Der Strick um den Hals. Emile Gaboriau

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Der Strick um den Hals - Emile Gaboriau


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Fast schienen sie im Begriff, angesichts des Kranken in Streit zu geraten. Wenigstens schien die Gräfin es zu fürchten, denn mit vorwurfsvollem Tone sprach sie: »Meine Herren, um Gottes willen, meine Herren!«

      Vielleicht hätte auch ihr Einschreiten nicht genügt, wären nicht Herr Sénéchal und Herr Daubigeon dazwischengetreten.

      Von den beiden Gegnern schien Herr Galpin-Daveline der hartnäckigste; denn trotz alledem nahm er noch einmal das Wort: »Ich habe«, sprach er zu dem Grafen, »nur noch eine Frage zu stellen. Wie und wo standen Sie? Und welches war die Stellung Ihres Mörders in dem Augenblick, als er das Verbrechen ausführte?«

      »Mein Herr«, sprach der Graf mit deutlich ermüdeter Stimme, »ich sagte Ihnen bereits, daß ich auf der Schwelle meiner Türe dem Hof gegenüberstand. Der Mörder mußte sich etwa auf zwanzig Schritt mir zur Rechten hinter einem Holzhaufen aufgestellt haben.«

      Nachdem er die Antwort des Verwundeten notiert, wandte der Richter sich dem Arzt zu: »Sie haben gehört, Herr Doktor«, sprach er. »Jetzt ist es an Ihnen, die Voraussetzung über diesen entscheidenden Punkt näher zu bestimmen. In welcher Entfernung befand sich der Mörder in dem Augenblick, als er Feuer gab?«

      »Ich bin kein Wahrsager«, antwortete der Doktor in barschem Ton.

      »Oh! nehmen Sie sich in acht, Herr Doktor, das Gericht, dessen Repräsentant ich bin, hat sowohl das Recht als die Mittel, sich in Respekt zu setzen. Sie sind Arzt, und heutzutage ist die Medizin in der Lage, mit fast mathematischer Gewißheit auf die Frage, die ich an Sie richte, zu antworten.«

      Herr Seignebos lächelte höhnisch.

      »In der Tat, die Medizin ist zu solchen Wundern gelangt!« sagte er. »Welche Art von Medizin? – Vermutlich nur die gerichtliche, die den Gerichten zu Befehl steht und dem Präsidenten des Schwurgerichts insbesondere ganz und gar ergeben ist?«

      »Herr Doktor –«

      Aber der Doktor hatte nicht das Temperament, einen zweiten Stoß zu ertragen.

      »Ich weiß, was Sie mir sagen werden«, fuhr er ruhig fort. »Es gibt kein Handbuch der ›gerichtlichen Medizin‹, das nicht vollgültig die Frage, um die es sich handelt, löste. – Ich habe sie studiert, diese Handbücher, deren sich die Herren Untersuchungsbeamten als Waffen zu bedienen belieben. Ich kenne die Ansicht Devergies und Orfilas, das Prinzip Caspers, Tardieus und Briant de Chaudeys ... Ich weiß sehr wohl, daß diese Herren behaupten, bis auf einen Zentimeter die Distanz bestimmen zu können, aus welcher ein Flintenschuß gefallen ist. Ich aber bin nicht so klug. Ich bin nur ein armer, einfacher Landarzt ... Und wenn ich eine Ansicht aufgeben soll, die einem armen Teufel, und vielleicht einem Unschuldigen, den Kopf kosten kann, so muß ich Zeit haben nachzudenken, mich mit mir selbst beraten und zuvor eigene Erfahrungstatsachen durchgehen.«

      Er hatte, wenn nicht in der Form, so doch in seinen Gründen so vollkommen recht, daß Herr Galpin-Daveline sich besänftigte.

      »Es ist zum Zweck der Untersuchung, Herr Doktor«, sagte er, »daß ich Sie nach Ihrer Ansicht frage. Ihre begründete Aussage wird notwendig der Gegenstand eines von Beweisen unterstützten Berichts sein ...«

      »Ah – wenn es so ist ...«

      »Wollen Sie mir also aus Gefälligkeit die Mutmaßungen mitteilen, die Sie aus der Untersuchung der Wunden gezogen haben?«

      Mit einer anspruchsvollen Gebärde setzte Herr Seignebos seine Brille zurecht.

      »Mein Gutachten«, antwortete er, »ist unter allem Vorbehalt, daß Herr von Claudieuse sich von allem vollständig Rechenschaft gegeben hat. Ich bin ganz geneigt zu glauben, daß der Mörder sich in der Entfernung, die er angibt, versteckt hatte. Was ich zum Beispiel bestätigen kann, ist, daß die beiden Flintenschüsse aus sehr verschiedener Entfernung gefallen sind; der eine aus viel geringerer Distanz als der andere. – Der Beweis dafür ist, daß der eine Schuß in die Hüfte, wie der Jäger zu sagen pflegt, sich nur leicht versprungen hat, während der andere scharf getroffen hat.«

      »Aber man weiß, auf wieviel Meter eine Flintenkugel scharf treffen kann«, unterbrach Herr Sénéchal, den der dogmatische Ton des Doktors ärgerte.

      Herr Seignebos verneigte sich.

      »Man weiß das?« rief er. »Wer? Sie, Herr Bürgermeister? Ich aber erkläre, es nicht zu wissen. Freilich vergesse ich nicht, was Sie zu vergessen scheinen, daß wir nicht mehr nur zwei oder drei Arten von Jagdflinten haben wie früher. Erinnern Sie sich nicht der unendlichen Mannigfaltigkeit französischer, englischer, amerikanischer und deutscher Waffen, die heutzutage überall verbreitet sind? Woraufhin erkühnen Sie sich, das so zuversichtlich auszusprechen? Wissen Sie nicht, als einstiger Staatsanwalt und Beamter der Gemeinde, daß auf diese wichtige Frage alle Debatten des Schwurgerichts hinausgehen werden?«

      Entschlossen, keine Antwort weiter zu geben, zog der Doktor wieder sein Skalpell und seine Pinzetten hervor, als draußen ein so entsetzliches Geschrei erschallte, daß Herr Sénéchal, Herr Daubigeon und selbst Frau von Claudieuse ans Fenster stürzten.

      Ach, und dieses Geschrei war nur zu begründet!

      Das Dach des Hauptgebäudes war soeben eingestürzt und hatte unter seinen brennenden Trümmern Bolton, den armen Trommler, der noch vor zwei Stunden Alarm geschlagen, und den Feuerwehrmann Guillebault, einen der geachtetsten Zimmerleute von Sauveterre, Vater von fünf Kindern, begraben.

      Der Hauptmann Parenteau schien dem Wahnsinn nah. Aber alle Versuche, ihnen beizuspringen, mußten scheitern.

      Ein Gendarm und ein Pächter aus der Umgegend, die versucht hatten, bis zu ihnen vorzudringen, wären fast selbst in dem Glutofen geblieben; nur mit unerhörter Anstrengung gelang es, beide in dem traurigsten Zustande herauszuziehen.

      Jetzt erst fing man an, sich vollständig Rechenschaft über das fluchwürdige Verbrechen des Brandstifters zu geben.

      Während die Rauchsäulen und die aufwirbelnden Funken zum Himmel stiegen, hörte man das Rachegeschrei: »Nieder, nieder mit dem Brandstifter!«

      In diesem Augenblick gab der gerechteste Zorn dem Bürgermeister, Herrn Sénéchal, einen Gedanken ein: Er wußte sehr wohl, wie groß die Vorsicht der Landleute ist, und wie schwer es fällt, einem Bauern zu entlocken, was er weiß.

      Indem er einen Trümmerhaufen bestieg, begann er mit klarer, starker Stimme: »Ja, meine Freunde, ihr habt recht, nieder mit ihm! Ja die tapferen Opfer des schändlichsten Verbrechens müssen gerächt werden. Das ist euer Wille, nicht wahr? Es hängt von euch ab. – Es ist unmöglich, daß unter euch nicht einer ist, der etwas weiß ... Er möge vortreten und reden. – Erinnert euch, daß der geringste Hinweis das Gericht auf die Spur bringen kann. – Hier schweigen, das hieße, meine Freunde, sich selbst zum Mitverbrecher machen. Bedenkt, beratet euch ...«

      Ein hastiges Geflüster durchlief die Menge.

      Plötzlich sagte eine Stimme: »Es ist einer da, der reden kann.«

      »Wer?«

      »Cocoleu! ... Er war von Anfang an zugegen. Er war es, der die Töchter der Gräfin aus ihrem Zimmer getragen hat. Was ist aus ihm geworden? Cocoleu! ... Cocoleu!«

      Man muß selbst unter dem eigentlichen Landvolk in Dorf und Feld gelebt haben, um die Aufregung und den Zorn all der braven Leute ganz zu begreifen, die sich um die brennenden Ruinen von Valpinson drängten. Der Stadtbewohner kennt die Angst vor dem unheilvollen Verbrecher, der nur um zu stehlen, Mordtaten begeht, kaum. Die Polizei


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