Unziemliches Verhalten. Rebecca Solnit
Читать онлайн книгу.lang in ihrer Freiheit einschränken, manche nabeln sich allmählich ab, manche werden jäh in die Welt gestoßen und müssen sich allein durchschlagen, manche haben das von Anfang an getan. In jedem Fall aber ist man neu zugewandert im Land der Erwachsenen, wo seltsame Sitten und Gebräuche herrschen: Man lernt, die verschiedenen Stränge des eigenen Lebens zusammenzuhalten, versucht herauszufinden, wie dieses Leben aussehen, wer Teil davon sein und was man mit der neugewonnenen Selbstbestimmung anfangen wird.
Als junger Mensch geht man eine lange Straße entlang, die sich wieder und wieder verzweigt, steht dauernd vor Entscheidungen, die tiefgreifende und unvorhersehbare Folgen haben werden, und nur selten ergibt sich die Gelegenheit, umzukehren und doch die andere Abzweigung zu nehmen. Man erschafft etwas, ein Leben, ein Selbst, und das ist ein ungemein kreatives Unterfangen, an dem man gleichwohl scheitern kann – teilweise, ganz und gar, jämmerlich, hoffnungslos. Jung zu sein ist eine hochriskante Angelegenheit. Ungefähr zu der Zeit, als ich in Mr. Youngs Gebäude einzog, sprachen mich in einem Einkaufszentrum in der Nähe der City Hall Mitglieder einer Sekte an. In den frühen Achtzigern waren die Sekten, die in den Siebzigern solchen Schaden angerichtet hatten, noch nicht wieder von der Bildfläche verschwunden. Sie schienen eine Folge davon zu sein, dass zu striktem Gehorsam erzogene Menschen in die anarchische Freiheit jener Epoche gestoßen worden waren. Als scheinbar radikale Option, um zum Konservatismus blinden Gehorsams und strenger Hierarchien zurückzukehren, bildeten diese Sekten einen Abgrund zwischen zwei Seinsarten, in den viele Menschen stürzten.
Manche Vögel kehren in ihren Käfig zurück, wenn die Tür offen steht, und manche Menschen entscheiden sich, ihre Selbstbestimmung aufzugeben. Für den Hauch eines Moments spürte ich in diesem Einkaufszentrum sehr deutlich, geradezu körperlich, was mir angeboten wurde und warum das auf Leute meines Alters verlockend wirken konnte: die Möglichkeit, die mit dem Erwachsendasein einhergehende Last der Verantwortung wieder abzugeben, nicht jeden Tag Entscheidungen treffen oder sich mit den Folgen dieser Entscheidungen auseinandersetzen zu müssen, die Möglichkeit, zu einer Art Kindheit zurückkehren zu können und einen Anschein von Gewissheit zu erlangen, der nicht hart erkämpft war, sondern gleichsam ausgehändigt wurde. Ich spürte die Befreiung vom Handelnmüssen, die in dieser Aufgabe der Freiheit lag, aber ich liebte meine Unabhängigkeit, meine Privatsphäre, meine Handlungsfähigkeit und in mancher Hinsicht sogar meine tiefe Einsamkeit, und es bestand nicht die geringste Chance, dass ich das alles aufgeben würde.
Ich habe Menschen kennengelernt, die aus glücklichen Familien kamen und als Erwachsene offenbar kaum an sich arbeiten mussten, sie machten einfach so weiter, wie sie es gelernt hatten, sie waren die Äpfel, die nicht weit vom Stamm fielen, beschritten einen Weg, der sich nicht verzweigte, oder bewegten sich überhaupt nicht vom Fleck, weil sie schon angekommen, bevor sie überhaupt aufgebrochen waren. Als ich noch jung war, beneidete ich sie um ihre bequemen Gewissheiten. Doch als ich älter wurde, änderte ich meine Meinung über ein solches Leben, in dem Suche und Selbsterschaffung kaum eine Rolle spielen, von Grund auf. Es lag echte Freiheit darin, auf mich selbst gestellt zu sein, und ein gewisser Frieden in der Tatsache, dass ich niemandem außer mir selbst Rechenschaft schuldete.
Heute begegne ich jungen Menschen, die sich auf eine, wie mir scheint, erstaunlich weit entwickelte Weise über ihre Bedürfnisse und das eigene Ich im klaren sind, über ihre eigenen Emotionen und die Gefühle anderer. Ich wanderte damals als Fremde durch die Landschaft meines Innern, ein wayfaring stranger, und meine Versuche, mich zu orientieren und eine Sprache zu finden, mit der ich beschreiben konnte, was in mir vorging, waren unbeholfen, langwierig und schmerzhaft. Wenn ich bei alldem Glück hatte, so bestand es darin, dass ich mich weiterentwickelte, dass ich mich allmählich, unmerklich veränderte, manchmal beabsichtigt, manchmal durch Impulse oder kleine Schritte, die ich selbst nicht bemerkte. Dass ich ein Apfel war, der immer weiterrollte. In dieser kleinen Wohnung fand ich ein Zuhause, in dem ich meine Metamorphose vollziehen konnte, einen Ort, an dem ich aufgehoben war, während ich mich veränderte und mir einen Platz in der Welt erkämpfte. Ich erwarb Fähigkeiten und Wissen, gewann schließlich auch einen Freundeskreis und fühlte mich zugehörig. Oder vielmehr entdeckte ich, dass die Ränder die fruchtbarsten Orte sein konnten und gute Ausgangspunkte, um sich in die angrenzenden Bereiche hinein- und wieder hinauszubegeben.
Die Schwierigkeiten liegen ja nicht nur in der Adoleszenz als solcher, vielmehr ist auch das Erwachsenendasein, eine Kategorie, der wir alle zuordnen, die keine Kinder mehr sind, ein sich ständig wandelnder Zustand; es ist gerade so, als würden wir nicht bemerken, dass die langen Schatten bei Sonnenuntergang und der Tau am Morgen anders sind als das direkte, klare Licht am Mittag, und einfach alles Tag nennen. Wenn man Glück hat, verändert man sich, stärkt mit der Zeit die eigene Identität und Entschlusskraft; bestenfalls gewinnt man an Orientierung und Klarheit, und an die Stelle der Naivität und Dringlichkeit der Jugend, die langsam schwinden, treten Ruhe und etwas, das womöglich Reife ist. Heute, im fortgeschrittenen Alter, kommen mir selbst Leute in ihren Zwanzigern wie Kinder vor, nicht im Sinne von Unwissenheit, sondern von Neuheit: Man sieht oder erlebt vieles zum ersten Mal, hat das ganze Leben noch vor sich und ist vor allem mit der heroischen Aufgabe des Werdens beschäftigt.
Manchmal beneide ich Menschen, die noch am Anfang ihres langen Lebenswegs stehen, die noch so viele Entscheidungen vor sich haben, so viele Abzweigungen. Wenn ich mir ihren Weg vorstelle, sehe ich immer eine richtige Straße vor mir, die sich wieder und wieder gabelt, spüre sie, schattig, von Wald gesäumt, erfüllt von der Ängstlichkeit und Aufregung des Entscheidens, der ersten Schritte in die neue Richtung, ohne zu wissen, wo man landen wird.
Ich verspüre keine Reue wegen der Abzweigungen, die ich genommen habe, wohl aber eine gewisse wehmütige Sehnsucht nach jener Zeit, als der größte Teil des Wegs noch vor mir lag, jener Phase, in der man so vieles werden kann, was ja das große Versprechen der Jugend ist, denn heute liegt Entscheidung um Entscheidung hinter mir, habe ich einen bestimmten Weg zurückgelegt und viele andere Wege nicht genommen. Möglichkeit bedeutet, dass man vieles werden könnte, was man noch nicht ist, und das berauscht, sofern es keine Angst macht. Die meisten der Weggabelungen, an denen ich mich entscheiden musste, tauchten während meiner Zeit in jenem lichtdurchfluteten Zuhause vor mir auf, das Mr. Young für mich möglich gemacht hatte.
Nebelhorn und Gospel
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Die New Strangers Home Baptist Church lag zwei Blocks östlich von meiner Wohnung in einem dreistöckigen viktorianischen Gebäude mit zwei an Getreidesilos erinnernden, von Kreuzen gekrönten Türmchen an den Seiten und – eine Besonderheit in diesem Viertel von direkt an den Gehweg grenzenden Häusern – einem kleinen Rasenstück vor dem Haus, auf dem inmitten einiger kümmerlicher Rosen ein Holzschild mit dem Namen der Kirche stand. Jahr um Jahr ging ich daran vorbei und überlegte, was diese new strangers, diese neuen Fremden, wohl sein mochten. Die Solid Rock Baptist Church ein Stück weiter oben, wo die Lyon Street steil anstieg, war eines von mehreren Gotteshäusern, vor denen ich manchmal stehen blieb, um dem Gospelgesang drinnen zuzuhören. Ich war eine Außenseiterin, eine neue Fremde in diesem Stadtviertel, das doch selbst eine Gemeinschaft von Außenseitern innerhalb der weißen Gesellschaft war, in der ich mich frei bewegen konnte und zu der ich dazugehörte.
Es war ein kleines Stadtviertel, fünf Blocks breit und sechs Blocks lang, von breiten Boulevards im Osten und Westen, dem grünen Streifen des Golden Gate Park im Süden und einem steilen Hügel im Norden begrenzt, der wie eine Art Mauer wirkte. Mein neues Zuhause lag an der südlichen Ecke eines Blocks, an dessen nördlicher Seite die düstere, niedrige Pfingstkirche stand, die auch mein Wahllokal war. Daneben befand sich ein Spirituosenladen, der von einer aus Afrika stammenden Familie geführt wurde; Jahre später sollte ich zur Beerdigung ihres noch jugendlichen Sohns gehen, der aus einem vorbeifahrenden Auto erschossen worden war. Die Trauerfeier fand in der Emanuel Church of God in der Hayes Street statt, nur drei Blocks vom Laden der Familie entfernt und noch näher an dem Waschsalon, vor dem der Junge ermordet worden war.
Die Kirche befand sich in einem hübschen Gebäude, das in einer weißeren Zeit eine Mormonenkirche gewesen war, und die Trauerfeier war aufwühlend, voller Musik und mit tief beeindruckenden Reden. Die gepflegte eckige Kirche, verputzt und in Pastellfarben gestrichen, sah aus, als wäre sie aus einem Renaissance-Heiligenbild gefallen. Ihr gegenüber befand sich eine kleine Ladenkirche, in der ich