung, dass und auf welche Weise sich hier etwas verändern würde.)

      Die schönen Holzhäuser waren Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut worden, mit all den üppigen Ausschmückungen jener Ära: Erkerfenster, Säulen, gedrechselte Geländer, plastische Ornamente, oft mit botanischen Motiven, Rundschindeln, von Bögen eingefasste Veranden, Türmchen, sogar das eine oder andere Zwiebeldach. Sie waren voller biomorpher Rundungen und exzentrischer Details, die ihnen etwas Organisches gaben, als wären sie nicht gebaut worden, sondern gewachsen. Eine Park-Rangerin aus den Muir Woods sagte mal zu mir, sie sehe in diesen Bauwerken die riesigen Redwood-Wälder, die für ihren Bau abgeholzt worden seien, und so konnte man die hochgewachsenen Wälder entlang der Küste im Viertel schemenhaft erahnen.

      Die Materialien und das handwerkliche Können, mit denen diese Gebäude ursprünglich errichtet wurden, waren gleichermaßen exzellent, doch in der Nachkriegszeit kam es zur Stadtflucht der Weißen, die in die Vororte abwanderten, und andere Bevölkerungsgruppen – Nichtweiße, Einwanderer, Arme – zogen in die frei gewordenen Häuser, die von den abwesenden Besitzer*innen nun wie Slums behandelt wurden. Die Ornamente wurden abgeschlagen, die Holzwände verputzt oder mit Plastik verkleidet, manche Häuser wurden in kleinere Wohnungen aufgeteilt, oft mit schlechtem Baumaterial und mangelnder Fachkenntnis, und etliche ließ man herunterkommen und baufällig werden.

      Verwahrlosung war das Codewort, das man in den fünfziger und sechziger Jahren gebrauchte, um den Abriss vieler diese Häuser östlich unseres kleinen Viertels zu rechtfertigen, was in der Haut der Stadt offene Wunden hinterließ. Einige davon wurden mit trostlosen Sozialbauten geschlossen, die zum Teil so menschenfeindlich und bedrückend wirkten, dass sie wenige Jahrzehnte später wieder niedergerissen wurden. Andere Grundstücke im Herzen des Fillmore District, einst Schauplatz jenes regen kulturellen Lebens, an das sich Mr. Teal so gern zurückerinnerte, lagen noch bis in die späten achtziger Jahre brach, mit Maschendraht umzäunt. Hier war ein Stadtviertel regelrecht abgetötet worden, und es erwachte nie wieder richtig zum Leben.

      Veränderung ist das Maß der Zeit, sagt ein Freund von mir, der Fotograf Mark Klett, und kleine Dinge wandelten sich. Als ich dort hinzog, gab es an der Straßenecke einen Block weiter westlich einen Kodak-Fotoautomaten – damals entstanden Bilder noch auf Film –, und an der Straßenecke mir gegenüber, neben dem Spirituosenladen, stand eine verglaste Telefonzelle. Sie wich einem an die Holzwand geschraubten Münztelefon unter einer Haube, die an eine Dunstabzugshaube erinnerte, und als sich Mobiltelefone ausbreiteten, verschwand auch das.

      Das Lebensgefühl dieser vergangenen Zeit lässt sich heute nur schwer vermitteln: Einsam durch die Stadt zu wandern und auf einen Bus oder ein Taxi zu warten oder nach einer Telefonzelle Ausschau zu halten, um eine Taxizentrale oder eine Freundin anzurufen, deren Nummer man auswendig wusste oder sich von der Vermittlung sagen ließ oder in den zerfledderten, seidenpapierdünnen Seiten des Telefonbuchs nachschlug – wenn denn eines da war, in seiner schwarzen Einfassung an einem Metallkabel hing; auf der Suche nach etwas Bestimmtem zahllose Läden zu durchstöbern, denn damals gab es kaum Kettenläden und mehr Vielfalt und kein Internet, das es möglich machte, Sachen zu lokalisieren, ohne auch nur aus dem Bett aufstehen zu müssen. Wir waren den Wundern und Frustrationen der Unvorhersehbarkeit ausgesetzt und besser gegen sie gewappnet, denn die Zeit floss damals gemächlich dahin, auch wenn sich das erst im Rückblick so ausnimmt, wie ein Fluss in der Prärie, bevor sich im Wasserfall der Beschleunigung alles überstürzte. Wir waren auf Begegnungen mit Fremden vorbereitet, vor denen das digitale Zeitalter uns später bewahren würde. Es war eine Ära der weniger vorhersehbaren Kontakte und der tieferen Einsamkeit.

      In jener weniger teuren Zeit gab es viel Raum für Exzentrik. Viele kleine Geschäfte dienten zugleich als Museen für die unterschiedlichsten Dinge – in einer Reinigung unweit des Castro wurden kunstvoll arrangierte antike Bügeleisen ausgestellt, mehrere Läden zeigten alte Fotos von unserem Viertel, wie es früher einmal gewesen war, und in einem Kramladen im Mission District lag auf dem Linoleumboden neben dem Chipsständer ein Ball aus Gummibändern, der einen Durchmesser von über einem Meter hatte. Im Postcard Palace in North Beach wurden ausschließlich alte Postkarten verkauft, die meistens abgestempelt und mit den ausgeprägten Schriftzügen vergangener Zeiten bedeckt waren, den munteren oder kryptischen Botschaften längst Verstorbener an andere längst Verstorbene. Ich habe heute noch Dutzende dieser Karten – meist waren es Schwarz-Weiß-Fotografien von irgendwelchen Bergstraßen, Kapellen oder Grotten –, von denen ich immer ein paar kaufte, wenn ich nach einem Punkkonzert zu dem Laden hinüberschlenderte, um ein bisschen zu stöbern.

      Die Stadt war wie etwas Altes, Zerknittertes,


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