Die Stadt der Sehenden. Жозе Сарамаго
Читать онлайн книгу.unsympathischen Gattin des Wahlvorstehers, und der Flut von Männern und Frauen, die sich bereits auf den Weg gemacht haben, als elementare statistische Gerechtigkeit zu akzeptieren, so verlangt doch die Klugheit, dass wir uns eine Zeit lang jeglichen endgültigen Urteils enthalten und mit zuversichtlicher Aufmerksamkeit der Entwicklung der Dinge harren, die sich gerade erst abzuzeichnen beginnen. Und genau das tun, von professioneller Begeisterung und unstillbarem Informationsdurst gepackt, gerade die Journalisten von Presse, Rundfunk und Fernsehen, sie rennen hin und her, halten den Menschen ihre Aufnahmegeräte und Mikrophone unter die Nase, fragen, Was hat sie dazu veranlasst, um vier Uhr das Haus zu verlassen und wählen zu gehen, finden Sie es nicht unglaublich, dass alle zur gleichen Zeit auf die Straße gegangen sind, sie müssen sich harsche oder gar aggressive Antworten anhören wie zum Beispiel, Weil das genau die Uhrzeit ist, zu der ich gehen wollte, Als freie Staatsbürger verlassen und betreten wir unser Haus, wann es uns passt, wir schulden niemandem eine Erklärung für unsere Handlungen, Wie viel bezahlt man Ihnen für diese dummen Fragen, Wen geht es etwas an, um welche Uhrzeit ich das Haus verlasse, In welchem Gesetz steht geschrieben, dass ich verpflichtet bin, auf diese Frage zu antworten, Ich rede nur im Beisein meines Anwalts. Es gab auch wohlerzogene Menschen, die nicht in diesem scharfen Ton antworteten, doch nicht einmal sie konnten die unersättliche journalistische Neugier befriedigen, zuckten doch auch sie nur die Achseln und sagten, Ich habe den größten Respekt vor Ihrer Arbeit und würde Ihnen liebend gern zu einer guten Reportage verhelfen, aber leider kann ich Ihnen nur sagen, dass ich auf die Uhr geschaut und gesehen habe, dass es vier ist, und zu meiner Familie gesagt habe, Los, wir gehen, jetzt oder nie, Jetzt oder nie, warum, Das ist genau der springende Punkt, der Satz ist mir einfach so herausgerutscht, Denken Sie nach, strengen Sie sich an, Das bringt nichts, fragen Sie jemand anders, vielleicht weiß der ja mehr, Ich habe bereits fünfzig Personen befragt, Und, Niemand kann es mir beantworten, Da sehen Sie’s, Aber halten Sie es nicht für einen merkwürdigen Zufall, dass Tausende von Menschen genau gleichzeitig ihre Häuser verlassen haben, um wählen zu gehen, Sicher war es ein Zufall, aber vielleicht kein merkwürdiger, Warum, Ach, was weiß ich. Die Kommentatoren der verschiedenen Fernsehanstalten, die den Wahlhergang begleiteten und mangels klarer Bewertungskriterien wagten, aus Flug und Gesang der Vögel ihre Schlussfolgerungen zu ziehen, die beklagten, dass Tieropfer, mittels derer man in den noch warmen Gedärmen die Geheimnisse von Zeit und Schicksal lesen konnte, nicht mehr erlaubt waren, erwachten plötzlich aus der Starre, in die sie die mehr als düsteren Aussichten für diese Wahl versetzt hatten, und stürzten sich, ohne sich weiter mit Zufällen aufzuhalten, die sie als unvereinbar mit ihrem erzieherischen Auftrag erachteten, wie Löwen auf dieses außergewöhnliche Exempel für Gemeinsinn, das die Hauptstadtbevölkerung dem Land darbot, indem sie zuhauf an die Urnen strömte, wo doch gerade noch das Schreckgespenst einer in der Geschichte der Demokratie nie da gewesenen Wahlenthaltung die Stabilität des Regimes und, was weitaus schwerwiegender war, die des Systems ernsthaft bedroht hatte. Die vom Innenministerium abgegebene offizielle Erklärung klang nicht ganz so dramatisch, doch auch bei ihr war aus jeder Zeile die Erleichterung der Regierung herauszuhören. Was die drei konkurrierenden Parteien betraf, die der Rechten, der Mitte und der Linken, so rechneten sich diese bereits die Gewinne oder Verluste aus, die diese unerwartete Bürgerbewegung ihnen einbringen würde, sprachen öffentlich Gratulationen aus, in denen es, neben anderen Stilblüten, zum Beispiel hieß, die Demokratie sei zu beglückwünschen. In ähnlicher Manier äußerten sich, die Nationalflagge im Rücken, zunächst der Staatschefin seinem Palast und dann der Premierminister in seinem Palästchen. Vor den Türen der Wahllokale bildeten sich dreireihige Wählerschlangen, die ganze Häuserblocks umrundeten und deren Ende gar nicht mehr zu erkennen war.
Wie alle anderen Wahlvorsteher der Stadt war sich der des Wahllokals Nummer vierzehn sehr wohl bewusst, dass er einem einzigartigen historischen Augenblick beiwohnte. Zu fortgeschrittener Stunde, als das Innenministerium bereits eine zweistündige Verlängerung der Wahlzeit zugestanden hatte, die später noch einmal um eine halbe Stunde ausgedehnt werden musste, damit all die Wähler, die sich in dem Gebäude drängten, ihr Wahlrecht ausüben konnten, als der erschöpfte und hungrige Wahlvorstand zusammen mit den Parteienvertretern endlich vor dem Berg von Stimmzetteln stand, die der Inhalt der beiden Urnen ergeben hatte, wobei die zweite auf die Schnelle beim Ministerium hatte angefordert werden müssen, ließ sie die Dimension der bevorstehenden Aufgabe erzittern, in einem Gefühl, das wir ohne Scheu als episch oder heroisch bezeichnen wollen, als seien die guten Geister der Heimat auf magische Weise in diesen Zetteln wiedererstanden. Einer dieser Zettel stammte von der Frau des Wahlvorstehers. Ein Impuls hatte sie bewogen, das Kino zu verlassen und wählen zu gehen, zwei Stunden brachte sie in einer Schlange zu, die im Schneckentempo voranschritt, und als sie endlich vor ihrem Mann stand, als sie ihn ihren Namen aussprechen hörte, verspürte sie in ihrem Herzen etwas, das vielleicht der Hauch eines alten Glücks war, lediglich der Hauch, dennoch dachte sie, dass sich allein deswegen das Kommen gelohnt hatte. Es war bereits nach Mitternacht, als die Auszählung abgeschlossen war. Die gültigen Stimmen machten nicht einmal fünfundzwanzig Prozent aus und verteilten sich auf die Partei der Rechten mit dreizehn, auf die der Mitte mit neun und die der Linken mit zweieinhalb Prozent. Es gab nur sehr wenige ungültige Stimmen, sehr wenige Nichtwähler. Alle anderen Stimmzettel, über siebzig Prozent, waren leer und weiß.
Verunsicherung, Bestürzung, aber auch Spott und Sarkasmus fegten über das Land. Die ländlichen Gemeinden, in denen die Wahl, von gelegentlichen wetterbedingten Verzögerungen abgesehen, ohne Zwischenfälle oder Überraschungen verlaufen war und Ergebnisse ähnlich denen früherer Jahre gebracht hatte, nämlich soundso viele gültige Stimmen, soundso viele eingefleischte Nichtwähler, unbedeutend wenige ungültige und leere Stimmzettel, diese Gemeinden, die der zentralistische Triumph so gedemütigt hatte, als die Hauptstadt sich vor dem ganzen Land als Beispiel wahren Bürgersinns hervorgetan hatte, konnten nun die Ohrfeige zurückgeben und sich über den albernen Hochmut einiger Herren lustig machen, die sich für etwas Besseres hielten, bloß weil sie durch irgendeinen Zufall in der Hauptstadt gelandet waren. Die Bezeichnung Diese Herren, hervorgebracht mit einem leichten Schürzen der Lippen, das bei jeder Silbe, um nicht zu sagen jedem Buchstaben, Verachtung ausdrückte, galt nicht jenen Menschen, die bis vier Uhr zu Hause geblieben und dann plötzlich, als hätten sie einen unwiderruflichen Befehl erhalten, zur Wahl geströmt waren, sondern der Regierung, die vorzeitig triumphiert hatte, den Parteien, die bereits mit den leeren, weißen Stimmzetteln zu pokern begonnen hatten, als seien sie ein zu erntender Weinberg und sie die Winzer, den Zeitungen und anderen Medien, die so leichtfertig von Beifall für die Sieger auf Verdammung der Verlierer umschalteten, als trügen sie selbst gar nichts zum Zustandekommen derartiger Katastrophen bei.
Gewiss waren die Spötter aus der Provinz irgendwie im Recht, doch wiederum auch nicht so sehr, wie sie glaubten. Hinter dieser ganzen politischen Aufregung, die sich wie eine ihre Zündschnur suchende Bombe durchs Land zieht, ist auch eine Unruhe wahrzunehmen, die man nicht laut zu benennen wagt, außer man ist unter seinesgleichen, ein Mensch unter intimsten Freunden, eine Partei mit ihrem Apparat, die Regierung unter sich, Was passiert, wenn die Wahl wiederholt wird, das ist die Frage, die alle mit leiser, verhaltener Stimme stellen, heimlich, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Es kursiert auch die Meinung, am besten sei es, nicht zu viel Staub aufzuwirbeln, sondern lieber alles beim Alten zu lassen, die PDR in der Regierung, die PDR im Rathaus, so zu tun, als sei nichts geschehen, sich vorzustellen, der Ausnahmezustand sei in der Hauptstadt ausgerufen und damit auch die verfassungsmäßigen Rechte aufgehoben worden, um dann, nach einiger Zeit, wenn Gras über die Sache gewachsen ist, wenn das unheilvolle Ereignis sich in die Liste vergessener Vergangenheitsformen einreihen kann, endlich Neuwahlen vorzubereiten, beginnend mit einer ausgefeilten Kampagne voller Schwüre und Versprechungen, wobei gleichzeitig mit allen Mitteln verhindert werden muss, und zwar ohne über harmlose bis mittelschwere Unregelmäßigkeiten die Nase zu rümpfen, dass sich dieses Phänomen, dem ein namhafter Fachmann bereits den unbarmherzigen Namen politisch-soziale Teratologie gegeben hat, wiederholt. Natürlich gibt es auch Gegenstimmen, die einwenden, die Gesetze seien heilig und das dort Festgelegte müsse eingehalten werden, auch wenn es für einige schmerzlich ist, und die Pfade der Verstohlenheit und Geheimabkommen führten geradewegs zu Chaos und Moralverlust, sprich, wenn das Gesetz besagt, im Falle einer Naturkatastrophe seien die Wahlen eine Woche später zu wiederholen, dann