Der Strick um den Hals. Emile Gaboriau

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Der Strick um den Hals - Emile Gaboriau


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      »Ach!« murmelte er, »warum bestanden Sie darauf, gegen die Meinung aller den Cocoleu, einen unglücklichen Idioten, zu verhören!«

      Da aber fuhr der Untersuchungsrichter auf: »Was werfen Sie mir vor«, unterbrach er ihn heftig, »der Eingebung meines Gewissens gefolgt zu sein?«

      »Ich werfe Ihnen gar nichts vor!«

      »Ein fluchwürdiges Verbrechen ist begangen worden, meine Pflicht gebot mir, alles, was menschenmöglich war, zu versuchen, um den Urheber zu entdecken.«

      »Ja ... und der Mann, den man beschuldigt, ist Ihr Freund; und gestern noch rechneten Sie seine Freundschaft unter die besten Aussichten für Ihre eigene Zukunft!«

      »Mein Herr!«

      »Es setzt Sie in Erstaunen, mich so genau unterrichtet zu sehen. Aber Sie wissen, wie es damit ist: der müßigen Neugier einer kleinen Stadt pflegt nicht so leicht etwas zu entgehen. Ich weiß, daß Sie hoffen durften, Mitglied der Familie von Boiscoran zu werden, und daß Sie mit der Unterstützung des Verdächtigen rechneten, um die Hand einer seiner Cousinen zu erhalten ...«

      »Ich leugne es nicht.«

      »Unglücklicherweise haben Sie sich durch die Aussicht einer aufsehenerregenden Untersuchung verführen lassen. Sie haben jede Vorsicht vergessen, und darüber sind alle Ihre Projekte ins Wasser gefallen. Ob nun Herr von Boiscoran unschuldig oder schuldig ist, nie wird seine Familie Ihnen Ihr Einschreiten verzeihen. Ist er schuldig, so wird sie Ihnen vorwerfen, ihn dem Schwurgericht ausgeliefert zu haben; ist er unschuldig, so wird sie Ihnen noch heftiger vorwerfen, ihn verdächtigt zu haben.«

      Vielleicht um seine Aufregung zu verbergen, senkte Herr Galpin-Daveline den Kopf.

      »Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?« fragte er dann.

      »Ich würde die Sache rückgängig machen, obgleich es jetzt fast zu spät ist.«

      »Das hieße meine Amtsstellung kompromittieren.«

      »Immer wäre es besser, als sich mit einer Sache zu befassen, in welcher Sie weder die Ruhe noch die unparteiische Kälte beibehalten können, welche die ersten und unentbehrlichsten Tugenden eines Untersuchungsbeamten sind.«

      »Mein Herr!« rief der Richter, der sich mehr und mehr erhitzte, »glauben Sie, daß ich der Mann bin, der sich durch Freundschaftsbeziehungen und persönliche Interessen von seiner Pflicht ablenken ließe?«

      »Das habe ich nicht gesagt!«

      »Haben Sie nicht schon mein Verfahren mit angesehen? Habe ich mich beirren lassen, als Cocoleus Lippen den Namen des Herrn von Boiscoran herausstießen? Vielleicht wäre ich hierbei stehengeblieben, hätte es sich um einen andern gehandelt. Aber Herr von Boiscoran ist mein Freund, und ich hatte viel von ihm zu erwarten, und gerade darum habe ich geforscht und darauf bestanden, und eben darum forsche ich weiter und bestehe ich noch auf meinem Vorhaben!«

      Der Staatsanwalt zuckte die Achseln.

      »Das eben ist's«, sprach er. »Aus Furcht, der Schwäche beschuldigt zu werden, weil Herr von Boiscoran Ihr Freund ist, werden Sie vielleicht hart, unbarmherzig, ja selbst ungerecht gegen ihn sein! Eben weil Sie viel von ihm zu erwarten hatten, werden Sie ihn durchaus schuldig finden wollen! Und Sie nennen sich unparteiisch!«

      Herr Galpin-Daveline richtete sich mit der ganzen, ihm eigenen Steifheit auf.

      »Ich bin meiner selbst gewiß«, sprach er kurz.

      »Nehmen Sie sich in acht!«

      »Mein Entschluß ist gefaßt.«

      *

      Es war Zeit, aufzubrechen. Herr Sénéchal kehrte, von Hauptmann Parenteau begleitet, zurück.

      »Nun, meine Herren«, fragte er, »was haben Sie beschlossen?«

      »Wir brechen sogleich nach Boiscoran auf«, antwortete der Untersuchungsrichter.

      »Was, sogleich?«

      »Ja. Mir liegt daran, Herrn von Boiscoran noch schlafend anzutreffen. Mir liegt so sehr daran, daß ich selbst auf meinen Aktuar verzichten werde.«

      »Ihr Aktuar«, sprach der Hauptmann Parenteau mit einer höflichen Verbeugung, »ist hier, mein Herr; er hat soeben selbst nach Ihnen gefragt.« Worauf er aus allen Kräften zu rufen begann: »Méchinet! Méchinet!«

      Gleich darauf kam ein kleiner Mann mit grauem Haar und pausbäckigem Gesicht herbeigeeilt und fing eifrig an zu erzählen, wie ein Nachbar ihn von dem Vorgefallenen und von dem Aufbruch des Untersuchungsrichters in Kenntnis gesetzt und wie er, von Diensteifer erfüllt, sich alsbald allein und zu Fuß auf den Weg gemacht.

      »Wie gedenken Sie sich nach Boiscoran zu begeben?« fragte der Bürgermeister Herrn Galpin-Daveline.

      »Das weiß ich selbst noch nicht; Méchinet wird uns irgendein Beförderungsmittel ausfindig machen.«

      Rasch wie der Blitz stürzte der Aktuar schon davon, als Herr Sénéchal ihm nacheilte und ihn zurückhielt.

      »Suchen Sie nicht weiter«, sagte er, »ich stelle Ihnen mein Pferd und meinen Wagen zur Verfügung. Der erste beste Bauer wird Sie hinbringen. Der Hauptmann Parenteau und ich, wir werden das Kabriolett eines Pächters von Bréchy benutzen, um nach Sauveterre zurückzukehren. Denn das muß so rasch als möglich geschehen. Ich habe soeben beunruhigende Nachrichten erhalten. Ich fürchte, es gibt einen Auflauf. Die Bäuerinnen, die auf den Markt gingen, haben das an sich schon so große Unglück der verflossenen Nacht mit allen möglichen Übertreibungen verbreitet. Sie haben versichert, daß zehn oder zwölf Menschen getötet und verwundet sind und daß Herr von Boiscoran, der Brandstifter, arretiert sei. Die Menge hat sich zu der Witwe des unglücklichen Guillebault begeben; vor dem Hause des Fräuleins von Lavarande, wo die Verlobte des Herrn von Boiscoran, Fräulein von Chandoré, wohnt, hat eine Demonstration stattgefunden.«

      Für nichts auf der Welt hätte Herr Sénéchal zu jeder andern Zeit sein gutes Pferd Caraby – vielleicht das beste des Bezirks – fremden Händen anvertraut.

      Aber er war bis aufs Äußerste verstört; man sah es wohl, trotz der Versuche, die er machte, jene gelassene Würde beizubehalten, die der Autorität so wohl ansteht. Er hatte nur ein Zeichen zu geben, und augenblicklich war sein Wagen bereit. Aber als er sich umsah nach jemand, der ihn führen sollte, stellte sich niemand ein.

      Alle diese guten Leute, welche die Nacht draußen zugebracht, eilten nach Hause, um ihren häuslichen Verpflichtungen nachzugehen und ihr Hausvieh zu versorgen.

      Als er die andern zögern sah, rief Ribot, jener verliebte Bursche, der Herrn von Boiscoran beim Damm der Seille begegnet war: »Gut, so werde ich die Herren fahren.«

      Die Peitsche und die Zügel ergreifend, setzte er sich vorn auf die kleine Bank, während der Staatsanwalt, der Untersuchungsrichter und der Aktuar ihre Plätze einnahmen.

      Méchinet, der Aktuar, war fast eine Macht in Sauveterre zu nennen. Als vorzüglicher Lithograph bekannt, war er es, der alle Visitenkarten anfertigte, die man bei Herrn Serpin, dem ersten Drucker der Stadt, Besitzer und verantwortlichen Herausgeber der »Indépendance von Sauveterre«, bestellte. Zuverlässig und erprobt in allen solchen Angelegenheiten, führte er die Bücher und brachte Ordnung in die Rechnungen verschiedener Handelsleute. Ebenso gab er prozessierenden Bauern


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