Der kahle Berg. Lex Reurings

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Der kahle Berg - Lex Reurings


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und die Pässe der Alpen noch in den Beinen. Sie haben sich Kohlblätter unter ihre Mützen geschoben, ein primitives, aber bewährtes Mittel zum Schutz vor der gnadenlosen Sonne. Denn es ist furchtbar heiß, heiß wie in der Hölle. Überall, wo es geht, werden Trinkflaschen an den Rädern befestigt und in die Kleidung der Fahrer gestopft.

      Bis nach Bedoin wird ein gemächliches Tempo angeschlagen, nur allzu verständlich angesichts der mörderischen Bedingungen. Die Flaschen sind schnell leer und an jeder Bar, an der sie vorbeikommen, bitten die Fahrer um Getränkenachschub. So auch in Bedoin, wo sich Simpson laut Überlieferung ein Glas Cognac in der Bar l’Observatoire genehmigt. Oder war es Calvados? Es heißt auch, Zuschauer hätten ihm eine Flasche Cognac gereicht, aus der zuerst er und dann einige andere Fahrer getrunken hätten. Simpson habe die Flasche schließlich geleert. Der Gebrauch von Alkohol war seinerzeit im Peloton nicht ungewöhnlich. Alkohol betäubt die Schmerzen und drosselt das Alarmsystem des Körpers auf Sparflamme. Er versetzt einen in die Lage, ein wenig mehr an seine Reserven zu gehen. Und das ist es, was Tom immer wollte.

      Am Fuße des Ventoux herrschen 38 Grad im Schatten. Auf den ersten Kilometern des Anstiegs attackiert der Spanier Jiménez. Poulidor setzt ihm nach, gefolgt von einer Gruppe mit Gimondi, Balmanion, Janssen, Pingeon und Simpson.

      Simpson steht auf dem siebten Platz im Gesamtklassement. »Das wird mein Tag«, hat er seinen Teamkollegen am Morgen anvertraut. Ihm ist bewusst, dass die Chancen auf einen Toursieg immer kleiner werden. Immerhin ist er inzwischen 29 Jahre alt. Er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um an diesem Tag als Erster die Ziellinie zu überqueren.

      Eigentlich weiß er, dass seine Chance, sein großes Ziel zu verwirklichen, den Sieg bei der Tour, eher gering sind, aber ein Etappensieg ist auf jeden Fall drin. Und auch damit käme Geld in die Kasse, das er gut gebrauchen kann, um seinen anderen Traum zu verwirklichen: ein Haus auf Korsika.

       »Put me back on my bike«

      Simpson tut sich sehr schwer. Nach dem Chalet Reynard fällt die Verfolgergruppe auseinander. Dann berichtet Radio Tour, dass Simpson abreißen lassen musste. Er fährt immer langsamer und langsamer und wird links und rechts von mehreren Fahrern überholt. Wie ein Betrunkener schlingert er über die Straße, seine Leidensmiene wird bleicher und bleicher. Simpson hängt über seinem Lenker, leichenblass trotz zwei Wochen praller Sonne, und geht wie ein Terrier an die Grenzen. Im Zickzack fährt er von einer Straßenseite zur anderen und kommt dann am Straßenrand zum Stillstand. Völlig erschöpft gleitet er vom Rad.

      »Put me back on my bike«,11 bittet er Harry Hall, den Mechaniker des britischen Teams, der schnell aus dem Auto gesprungen ist. Mit Hilfe von umstehenden Zuschauern hebt Hall Simpson wieder aufs Rad und sie schieben ihn den Berg hoch an. Simpsons Augen sind stumpf. Wie ein Roboter fährt er noch ein paar Meter. Dann schwankt er und fällt hin.

      Fernand Tuytens, der bei dieser Tour als Mechaniker der belgischen Mannschaft dabei ist, erzählt 25 Jahre später einer belgischen Zeitung, dass Simpson ein zweites Mal gestürzt und von dem britischen Mechaniker wieder auf sein Fahrrad gesetzt worden sei. Tuytens, der direkt hinter Halls Auto fuhr, sagt, er habe es nicht mehr mit ansehen können und sei aus seinem Auto gesprungen, um zu verhindern, dass Simpson in den Abgrund steuerte. »Maintenant c’est fini, habe ich zu ihm gesagt, aber Tom reagierte nicht mehr«, so Tuytens.

      Ein Zuschauer beginnt sofort mit der Mund-zu-Mund-Beatmung, wenig später übernehmen Tourarzt Dr. Dumas und eine Krankenschwester. Sie legen Tom gegen die Böschung und versuchen abwechselnd, ihn wiederzubeleben. Vierzig Minuten lang kämpfen sie um sein Leben, auch eine Sauerstoffmaske kommt zum Einsatz.

      Um zwanzig vor fünf landet ein Hubschrauber der französischen Polizei am Ort des Unglücks. Um viertel nach fünf kommt er mit dem leblosen Körper am Krankenhaus in Avignon an. Noch immer wird er reanimiert, aber vergeblich.

      Um zwanzig vor sechs berichtet Tour-Direktor Félix Lévitan der Presse, dass Tom Simpson gestorben ist.

       Doping…

      Man findet zwei Ampullen in Simpsons Trikottaschen. Die eine ist leer, die andere noch zur Hälfte mit einem Amphetaminpräparat gefüllt. Eine andere Quelle spricht von drei Ampullen: zwei davon leer und eine mit Stenamina und Tonedron oder Onidrin. Aufgrund der Umstände verweigern die Ärzte ihre Zustimmung zur Bestattung des Leichnams.

      Jan Janssen gewinnt an diesem Tag die Etappe, ohne etwas von dem Drama zu ahnen, das sich an den Flanken des Ventoux abgespielt hat. Als Tribut an den verstorbenen Rennfahrer darf am nächsten Tag einer von Simpsons Teamkollegen die Etappe gewinnen. Es wird Barry Hoban, der später Simpsons Witwe Helen heiraten wird.

      Zwei Tage nach Ende der Tour gibt Staatsanwalt Lapavesin in Paris die Ergebnisse der Autopsie bekannt. Der offizielle Bericht besagt, dass Simpsons Tod auf einen Herzstillstand infolge völliger Erschöpfung (Hypoglykämie) zurückzuführen sei. Dabei wird auf die ungünstigen Wetterbedingungen (große Hitze) verwiesen, aber auch auf das Vorhandensein von Amphetaminen und Methylamphetaminen in Blut, Urin und Magen. Die gefundene Menge wäre an sich nicht tödlich gewesen sie habe aber mit dazu beigetragen, dass Simpson seine Kräfte überschritten hätte.

      In einem Interview mit Radio Luxemburg nährt Julio Jiménez den Verdacht, dass Doping tatsächlich eine Rolle gespielt haben könnte. In dem Gespräch räumt er ein, er selbst habe acht Tage nach Simpsons Tod im Anstieg zum Puy de Dôme zu Doping gegriffen. »Alle Fahrer bei der Tour de France schlucken Mittel. […] Alle Fahrer nehmen Tabletten«, fügt er hinzu. »Jeder ist schuldig – oder keiner. So ist die Lage der Dinge nun mal.«

      Am 28. August 1967 erscheint im Miroir Sprint ein Artikel mit der Überschrift: »Tom Simpson devait-il mourir?« – »War Tom Simpsons Tod unvermeidlich?« Es ist ein Interview mit Dr. Philippe Decourt, dem früheren Klinikchef der Faculté de Médecine de Paris.

      Laut Dr. Decourt wäre Simpson von Dr. Dumas falsch behandelt worden. Simpson hatte einen Herzstillstand erlitten und in einem solchen Fall müsse das Opfer mit dem Kopf tiefer als das Herz gelagert werden, um die Blutversorgung des Gehirns nicht zu gefährden. Fotos und Filme zeigen, dass Simpson mit dem Kopf gegen den Hang gelegt wurde. Außerdem dürfe der Körper auf keinen Fall bewegt werden, sodass ein Transport vorerst nicht in Frage komme. Eine Adrenalin-Spritze wäre auch besser gewesen als eine Sauerstoffmaske. Bei richtiger Behandlung wäre Simpson nicht gestorben, folgert Decourt.

      In einem Interview, das am 25. Juli 1998 in der französischen Sportzeitung L’Équipe erscheint, äußert Lucien Aimar, Gewinner der Tour de France 1966, eine deutliche Meinung. Er erklärt, dass Simpson nach zehn Renntagen völlig ausgelaugt gewesen wäre und bereits zwölf Tage lang Infusionen erhalten habe, weil er keine Nahrung mehr schlucken konnte. Laut Aimar, der am Ventoux in seiner Nähe fuhr, hatte Simpson höchstens 30 Milligramm Amphetamin genommen, während auch 1.000 Milligramm in 24 Stunden für einen Menschen noch nicht tödlich seien. Seiner Meinung nach waren weder Doping noch der Ventoux tödlich für Simpson, sondern die Medizin: Simpson sei durch das Zutun derjenigen gestorben, die ihn jedes Mal an den Tropf hängten, sodass er immer wieder weiterfahren konnte, obwohl sein Körper Tag für Tag immer schwächer wurde.

       … oder Sonnenstich?

      Der italienische Weltmeister Ercole Baldini, der Simpson gut kannte, ist wiederum von einer anderen Theorie überzeugt. In einem Interview, das Renate Verhoofstad mit Baldini führte und das im Oktober 2005 unter dem Titel »Museum Baldini« im Radsportmagazin De Muur erschien, heißt es: »›Unsinn, dass Tommy an Doping gestorben ist‹, begann Baldini. […] ›Natürlich hat er damals etwas genommen, so wie alle anderen zu jener Zeit auch. Vor allem Amphetamine, aber Pillen haben seinen Tod nicht verursacht. Sonst wäre ich nicht mehr hier‹, sagte Baldini und fing an, demonstrativ mit dem Kopf zu wackeln. ›Er hatte einen Sonnenstich, ganz einfach. […] Wir waren in jenem Jahr zu einem kleinen Etappenrennen in Neukaledonien. Während der Ruhetage machten wir Urlaub am Strand. Wir hatten eine tolle Zeit‹, sagte Baldini. ›Eines Tages brach Tommy plötzlich am Strand zusammen. Patsch! Wir erschraken


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